Sturm und Drang. Christoph Jürgensen

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Название Sturm und Drang
Автор произведения Christoph Jürgensen
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783846333983



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erfolgreichen Aufführung des Stücks in Frankfurt:

      Wie heißt das Stück? Fragte fast jedermann, als es verwichnen Sonnabend angekündigt wurde: Sturm und Drang! – Sturm und – – ? Und Drang! Mit dem weichen D und hinten ein g; ja nicht mit dem harten T oder dem ck! So, so! Sturm und Drang also! – […] wenn sie beym Titel nichts fühlen, kann ihnen das Stück selbst unmöglich behagen. Ich finde es sehr lobenswürdig, daß er diese abstrakte, metaphysische – gewiß nicht zu viel anziehende – Ueberschrift |11◄ ►12| gewählt hat; […] wer die drey Worte anstaunt, als wären sie chinesisch oder malabarisch, der hat hier nichts zu erwarten, mag immerhin ein alltägliches Gericht sich auftischen lassen. (Heinrich Leopold Wagner: Briefe, die Seylerische Schauspielergesellschaft betreffend, 1777. Zit. nach Klinger 1970, S. 78).

      Aber die Formel diente in der Folge, wie angedeutet, nicht nur zur apologetischen Auf-, sondern auch vielfach zur polemischen Abwertung des ‚literaturrevolutionären‘ Programms und seiner Autoren. Um nur zwei Beispiele aus der langen Reihe abschätziger Verwendungen herauszugreifen: So findet sich in Friedrich Traugott Hases Roman Geschichte eines Genies (1780) die spöttische, den Akzent vom Ästhetischen auf das Psychologische verschiebende Bemerkung über eine Protagonistin: „Es war daher so viel Sturm und Drang in ihr (und das mag ein mitleidenswürdiger Zustand seyn, denn wer bejammert nicht den Mann, der diese Verfassung der Seele öffentlich hat kund werden lassen?), daß sie im Grunde nicht wußte, was sie that.“ Wie ein triumphierender Abgesang auf die Strömung klingt dann die Notiz in der Nürnbergischen gelehrten Zeitung vom 29. Juni 1781: „Die Steckenpferde der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs sind, Gottlob! jezt größtentheils von den Büchermachern so steif und lahm geritten, daß man selten mehr, als Knaben oder Kranke, damit auf die Leipziger Buchmesse traben sieht.“

      Ablesen lässt sich diesen Belegen, dass die Wortverbindung ‚Sturm und Drang‘ bereits Ende der 1770er Jahre als Formel etabliert war, „mit deren Hilfe der Anspruch der jungen Sturm-und-Drang-Autoren auf Originalität und Genialität als ästhetisch inakzeptabel zurückgewiesen und psychologisierend als Entwicklungsstufe abgewertet wurde“ (Luserke, S. 33; dort finden sich weitere Belegstellen).

      Als literaturgeschichtlicher Periodisierungsbegriff setzte sich die Formel allerdings erst später durch, und zwar erstens, weil die Autoren und ihre Zeitgenossen kein Bewusstsein davon hatten, eine zusammenhängende ‚Epoche‘ zu bilden, und zweitens, weil solche Periodisierungen grundsätzlich Ex-post-Konstruktionen sind, d.h.: Epochen sind theoretische Konstrukte der Literaturgeschichte, Ergebnis von Periodisierungshypothesen, und gerade keine Entitäten – es gibt eine Epoche nicht, wie es die Stadt Straßburg gibt. Um nur die wichtigsten Stationen dieser Entwicklung in unserem Fall zu nennen: Die Umwidmung der Formel zu einer literarhistorischen Kategorie begann damit, dass August Wilhelm Schlegel im dritten Teil seiner Berliner Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801 – 1804) die „herrlichen Anlagen“ von Maler Müllers Faust-Fragment lobte, aber monierte, dass diese Anlagen durch „die üblen Manieren der damaligen Sturm- und Drang-Periode entstellt |12◄ ►13| werden“. Mit mehr Sympathie blickt Ludwig Tieck dann in seinem Essay Goethe und seine Zeit (1828) auf diese „fast wunderbaren Jahre“ und bedauert, dass den „neueren Kritikern und Erzählern [ …] fast nur der stehende Beiname der Sturm- und Drangperiode im Gedächtniß geblieben“ sei. Und der endgültige Durchbruch der Formel zur literaturgeschichtlichen Epochenbezeichnung erfolgte dann 1869 mit Hermann Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, deren dritter Band Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur einen Abschnitt zur „Sturm- und Drangperiode“ aufweist.

