Название | Der eigen-sinnige Mensch - eBook |
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Автор произведения | Helmut Milz |
Жанр | Медицина |
Серия | |
Издательство | Медицина |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783039020966 |
Die Vorstellung der Erschaffung des Menschen durch Berührung
Anfang des 16. Jahrhunderts malte Michelangelo ein riesiges Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle des Vatikans. In dessen Mitte rückte er die »Erschaffung Adams«. Der Bibel zufolge hauchte Gott dem von ihm aus Lehm geformten Adam Leben durch seinen Atem ein. Im Unterschied dazu überträgt Gott in Michelangelos Gemälde seine Lebenskraft dem Adam durch Berührung. Dieser Berührungskontakt ist aber nicht direkt, sondern geschieht über einen »Zwischenraum«. Die Hände der beiden Figuren berühren sich nicht, sondern laufen direkt aufeinander zu. Die Berührung springt wie ein Funke auf Adam über.
Der griechische Philosoph Aristoteles hat postuliert, dass bei jeder Berührung »ein Zwischenraum« das Berührende vom Berührten trenne. Es sei dieser »Zwischenraum« der eine Berührungsempfindung erst möglich mache. »In diesem subjektiv nicht wahrnehmbaren Raum zwischen dem Berührenden und dem Berührten kann ein Körper, wie nahe er auch sei, als vom anderen verschieden empfunden werden« (Daniel Heller-Rozin).
Im Zusammenhang mit den wissenschaftlichen Theorien des 17./18. Jahrhunderts zum »Elektromagnetismus« versuchte der Arzt und Hypnotiseur Franz Messmer (1734–1815) mithilfe des »animalischen Magnetismus« bestehende »Ungleichgewichte im Nervenhaushalt« seiner Patienten durch indirekte Berührungen zu beseitigen.
Berührung als Übertragung von heilsamen »Energien«
Wir sprechen davon, dass uns etwas »tief berührt« oder »ans Herz greift«, ohne dass dabei eine direkte physische Berührung erfolgte. Der erwähnte »Zwischenraum« wird auch bei der Übertragung von »heilsamen Energien« in traditionellen Heilkunden oder in der frühen Hypnose durch den »animalischen Magnetismus« des österreichischen Arztes Franz Messmer betont.
In manchen Berührungstechniken, wie der in der amerikanischen Krankenpflege weit verbreiteten »therapeutic touch« (Dolores Krieger) sind solche »Zwischenräume« Teil der Methode. Auch wenn die Verwendung des Energiebegriffs oft nebulös und esoterisch erfolgt, so bleiben Überlegungen zu modernen physikalischen »Feldtheorien« oder biologischen, »morphogenetischen Feldern« (Rupert Sheldrake) weiterhin Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen.
Zum philosophischen Diskurs über den »Tast-« und »Gemeinsinn«
Der kanadische Philosoph Mathew Fulkerson stellt die Frage, ob der Tastsinn »einen oder viele Sinne gleichzeitig« umfasst, da er nicht, wie die anderen Sinne, nur ein einzelnes, besonderes Sinnesorgan besitze. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass der Tastsinn eine Vielfalt von Sinnesrezeptoren und Sin neskanälen einschließt, die wir als »Form, Schwere, Bewegungsempfindungen, Temperatur oder Schmerz« wahrnehmen können. Wir »berühren« mit dem ganzen Körper. Eine weitere Qualität des Tastsinns sind dessen Bewertungen in »angenehm oder unangenehm«. Berührungen sind wichtige Faktoren im sozialen Zusammenleben, menschlichen Wachstum oder der Entwicklung von immunologischen Abwehrkräften. Der Tastsinn kann nach dem zeitgenössischen Wissensstand nicht mehr ausschließlich mit Wahrnehmungen über die Haut gleichgesetzt werden. Stattdessen geht man heute von einen »Tastsystem« aus.
Bereits in der griechischen Philosophie hatte das »Tastgefühl«, als möglicher »Gemeinsinn«, eine zentrale Bedeutung. Der amerikanische Philosoph Daniel Heller-Rozan hat 2007 dazu eine Monografie mit dem Titel The inner touch: Archeology of a Sensation verfasst. Er schreibt: »Es ist die Erfahrung eines Sinnes, der von allen Sinnen geteilt und, wie schwach und lückenhaft auch immer, bei allem sinnlichen Wahrnehmen empfunden wird: die Empfindung des Empfindens als solchem, mit der wir uns dem allgemeinen Leben ausgesetzt fühlen, durch das und zu dem alle Wesen gelangen, »man weiß selbst nicht wie«.
