Reichtum verpflichtet. Hannelore Cayre

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Название Reichtum verpflichtet
Автор произведения Hannelore Cayre
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783867548335



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Acht Monate hatten wir uns um Yvonne gekümmert und in ihrem Stadtpalais nicht einen Besuch empfangen, abgesehen von ihrem Notar und ihrem Bankier. Jedenfalls bin ich sicher, dass uns ihr Ableben am meisten traf. Denn wir hatten die Alte liebgewonnen, vor allem gegen Ende, als sie so weit überschnappte, dass sie uns aus unerfindlichen Gründen den ganzen Tag Les nuits d’une demoiselle von Colette Renard vorsang:

       Ich lass mir das Naschwerk lecken

       Ich lass mir das Fischchen streicheln

       Ich lass mir das Hemdchen steifen

       Ich lass mir den Bonbon knabbern

      Was mit achtundneunzig Jahren, das müssen Sie zugeben, ganz schön schneidig ist.

      Wie auch immer, jetzt war sie seit vier Tagen tot und ich war reich. Unfassbar reich. Infolgedessen – die Reichen sind immer in Eile – hatte ich noch anderes zu tun, als auf einem Friedhof rumzugammeln. In sechs Stunden ging unser Flieger zu unserem neuen Haus auf den Britischen Jungferninseln – Steuerparadies – und nächsten Montag, denn das Ende der Welt sollte man stets an einem Montag einläuten, würden wir uns ans Werk machen.

      Vor dieser Gruft, die zu verschließen sich die Totengräber gar nicht mehr die Mühe machten, da die de Rignys wie die Fliegen starben (immerhin sechs in kaum einem Jahr), gedachte ich unseres gemeinsamen Vorfahren Auguste. Ob sein Leben, wie ich es auf diesen wenigen Seiten erzähle, dem von ihm tatsächlich gelebten entspricht, ob sein Charakter so war, wie ich ihn beschreibe, hat keinerlei Bedeutung.

      Ihnen die paar Monate im Dasein dieses liebenswerten jungen Mannes zu überliefern, der immer ein bisschen fehl am Platz war, ist eine Möglichkeit, ihm die Substanz und die Unsterblichkeit zu verleihen, die er verdient, und ihm so seine Geste gegenüber meiner Familie zu vergelten. Ihn dem dunkeln Hintergrund und Schoß der Zeit entreißen, wie Shakespeare sagen würde. Auf diese Weise gesellt er sich zu anderen treuen Gefährten, die vielleicht im wahren Leben nicht existieren, sondern nur in jenen Romanen des 19. Jahrhunderts, die mein politisches Denken geprägt und mich zu der gemacht haben, die ich bin.

      Saint-Germain-en-Laye, 18. Januar 1870

      Seit über einer Stunde saß Auguste auf seiner Bettkante und starrte auf die Weckuhr genannte kostspielige Neuheit aus den großen Warenhäusern, die seine Tante Clothilde ihm zum zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte.

      Weil wir alle wissen, dass es in Paris niemals genug Hähne geben wird, um Sie aus dem Schlaf zu reißen, stand auf der kleinen Karte, die dem Päckchen schalkhaft beigefügt war.

      Es handelte sich um eine Uhr, die in ein kunstvoll gearbeitetes Gehäuse eingebaut war, das Paradiesvögel darstellte. Während er sie betrachtete, dachte der junge Mann wehmütig darüber nach, dass diese Erfindung das Leben aller Nachtschwärmer, die wie er morgens nicht aus den Federn kamen, in mancher Beziehung auf den Kopf stellen würde. Das Ding ließ sich so einstellen, dass das Läutwerk zu einem festgelegten Zeitpunkt ausgelöst wurde. Neben Stunden- und Minutenzeiger gab es einen speziellen Zeiger, den man am Vorabend auf die Weckzeit ausrichtete. Auguste hatte ihn auf die Ziffer 7 justiert, eine Stunde vor der Zeit, die auf seiner Vorladung zum Losverfahren stand.

      Dieser berüchtigte Termin verfolgte ihn, seit er im Oktober zur Erfassung des Wehrpflichtjahrgangs 1869 im Rathaus vorstellig geworden war, dem Jahr seines zwanzigsten Geburtstags. Bis Januar war er ständig betrunken gewesen und hatte sich über die Feiertage bemüht, nicht an ihn zu denken, dann hatte er sich dabei ertappt, dass er ihn als die Erlösung von seinen Ängsten herbeisehnte.

      Das Herunterzählen der Tage war schließlich an seinem Ende angelangt und heute Morgen war es so weit!

      Heute würde er endlich erfahren, ob das Ziehen einer schlechten Nummer ihn zwang, die Sorbonne aufzugeben, sein Pariser Leben, seine Vergnügungen und seine schönen Bequemlichkeiten einzutauschen gegen neun Jahre erniedrigenden Militärdienst, fünf davon umgeben von Rohlingen in einer feuchten Kaserne mit schlechten Betten.

      Das Läuten der teuflischen Erfindung ließ ihn hochschrecken und drehte ihm die Eingeweide um: Wer nicht Punkt acht Uhr zum Appell antritt, wird als Erstes zum Militärdienst eingezogen, hieß es unten auf seiner Vorladung.

