Die weise Schlange. Petra Wagner

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Название Die weise Schlange
Автор произведения Petra Wagner
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783959665964



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      Es kam Viviane seltsam vor, abgetrocknet zu werden wie ein Kleinkind, aber es gehörte nun mal zur rituellen Handlung. Also ließ sie sich einwickeln und lächelte in die Runde – prompt polierte ihr Uathach die Zähne, summte im Takt der Trommeln ein Kinderlied und brachte sie beide dadurch noch mehr zum Lachen.

      Von allen Seiten wurde Viviane mit Tüchern traktiert, bis ihre gesamte Haut rot war und kribbelte. Als sie schließlich in einen weichen Lederumhang gehüllt wurde, wich die eisige Kälte einer enormen Hitze.

      Plötzlich wurde ihr bewusst, wie wach sie war. So wach wie noch nie in ihrem Leben. Mit großen Augen schaute sie ihren Meister an.

      Akanthus lächelte wissend und deutete auf die ältesten Kriegerinnen, die sie offenbar zur nächsten Station begleiten sollten.

      Gespannt, was nun kommen würde, ließ sich Viviane von ihnen führen – zwei vor sich, zwei hinter sich und die restlichen wieder zwischen den Bäumen verteilt. Merdin folgte mit den ältesten Kriegern dichtauf.

      Immer tiefer ging es in den Wald hinein und Viviane staunte, was sie alles zu sehen bekam – oder besser, was sie alles wahrnahm: Kühler Waldboden, mal spröde, mal an ihren Fußsohlen haftend … sprießende Grashalme, manche weich, andere stichelten an ihren Waden … gelbe, blaue, weiße Teppiche aus Winterlingen, Hasenglöckchen, Buschwindröschen … ein Wirrwarr aus sprießenden Knospen, verwebt mit Licht und Schatten. Myriaden schwebender Staubkörnchen, Scharen von Bienen und Hummeln, Perlen aus Morgentau, und das feuchte Moos warf seinen Duft bis auf ihre Zunge. Überall roch es so intensiv nach Erde, Luft, Sonne, Wasser, nach altem Laub und neuem Leben …

      Der Frühling schoss in Viviane, so machtvoll, dass sie sich fast selbst wachsen fühlte, und die Trommeln begannen mit einer Wucht zu schlagen, als wären sie ihr aufgehendes Herz.

      Ihr Rhythmus bestimmte, wie Viviane Atem schöpfte, tief ein, langsam aus. Ja, ihr Rhythmus bestimmte sogar, was sie dachte, als sich der Wald auftat und eine weite Lichtung vor ihr lag:

       All heilige Bäume als Wächter bereit, kreisrund gepflanzt hier vor langer Zeit. Trommeln in Nord und Süd und Ost und West, laut hallend weit und himmelwärts. Kinder des Drachen, die Schilde gerafft, folgen dem Ruf nun zum Teilen der Macht. Akanthus tritt ein, erhaben und rein, lang noch soll seine Herrschaft sein. Mein Ziel ist ein Kessel in Silber und Pracht, breit wie ein Bottich, tief wie ein Nest.

      Wie kam sie denn jetzt gerade auf ‚Nest‘? ‚Tief, drum gib acht‘ hätte viel besser gepasst, zumal – wie sie wusste – dieser wuchtige Kessel mit Wasser gefüllt war.

      Viviane ergriff ein Schauder von den Haarwurzeln bis zu den Fußsohlen. Sie musste sich zusammenreißen, damit sie sich endlich aus dem Sog der Trommeln befreite, oder was auch immer sonst an ihr zerrte.

      Sie stand hier mit Merdin – frisch gewaschen, bedeckt von Leder und ihren Zöpfen – am Waldrand. Vor ihnen, auf der Lichtung, hatten sich sämtliche Krieger in einem weitläufigen Kreis aufgestellt und streckten ihre Schilde und Speere weit von sich nach rechts und links, so als wollten sie den Eintritt verwehren. Nur um Akanthus herum war Platz. Er war als Einziger immer noch unbewaffnet. Er streckte ihnen auch als Einziger die Arme entgegen und deutete einladend auf den silbernen Kessel genau im Zentrum der Lichtung.

      Was gab es da noch zu überlegen?

      Viviane griff nach Merdins Hand und erhobenen Hauptes traten sie durch den Kreis der Drachenkrieger. Im Takt der Trommeln schritten sie auf den Kessel zu; feierlich einen Fuß vor den anderen setzend, schien seine massige Gussform sie förmlich anzuziehen. Große Reliefs mit Darstellungen von Göttern wölbten sich ihnen darauf entgegen, als wollten sie sich als Erste präsentieren, und tatsächlich erkannte Viviane schon von Weitem einige der Götter an ihren Insignien.

      Sobald sie davorstand, konnte sie filigranste Gravuren unterscheiden und dennoch war es unmöglich, all seine Bilder zu erfassen, um deren Sinn zu deuten. Das war auch nicht nötig. Für Mythen bedurfte es anderer Druiden. Sie sollte nur darin baden.

