Zeichentheorie. Rudi Keller

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Название Zeichentheorie
Автор произведения Rudi Keller
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846348789



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wir gleich sehen werden. Er nimmt die Metapher wörtlich, und zwar in drei eng aufeinander bezogenen Argumentationsschritten, und kommt so zu falschen Folgerungen. Die drei Schritte sind:

      1. Nicht jeder beliebige, sagt Sokrates, ist in der Lage, eine Weberlade oder einen Bohrer herzustellen. Es bedarf eines Spezialisten, der sich auf die Kunst der Herstellung dieser Werkzeuge versteht. Da dies für alle Werkzeuge gilt, muss es auch für das Wort gelten. „Also, o Hermogenes, kommt es nicht jedem zu, Worte einzuführen, sondern nur einem besonderen Wortbildner. Und dieser ist, wie es scheint, der Gesetzgeber, von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste.“ (389 a)

      2. Jedes Werkzeug hat einen bestimmten Zweck zu erfüllen. Es muss folglich so beschaffen sein, dass es seinen Zweck zu erfüllen im Stande ist. So fordert jede Art von Gewebe ihre eigene Weberlade. Also muss auch der Wortbildner jedem Ding den ihm adäquaten Namen „in Tönen und Silben niederzulegen“ (389 d) wissen. Natürlich ist auch Platons Sokrates nicht entgangen, dass es verschiedene Sprachen gibt. Auch dafür hat er eine passende Theorie, die zugleich eine Antwort auf Hermogenes’ oben erwähntes Evidenzargument darstellt: So wie auch nicht jeder Schmied für ein Werkzeug dasselbe Eisen nimmt, so nimmt auch nicht jeder Wortbildner überall dieselben Silben. „Solange er nur die Idee des Wortes, wie sie jedem insbesondere zukommt, wiedergibt, in was für Silben es auch sei“ (390 a), so muss ein Wortbildner der Barbaren kein schlechterer sein als einer der Hellenen.

      3. Und wer ist am besten in der Lage zu beurteilen, ob ein Werkzeug gut gefertigt ist, fragt Sokrates. Natürlich derjenige, der damit umgehen muss. Der Weber kann am besten die Qualität einer Weberlade ermessen. Das Werk des Wortbildners und Gesetzgebers kann am besten der Dialektiker beurteilen. Das ist derjenige, „der zu fragen und zu antworten versteht“. (390 c)

      Das Fazit aus all den Argumenten des Sokrates lautet: „Kratylos hat recht, wenn er sagt, die Benennungen kämen den Dingen von Natur zu, und nicht jeder sei ein Meister im Wortbilden, sondern nur der, welcher, auf die einem Jeden von Natur eigene Benennung achtend, ihre Art und Eigenschaft in die Buchstaben und Silben hineinzulegen versucht.“ (390 e)

      Worin besteht der Irrtum? Sokrates begeht zwei Fehlschlüsse. Den einen möchte ich den instrumentalistischen Fehlschluss nennen, den anderen den rationalistischen Fehlschluss. Der instrumentalistische Fehlschlussinstrumentalistische Fehlschluss ist im Zusammenhang unserer Argumentation der wichtigere; geistesgeschichtlich betrachtet sollte sich jedoch der rationalistische Fehlschlussrationalistischer Fehlschluss als verhängnisvoller erweisen.16Hayek Betrachten wir sie kurz der Reihe nach.

      Der instrumentalistische Fehlschluss lautet: Alle Werkzeuge sind aufgrund ihrer spezifischen Beschaffenheit für ihren Zweck geeignet. Ihre spezifische Beschaffenheit wird diktiert von dem Zweck, den sie zu erfüllen haben. (Nur die jeweiligen Spezialisten können gute Werkzeuge herstellen bzw. deren Güte beurteilen.) Wörter sind Werkzeuge. Somit gilt all dies auch für Wörter.

      Da dieser Schluss formal gültig ist, muss am Inhalt der Prämissen etwas nicht in Ordnung sein. Wir haben zwei Optionen, den Fehlschluss zu vermeiden. Wir können entweder sagen: „Wörter sind keine Werkzeuge.“ Oder wir sagen: „Nicht alle Werkzeuge haben eine von ihrem spezifischen Zweck diktierte Beschaffenheit.“ Die Bedeutung des Wortes Werkzeug scheint mir nicht so eindeutig festgelegt zu sein, dass wir zu der einen oder anderen Option gezwungen wären. Wir haben die Wahl zwischen zwei Auswegen, die beide vertretbar zu sein scheinen. Der erste Ausweg besteht in der Annahme, „Wörter sind nur im metaphorischen Sinne Werkzeuge, und der Aspekt der Zweckadäquanz ihrer Beschaffenheit ist von der Metapher nicht abgedeckt“. (Es gehört ja, wie wir noch sehen werden, nachgerade zum Wesen einer Metapher, dass sie nicht in allen Aspekten zutrifft.) Der zweite Ausweg ist: „Es gibt Werkzeuge, die ihren Zweck allein dank ihres konventionellen Gebrauchs zu erfüllen im Stande sind, und dazu gehören die Wörter – ebenso wie beispielsweise Spielkarten oder Geld.“ Einem Tausendmarkschein muss nichts Bovines anhaften, um zum Kauf einer Kuh geeignet zu sein. Wörter sind zwar keine prototypischen Werkzeuge, aber sie sind Werkzeuge, die dazu da sind, bestimmte Wirkungen beim Adressaten hervorzurufen. Ich werde in Kapitel 12 noch ausführlich auf den Zusammenhang von Werkzeughaftigkeit, ArbitraritätArbitrarität und Konventionalität zu sprechen kommen.