      Er hätte sich so gewünscht, dass seine Mutter und seine Schwester ihn zur Auslosung begleiteten, leider waren die beiden dringend ans Krankenbett einer Tante gerufen worden. Auch sein Vater, durch ein Rückenleiden ans Haus gefesselt, konnte nicht mitgehen. Blieben sein Schwager Jules, ein zum Geschäft konvertierter Ex-Offizier, und sein Bruder Ferdinand, ein Ehrgeizling und frommer Jünger des Geldkults, dessen liebster Zeitvertreib darin bestand, ihn zu piesacken, bis er explodierte. Selbst wenn diese beiden sich erboten hätten, ihm bei dieser Prüfung beizustehen, Auguste hätte kategorisch abgelehnt.

      Die Frauen der Familie hatten ihn immerhin nicht gänzlich im Stich gelassen, hatten sie doch in Saint-Germain-de-Paris eine Messe lesen lassen, damit die Vorsehung ihn vom Militärdienst befreie. Natürlich glaubte Auguste nicht an Gott, noch weniger seit er Die Entstehung der Arten gelesen hatte, ein glänzendes Buch, das die groteske Vorstellung von der göttlichen Erschaffung des Lebens wissenschaftlich widerlegte, aber insgeheim fand er doch, dass die paar von seiner Mutter gekauften Gebete ihm nicht schaden konnten.

      Er zog sich eilends an und durchquerte das stille Haus, wobei er darauf achtgab, niemanden zu wecken. Als er über die Schwelle trat, klappte er seinen Kragen bis über die Ohren hoch, um sich Hals über Kopf in diesen tintenschwarzen Wintermorgen zu stürzen, doch kaum hatte er das Gittertor des väterlichen Wohnsitzes passiert, ging seine Phantasie mit ihm durch. Er sah sich schon mit Angst im Bauch in eine Schlacht marschieren, so wie ein flegelhafter alter Soldat der Napoleonischen Garde, den seine Eltern hartnäckig zu Tisch luden, sie zum Schrecken der Damen schilderte; ein gewisser Pélissier, Überlebender der fürchterlichen Belagerung von Sewastopol. Es fehlte nicht viel und er hätte im Nimbus der Gaslaternen die Kadaver der Pferde erblickt, verrenkt vom Frost oder zerfleischt von den Soldaten.

      Während er die Rue de la République hinauflief, bevölkerte sich das Morgengrauen mit Silhouetten, deren Fußstapfen im Schnee sämtlich zum Rathaus von Saint-Germain-en-Laye führten. Vor der Tür des Gebäudes spielten Kinder Krieg und unterhielten damit die paar wenigen Wache stehenden Militärs. Sie bestiegen imaginäre Reittiere, und bewaffnet mit Aststücken als Säbel und Schneebällen, stürmten sie schreiend unsichtbaren Feinden entgegen; den Preußen, sagten sie.

      Die Begleitpersonen wurden aufgefordert, draußen zu bleiben, während alle jungen Wehrpflichtigen von gemeinen Soldaten zur Ehrenhalle geleitet wurden. An einem Tisch vor dem Geburtenregister des Landkreises, in dem die Namen aller 1849 geborenen Jungen verzeichnet waren, erwartete sie der Bürgermeister mit umgebundener Trikoloreschärpe sowie ein ungeduldiger Offizier, flankiert von einer Handvoll Soldaten.

      Auguste trat zu einer Gruppe Bürgersöhne an einem dicken Kohleofen, zu denen sich ganz selbstverständlich die Sprösslinge ihrer Bediensteten gesellt hatten. Er begrüßte Bertelot junior, den er daher kannte, dass er eine Zeitlang ein Auge auf seine Cousine geworfen hatte, und seinen Kindheitsfreund Duchaussois, den sein Vater unablässig als Beispiel hinstellte, weil er sich dem Justizbeamtentum zugewandt hatte. Er sah Berquet, Bruault und Fromoisin, Schulkameraden am Gymnasium. Portefaux, der Sohn des Hypothekenbewahrers, war ebenfalls da. Auguste erkannte ihn kaum wieder, so dick war er geworden: Er zielte auf Ausmusterung wegen Fettleibigkeit ab, meinte er. Er war überrascht, auch jenen zu sehen, den seine Mutter stets den kleinen Perret genannt hatte, jüngster Sohn ihres Gärtners, der, wie sich jetzt zeigte, im gleichen Jahr geboren war wie er. Dazu kamen noch die Söhne der Händler der Stadt. Einige kannte er, weil er ihnen in der Kirche begegnet war, als Jüngerer mit ihnen gespielt oder sie einfach nur im Hinterzimmer des elterlichen Ladens gesehen hatte. Sehr bald entstieg diesem inneren Kreis ein fröhliches Stimmengewirr.

      Etwas entfernt, in respektvollem Abstand zum Ofen, kämpften eine Masse junger Proletarier in Fabrikkitteln, aber auch ein paar wie für den Messgang gekleidete junge Bauern schweigend gegen die Kälte. Alle hatten sich Mühe gegeben, sich anständig anzuziehen,