In der griechischen Philosophie wurde der Begriff der »aisthesis« verwendet, der in seinen Bedeutungen wie »Empfindung«, »Wahrnehmung« oder »Gefühl« den Philosophen der nachfolgenden Generationen weiterhin Kopfzerbrechen bereitet. Allgemein können Tastempfindungen als »Körpereindrücke« verstanden werden, also das, was auf Menschen einwirkt. Aristoteles bezog »Sinneswahrnehmungen« auf vier Dimensionen: auf das Wahrnehmungsvermögen, das Sinnesorgan selbst, das, was wahrnehmbar ist und auf das aktuelle Wahrnehmungsereignis. Der Tastsinn war nach seiner Ansicht für alle Lebewesen das erste Wahrnehmungsvermögen. Sinnliches Leben entstehe mit dem Tastsinn, und dieser begründe die übrigen vier Sinne (Riechen, Schmecken, Hören und Sehen). Der Tastsinn besitze kein besonderes Sinnesorgan, denn der ganze Körper, nicht nur die äußere Haut, empfinde Tasteindrücke. Mit diesem nehme man Eindrücke nicht »auf« der Haut oder in Muskeln und Gelenken, sondern immer »zusammen« mit diesen wahr. Der Tastsinn empfinde viele verschiedene Qualitäten zugleich, wie »warm, kalt, trocken, rau, weich« und dergleichen mehr. Schließlich geht Aristoteles von der Existenz einer einheitlichen Kraft »der Seele« aus, durch die alles wahrgenommen, verbunden und verglichen werde, was die fünf Sinne erfassen. Dieses »Eine« komme dem Tastsinn zu, der als »Gemeinsinn« für das »Gewahren und Selbstgewahren« verantwortlich sei. »Und wenn das Bewusstsein, mit einem Wort, eine Unterart von Berührung und Kontakt im buchstäblichen Sinn wäre, ›ein innerer Tastsinn‹, wie die Stoiker von dem ›Gemeinsinn‹ gesagt haben sollen, mit dem wir uns selbst wahrnehmen?«, fragt Daniel Heller-Rozin.
Die amerikanische Philosophin Renee Weber sieht bei Aristoteles Bezüge zwischen Berührungen und »inneren Empfindung des Herzens« (»irgendetwas tief drinnen im wahrnehmenden Subjekt«). Sie verweist darauf, dass die griechischen Philosophen noch keine »Bewusstseinsinstanz« sahen, bei der, wie später im 17. Jahrhundert bei Descartes, das »Denken« (»cogito«) ausschließlich dem Einzelnen zugänglich ist. Renee Weber betont die Unterschiede zwischen dem frühen griechischen Verständnis des Tastsinns und den englischen Sensualisten des 18. Jahrhunderts, wie etwa David Hume. Nach deren Tradition wäre nichts außer den körperlichen Sinneseindrücken wirklich real. Alle Gedanken wären demnach nur Abänderungen von Sinneseindrücken. Die Empfänger von ambivalenten oder unklaren Berührungen dürften nach Ansicht der englischen Sensualisten solche auch nicht empfinden. Jeder von uns weiß aber aus eigener Erfahrung, wie häufig Unklarheiten bei Berührungen auftreten können. Renee Weber verweist auf Immanuel Kant und dessen Kritik der reinen Vernunft im 19. Jahrhundert: »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«
Berührung als biologischer Prozess und als zwischenmenschliches Geschehen
Heute wissen wir immer mehr über die Zusammenhänge der Biologie der Berührung. Durch Erforschungen der Interaktionen von physikalischen und chemischen Vorgängen, Rezeptoren und Nervenleitungen sowie Wechselwirkungen zwischen Reizen und Reaktionen wird der Tastsinn zusehends entschlüsselt.
Angesichts der Faszination von naturwissenschaftlichen Berührungsforschungen werden häufig die qualitativen Unterschiede vergessen, die zwischen der »sachlich- distanzierten« Berührung von Dingen und den »komplexen, subjektiven Empfindungen« in zwischenmenschlichen Berührungen bestehen.
Die neurobiologischen Reaktionen auf Berührungsreize oder die feinen Wahrnehmungen durch unterschiedliche Rezeptoren können objektiv vermessen und beschrieben werden. Wie ein Individuum Berührungsreize aufnimmt, was diese in ihm bewirken, wie es diese erlebt, bewertet und beantwortet, lässt sich aber nicht nur in allgemeinen, linear-kausalen Regeln festhalten.
Wir empfinden Berührungen auf der Haut und im gesamten Körper. Wissenschaftler unterteilen diese Wahrnehmungen in »Extero-, Intero- und Propriozeption«. Diese unterschiedlichen Prozesse werden ständig abgeglichen und integriert. Wie dies geschieht, ob über die »Seele«, einen »Gemeinsinn«, der sich aus dem »Berührungsgefühl« ableiten könnte, oder über neurobiologische Netzwerke im Gehirn mittels einzelner Strukturen wie etwa dem »Inselorgan« (Insula), darüber gehen die Ansichten auseinander.
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