      Akanthus nahm ihr höchstpersönlich den Umhang ab, half ihr beim Einsteigen und drückte sie leicht unter Wasser. Doch Viviane wusste auch so, dass sie einen Moment untertauchen sollte – dieser Mythos war allseits bekannt.

      Kurz überkam sie die Versuchung, die Augen zu öffnen, um den Kessel von innen zu inspizieren. Das ließ sie jedoch bleiben. Dies war ein heiliges Ritual und Demut vor den Göttern war ihr von Kind an beigebracht worden. Es gab nur einen einzigen Tag im Jahr, um gleichauf mit ihnen zu sein, und bis zu diesem Ereignis war es noch lange hin.

      Das Wasser war angenehm warm und mit Rosenöl versetzt, sodass sie beim Auftauchen unwillkürlich den Kopf zurückbog und dessen feines Aroma genoss.

      Akanthus’ Hand, immer noch auf ihrem Scheitel ruhend, folgte dieser Bewegung und so hätte es auf einen Außenstehenden vielleicht gewirkt, als hielte er sie beim Schopf gepackt. Doch jeder hier in weiter Runde wusste es besser: Seine Hand auf ihrem Kopf war eine Geste des Behütens und Beschützens, die er als Anführer symbolisch für die gesamte Gemeinschaft leistete, genauso, wie er sie gerade eben auch als Einziger in den Kreis gewunken hatte.

      Viviane benutzte ebenfalls eine Geste, während sie dem Kessel entstieg: Sie streckte Merdin beide Hände entgegen, um ihm den Platz im Kessel anzubieten.

      Nachdem er untergetaucht war, beobachtete Viviane die Krieger in ihrem Umfeld. Mittlerweile hatten sich alle niedergelassen.

      Die Schilde und Speere ins Gras gelegt, schauten sie voll konzentriert zum Kessel und zu ihr herüber, wobei die Frauen und Männer mittleren Alters große Leintücher oder Tontöpfchen in Händen hielten und besonders erwartungsvoll schienen. Viviane schmunzelte und fühlte eine wohlige Wärme an sich aufsteigen; sie stand auf einem großen flachen Stein, dem ein herrlicher Bratenduft entstieg. Demnach garte genau unter ihr das Festessen vor sich hin und bei genauerer Betrachtung entdeckte sie ganz in der Nähe noch mehr dieser praktischen Erdöfen. Wieso waren sie ihr vorher nicht aufgefallen?

      Abrupt ging ein Ruck durch den Kreis; alle Krieger setzten sich besonders aufrecht hin, ihr Mienenspiel und ihre gesamte Körperhaltung drückten Freude aus. Viviane drehte rasch den Kopf und strahlte mit.

      Ihr Herz quoll fast über vor Glück, als Merdin auf die gleiche Weise dem Kessel entstieg wie sie und sein Gesicht dem Himmel entgegenstreckte. Sein schlanker Körper strotzte vor Kraft und schimmerte dermaßen golden, als wäre er geradewegs einem Mythos entstiegen.

      Das Wasser rann nicht einfach an ihm herunter, es haftete an seiner hellen Haut wie Perlenschnüre aus Morgentau. Seine kupferroten Zöpfe lagen wie nasse Taue auf seinem Rücken und seine Augen strahlten wie ein azurblauer Himmel.

      „Welche Schutzgeister willst du auf Brust und Rücken gezeichnet haben?“

      „Meine Schutzgeister?“

      Viviane starrte auf drei blaue Spiralen und musste heftig blinzeln, um statt der Spiralen ein Gesicht zu erkennen.

      Bis sie die Frage der Frau begriffen hatte, war sie bereits von acht Kriegerinnen umringt, die zwei bis drei Mal älter, aber keinen Fingerbreit kleiner waren als sie selbst. Sanft tupften sie ihr mit feinen Leintüchern das Wasser vom Leib, öffneten, kämmten, trockneten und flochten ihr die fünf Zöpfe neu und rührten mit Pinseln in kleinen Tontöpfchen.

      Merdin schien es auf der anderen Seite des Kessels ebenso zu ergehen, soweit sie das durch die wilden Haarmähnen der ihn umstehenden Krieger erkennen konnte. Sie erhaschte sogar ein fröhliches Zwinkern von ihm.

      Alle acht Kriegerinnen lächelten ihr aufmunternd zu und rückten so dicht auf, als wollten sie einen Schutzschild aus blauer Haut und weichen Tüchern bilden; als wollten sie Viviane rundum vor der Außenwelt abschirmen.

      Tatsächlich wurde es seltsam ruhig um sie herum und auch in ihr, nur das Dröhnen der Trommeln drang zu ihr durch wie ein Ruf aus dem Verborgenen.

      „Hast du dich entschieden?“, fragte die Kriegerin noch einmal nach und ihre Gefährtinnen senkten kurz die Leintücher, damit Viviane einen Blick auf deren Schutzgeister über Brust und Bauch erhaschen konnte.