      Der rationalistische Fehlschlussrationalistischer Fehlschluss besteht in der Annahme, dass alle zweckmäßigen Einrichtungen der Menschen, die nicht von Natur aus da sind, Ergebnisse kluger Planung und weiser Durchführung sind. Kluge Einrichtungen müssen von klugen Menschen erfunden worden sein; wo sonst sollten sie herkommen? Es wird nicht das spontane Entstehen „weiser“ und nützlicher soziokultureller Einrichtungen in Rechnung gestellt. „Der Mensch bildet sich ein, viel gescheiter zu sein, als er ist.“17Riedl Dies war eines der Leitmotive des sozialphilosophischen Denkens von Friedrich August von HayekHayek. Sokrates’ kluger Wortbildner, „von allen Künstlern unter den Menschen der seltenste“ (389 a) – denn er wurde offenbar noch von niemandem gesichtet –, ist ein geistiges Produkt dieser Überschätzung der Vernunft.18 In Wahrheit sind die Wörter (mit wenigen Ausnahmen) nicht Schöpfungen begnadeter Künstler, sondern unbeabsichtigte Nebeneffekte des alltäglichen Kommunizierens ganz normaler Menschen. Sie sind Ergebnisse von Prozessen kultureller EvolutionEvolution, denen wir in den folgenden Kapiteln versuchen wollen, auf die Spur zu kommen. So viel zunächst zu den beiden Fehlschlüssen. Kehren wir nun zurück zu dem Dialog. Hermogenes ist von Sokrates’ Argumenten verunsichert, aber überzeugt ist er immer noch nicht. „Ich weiß freilich nicht, Sokrates, wie ich dem, was du sagst, widersprechen soll. Es mag aber wohl nicht leicht sein, auf diese Art so schnell überzeugt zu werden“ (391 a), sagt Hermogenes und fordert Sokrates auf, nicht nur dafür zu argumentieren, dass es eine Richtigkeit der Benennung gibt, sondern ihm zu zeigen, worin diese Richtigkeit besteht. Damit beginnt die zweite, diekonstruktive Argumentationssequenz des Dialogs.

      Zweiter Teil

      Sokrates gibt sich Mühe, dem Wunsch nach positiven Argumenten für die These der natürlichen Richtigkeit der Benennung zu liefern. Aber er ist sich der Dürftigkeit seiner Argumente durchaus bewusst. Da dieser Teil des Dialogs aus heutiger Sicht zeichentheoretisch weniger ergiebig ist, will ich mich kurz fassen.

      Sokrates unterscheidet abgeleitete Wörter von Stammwörtern. Er zeigt zunächst am Beispiel zahlloser abgeleiteter Wörter, darunter auch viele Eigennamen der griechischen Mythologie, dass sie „richtig“ gebildet sind. Die Methode ist, wie wir bereits am Beispiel des Namens Hermo-genes gesehen haben, die der etymologischetymologischen Ableitung. (Hermogenes ist nicht der „richtige“ NameName für Hermogenes, weil Hermogenes in Wahrheit nicht von Hermes abstammt.) Übertragen auf das Deutsche könnte Sokrates etwa wie folgt argumentieren: „Der Winter trägt seinen Namen zurecht. Denn das Wort Winter ist verwandt mit altgallisch vindo ‚weiß‘ und bezeichnet die Zeit, in der das Land mit Schnee bedeckt ist.“19Kluge Oder: „Der Name Weisheitszahn ist richtig gebildet, da der Mensch diese Zähne erst in einem Alter bekommt, in dem er bereits über Weisheit verfügt.“ Wem diese Form der Argumentation aus heutiger Sicht naiv vorkommt, der möge sich daran erinnern, dass sie auch heutzutage durchaus gang und gäbe ist, vor allen Dingen im Rahmen sprachkritischer Belehrungen: „Es gibt keine Unkosten; es gibt nur Kosten. Denn un- ist eine Negationspartikel.“ Oder: „Es heißt nicht Gentechnologie, sondern Gentechnik. Denn techno-logie heißt ‚die Lehre von der Technik‘.“20 Wer so argumentiert, bedient sich der Methode des Sokrates und geht offenbar davon aus, dass es eine „natürliche Richtigkeit der Wörter“ gebe. Diese Form der „Richtigkeit“, die in der systemgerechten oder logisch korrekten Ableitung oder Zusammensetzung besteht, wird heute bisweilen „sekundäre MotiviertheitMotiviertheit der Zeichen“ genannt. Etymologisieren heißt sprachliche Zeichen auf ihren ehemaligen motivierten Zustand zurückverfolgen.21Levin

      Diese Argumentationsweise hat natürlich da ihre Grenze, wo Wörter nicht mehr etymologischetymologisch von zugrundeliegenden Wörtern abgeleitet werden können, bei „Urbestandteilen“ oder „Stammwörtern“, wie Sokrates sie nennt. (422 b) Die Richtigkeit der „späteren oder abgeleiteten Wörter“ (422 d) besteht darin, dass sie kundtun, „wie und was jedes Ding ist“. (422 d) Sie können dies „mittels der früheren bewirken“. (422 d) Für die früheren, die Stammwörter,