Theologie des Neuen Testaments. Udo Schnelle

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Название Theologie des Neuen Testaments
Автор произведения Udo Schnelle
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846347270



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die er zur Ausübung seiner staatlichen Macht braucht, ihm gebührt aber nicht religiöse Verehrung. Dem Kaiser gehört die Münze, aber der Mensch gehört Gott. Angesichts des Anspruches Gottes auf den Menschen kann der Kaiser und damit der Staat nur ein begrenztes Recht haben. Jesu Antwort stellt somit einen Mittelweg dar: Er ist kein antirömischer Revolutionär156, der das Recht und die Existenz dieses Staates grundsätzlich bestreitet. Er weist dem Staat auf rein funktionaler Ebene sein Recht zu, macht aber zugleich deutlich, dass das Recht des Staates in dem Recht Gottes auf den ganzen Menschen seine Begrenzung findet.

      Der von Jesus verkündigte Gotteswille will menschliches Zusammenleben ermöglichen und Störungen durch ein neues, unerwartetes Verhalten überwinden. In den Antithesen der Bergpredigt artikuliert sich unüberhörbar Gottes unbedingter Wille.

      Der Evangelist Matthäus fand in seinem Sondergut die 1., 2. und 4. Antithese vor und schuf auf dieser Basis eine Reihe von 6 Antithesen157. Durch πάλιν in Mt 5,33a setzt Matthäus die erste Dreierreihe von der zweiten ab. Handeln die ersten drei Antithesen vom Verhältnis zum Mitchristen (Zorn gegenüber dem Bruder, Ehebrechen, Ehescheidung), so die 4.–6. Antithese vom Verhältnis zum Nichtchristen (Schwören, Wiedervergeltung, Feindesliebe). Der traditionsgeschichtlich älteste Bestand der 1., 2. und 4. Antithese umfasst Mt 5,21–22a (ἠϰούσατε … ἔσται τimages ϰρίσει), Mt 5,27–28a.b (ἠϰούσατε … ἐμοίχευσεν αὐτήν), Mt 5,33–34a (ἠϰούσατε … μὴ ὀμόσαι ὅλως) und dürfte der Verkündigung Jesu zuzuordnen sein. Im Verlauf der Tradierung wurde dieses älteste Spruchgut durch Beispiele und Erläuterungen angereichert. Auch die vom Evangelisten gebildeten Antithesen enthalten alte Traditionen, wobei allerdings nur die Forderung nach Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b–40/Lk 6,29), das absolute ἀγαπᾶτε τοῦς ἐχϑροῦς ὑμῶν in Mt 5,44a/Lk 6,27a und die schöpfungstheologische Begründung in Mt 5,45/Lk 6,35 auf Jesus zurückgehen dürften.

      In der 1. Antithese stellt Jesus dem atl. Verbot des Tötens (Ex 20,15; Dtn 5,18) sein eigenes Recht gegenüber: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht töten! Wer aber tötet, soll dem Gericht verfallen. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder zürnt, soll dem Gericht verfallen“ (Mt 5,21–22a). Schon der Zorn gegenüber dem Bruder lässt den Menschen dem Gericht verfallen. Jesus legt das atl. Gebot damit nicht aus, sondern er überbietet es. Gefordert ist die radikale Zuwendung des Menschen zum Menschen. Andernfalls folgt unabwendbar die Gerichtsverfallenheit. Inhaltlich ist die Verwerfung des Zorns im Judentum nicht neu (vgl. 1QS 6,25–27)158. Überraschenderweise überbietet aber die Verwerfung des Zorns bei Jesus die Tora und qualifiziert sie damit als unzureichend. Der Gotteswille wird von Jesus so ausgelegt, dass er dem Menschen ständig gilt und auch unwillkürliche Regungen umgreift. Allein schon die Frage, ob es auch berechtigten Zorn gibt, wäre der Versuch der Eingrenzung des Gotteswillens.

      In der 2. Antithese setzt Jesus dem atl. Verbot des Ehebruches (Ex 20,14; Dtn 5,17) die These entgegen, dass schon der begehrliche Blick wie ein Ehebruch zu werten sei: „Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: Du sollst nicht ehebrechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen“ (Mt 5,27f). Das Verwerfliche ist nicht der Blick, sondern die dahinter stehende Absicht, das Begehren. Mit ἐπιϑυμία („Begehren“) bezeichnet Jesus das Verlangen des Menschen, sich fremde Güter anzueignen159. Der Mensch verspricht sich davon eine Steigerung seines Lebensgefühles, einen Gewinn an Lust und Sinn. Jesus unterbindet dieses Streben, weil es eine zerstörende Kraft entfaltet. Die Heiligkeit der Ehe wird gebrochen und Menschen ihrer schöpfungsgemäßen Bestimmung entrissen.