      Gruppenbildung und Literaturpolitik

      Zwar besaß der Sturm und Drang kein Zentrum, mit dem er dauerhaft verbunden war, wie zuvor die Berliner oder Züricher Aufklärung oder später die Weimarer Klassik. Aber entscheidend für seine Entwicklung war die Bildung lockerer, jeweils nur kurz bestehender Zirkel gleichgesinnter Autoren in Straßburg, Frankfurt, Darmstadt und Göttingen, die sich mündlich und brieflich über Literatur austauschten, gemeinsam auf Reisen gingen und vor allem gemeinsame ästhetische Positionen entwickelten und literarische bzw. literaturpolitische Feindschaften über die Stadtgrenzen hinaus pflegten. Etwas zugespitzt lässt sich die Bewegung daher geradezu als „Resultat einer Gruppenbildung“ (Sauder) bezeichnen. Aber warum waren diese Gruppenbildungen so wichtig für die Jungen Wilden, warum diese literarische Bündnispolitik? Prinzipiell lässt sich das literarische Feld mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu als „Kampfplatz“ verstehen, auf dem nach spezifischen Regeln darum gestritten wird, welches die ästhetischen und moralischen Kategorien zur Beurteilung von Literatur sind, und mehr noch: was überhaupt unter ‚Literatur‘ zu verstehen ist und wer die Definitionsmacht über diesen Begriff hat. Dementsprechend herrscht eine große Konkurrenz von Akteuren und Gruppen auf diesem Feld, die jeweils deutlich machen müssen, wie sich ihr Angebot von anderen Angeboten unterscheidet und warum es besser ist. Wie für jeden anderen Markt gilt auch für den Marktplatz Literatur, dass ein Angebot zunächst sichtbar gemacht, d.h. Aufmerksamkeit erregen muss, beispielsweise durch öffentlichkeitswirksame Gesten der Abgrenzung oder Überbietung.

      Dementsprechend gehört es grundsätzlich zur Strukturlogik des literarischen Feldes, dass Schriftsteller sich und ihre Werke inszenieren müssen, um die Währung ‚Aufmerksamkeit‘ zu kassieren. In der zweiten |13◄ ►14| Hälfte des 18. Jahrhunderts nimmt dieser Inszenierungsdruck allerdings dadurch erheblich zu, dass sich die Strukturen der literarischen Öffentlichkeit auf die heutigen Rahmenbedingungen für die Produktion und Rezeption von Literatur hin zu wandeln beginnen. Der Buchmarkt kapitalisiert sich, indem die Buchhändler vom wechselseitigen Tausch der Druckbögen zum Verkauf der Bögen gegen Geld übergehen. Zudem steigen Nachfrage und Angebot praktisch im Gleichschritt rasant an: Das Lesepublikum vergrößert sich sprunghaft, es lesen immer mehr Menschen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung – vor allem ‚Frauenzimmer‘, wie es damals hieß. Und nicht nur das Publikum, sondern auch die Lesehaltung verändert sich, von einer intensiven zu einer extensiven Lektüre. Statt wenige Bücher wie die Bibel oder religiöse Erbauungsschriften immer wieder zu lesen, ‚verschlingt‘ das neue Publikum immer neue Bücher. Folgerichtig zieht auch die Buchproduktion an, um dieses gesteigerte Bedürfnis nach neuem Lesestoff zu befriedigen. Allein im Jahrzehnt zwischen 1770 und 1780 verdoppelt sich die Zahl der Schriftsteller in Deutschland von ca. 3000 auf ca. 6000 und die Buchproduktion verzehnfacht sich im Zeitraum zwischen 1770 und 1800 sogar. Chancen wie Probleme dieser Entwicklung liegen auf der Hand: Einerseits wächst die Freiheit der Schriftsteller, ihr Handlungsspielraum, und es beginnt sich (langsam) eine freie, autonome Autorschaft im heutigen Sinne herauszubilden; andererseits wächst mit der Zahl der Anbieter von Literatur auch der Konkurrenzdruck enorm und damit die Notwendigkeit, sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren und zu positionieren.

      In dieser Umbruchsituation betritt die junge Autorengeneration also das literarische Feld. Dessen gewichtige Positionen sind vor allem von dem Autorenkartell der Aufklärung und Protagonisten wie Friedrich Nicolai (1733 – 1811) besetzt – und die Literaturrevolutionäre setzten quasi Kartellbildungen dagegen, um sich und ihre häretischen Programme gegen die orthodoxe Aufklärung resonanzträchtig in Stellung zu bringen.

      Herders und Goethes „Secte“ in Straßburg

      Zunächst formiert sich eine wichtige personelle Konstellation in Straßburg. Dort unterhielt der Aktuarius Johann Daniel Salzmann (1722 – 1812) ab 1770 eine Tischgesellschaft von Studenten, die rasch größere Aufmerksamkeit als die schon länger bestehende Straßburger „Société de Philosophie et Belles-Lettres“ erregte und die literaturpolitische Meinungsführerschaft vor Ort übernahm. Bald wurde der Zirkel aber auch |14◄ ►15| über die Grenzen der Stadt hinaus in seinem Anspruch wahrgenommen, die literarische Avantgarde zu sein. Verantwortlich für diese Resonanzgewinne waren vor allem zwei ‚Neuzugänge‘: Zunächst trifft Goethe am 4. April 1770 in Straßburg ein, wo er sein Jurastudium fortsetzen wollte, stößt kurz danach zu dieser Tischgesellschaft und nimmt fortan teil an ihren Gesprächen über Kunst, Literatur und Studium und dem Vortrag eigener Texte sowie an gemeinsamen Reisen ins Elsass, nach Lothringen und Sesenheim – und auf Sesenheim werden wir zurückkommen, wenn es um die Lyrik des jungen