      Auch das Schwurverbot Jesu in der 4. Antithese zielt auf die Ganzheit menschlicher Existenz (Mt 5,33–34a: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde: Du sollst nicht falsch schwören, du sollst aber dem Herrn deine Eide halten. Ich aber sage euch, dass ihr überhaupt nicht schwören sollt“). Durch den Schwur, der die Wahrheit beschworener Aussagen dokumentiert, sind die unbeschworenen Aussagen von der Wahrheit ausgenommen. Faktisch dient damit der Schwur der Duldung der Lüge. Ein Teilbereich des Lebens, in dem der Wille Gottes – Wahrhaftigkeit – gilt, ist von einem anderen abgetrennt, wo er nicht gilt. Diese Trennung soll durch das Gebot Jesu aufgehoben werden. Der Gotteswille gilt für den Menschen in allen Lebensbereichen.

      Jesus fordert den Verzicht auf Wiedervergeltung (Mt 5,39b.40/Lk 6,29)160. Dabei geht es keineswegs um ein rein passives Verhalten, das ins Erleiden führt. Die provokative Aufforderung Jesu, auch die andere Wange hinzuhalten und mit dem Mantel auch das Untergewand zu geben, verlangt im Gegenteil vom Jünger höchste Aktivität, denn er soll die Grundhaltung der Liebe in scheinbar aussichtslosen Situationen praktizieren. Jesus lebt und fordert ein ungewöhnliches, nicht berechenbares und zweckfreies Verhalten, das gerade dadurch produktiv ist.

      Das Gebot der Feindesliebe ist in seiner uneingeschränkten Form (Mt 5,44a/Lk 6,27a: ἀγαπᾶτε τοῦς ἐχϑροῦς ὑμῶν [„liebet eure Feinde“]) ohne Analogie. Zwar gibt es sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Bereich enge Parallelen, die aber jeweils unterschiedliche Motivationen erkennen lassen und nicht wirklich mit der jesuanischen Anordnung übereinstimmen161. Dennoch ist zu betonen, dass Jesus hier hellenistischem Denken deutlich näher steht als jüdischen Vorstellungen162. Er macht die Liebe grenzenlos; eine Eingrenzung ist nicht mehr möglich, auch nicht auf den Nächsten. Am Extrembeispiel des Feindes zeigt Jesus, wie weit die Liebe geht. Sie kennt keine Grenzen, sie gilt allen Menschen. Gottes radikale, uneingeschränkte Liebe drängt in den Alltag des Menschen hinein, dem zugemutet wird, mit der Feindesliebe an der Liebe Gottes zu partizipieren. Eine Begründung für die Feindesliebe lässt sich nicht aus der vorfindlichen Wirklichkeit ableiten, sondern ein solch ungewöhnliches Verhalten kann nur aus dem Handeln Gottes heraus seine Bedeutung und Verbindlichkeit erhalten. Weil der Schöpfer selbst in seiner Güte gegenüber Guten und Bösen das Freund-Feind-Schema sprengt (Mt 5,45), kann der Mensch die Grenzen zwischen Freund und Feind überschreiten, werden Menschen entfeindet163.

      Mit dieser Konzeption unmittelbar verbunden ist ein neues Herrschaftsideal, das Jesus gegenüber den Jüngern in Mk 10,42b–44 formuliert164: „Ihr wisst, die als Herrscher der Völker gelten, unterdrücken sie, und ihre Großen gebrauchen ihre Macht gegen sie. Unter euch aber ist es nicht so. Sondern wer ein Großer werden will unter euch, soll euer Diener sein und wer unter euch der Erste sein will, soll der Knecht aller sein.“ Die antike Herrscherpraxis wird hier einer radikalen Kritik unterzogen, denn nicht Unterdrückung und Ausbeutung, sondern Dienen und Fürsorge kennzeichnen den wahren Herrscher165.

      Einen weiteren ethischen Radikalismus Jesu stellt das Verbot des Richtens in Mt 7,1 dar („Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“)166. Jesus verbietet alles Urteilen, weil in jedem menschlichen Urteilen der Keim für ein Verurteilen steckt. Mit dem Passivum divinum ϰριϑῆτε in Mt 7,1b verweist Jesus als Begründung auf das Endgericht. Weil das göttliche Gericht unmittelbar bevorsteht, soll sich der Mensch bereits jetzt danach richten und auf jegliches Urteilen verzichten, denn dies hat notwendigerweise die eigene Verurteilung im Gericht zur Folge.

      Ein ethischer Radikalismus ist auch die Reichtumskritik Jesu, wie sie sich in der Seligpreisung der Armen (Q 6,20), dem Aufruf zum Nicht-Sorgen (Mt 6,25–33) oder in Mk 10,25 ausspricht167: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, als dass ein Reicher in das Reich Gottes kommt!“ Während die Reichen vom Reich Gottes ausgeschlossen sind, wird es den Armen zugesprochen; eine paradoxere und schärfere Kritik des Reichtums als Hindernis auf dem Weg in das Reich Gottes ist kaum vorstellbar168! Der scharfe Gegensatz zwischen dem Reich Gottes und der Welt wird auch in Q 9,59f sichtbar169: „Ein anderer aber sagte ihm: Herr, gestatte mir, zuvor fortzugehen und meinen Vater zu begraben. Er aber sagte ihm: Folge mir und lass die Toten ihre Toten begraben.“ Die Beerdigung der Eltern galt in der gesamten Antike