Mord im Lesesaal. Susanne Mathies

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Название Mord im Lesesaal
Автор произведения Susanne Mathies
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839269428



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überwachen. Ich komme mit Ihnen auf den Rundgang durchs Haus.«

      Der Hagere hatte aufgehört zu telefonieren. Er ging zu dem Toten hinüber und musterte ihn eingehend. »Gut, dann ist es wohl meine Aufgabe, hierzubleiben und zu sehen, dass nichts angerührt wird.« Er warf Cressida einen misstrauischen Blick zu. Anscheinend hielt er sie für eine gefährliche Komplizin der entlarvten Mörderin. Sie blickte eisig zurück. Das hatte sie über die Jahre perfektioniert, das funktionierte meistens wie ein Schlag zwischen die Beine. Dieser Theodor Storz sollte sich nur nicht einbilden, dass er sich hier als Autoritätsperson aufspielen konnte.

      Vom Anfang spannt sich ein Bogen, der schon eine Richtung auf ein Ende hat. Dieser Bogen füllt sich aber nicht aus.

      Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

      Eben hatte Karin noch ein blutiges Messer in der Hand gehalten. Oder hatte sie das geträumt? Nein, ihre Finger waren ja ganz blutverklebt. Lehnte ihr Ellenbogen auf einem fremden Knie?

      Tatsächlich, sie stützte sich gerade auf ein breites Männerknie in fleckigen Jeans, und der dazugehörige Mann war tot, mit einem roten Loch in der Brust. Dieser Mann war ein gewisser Josef Gruber, genannt Joe, den sie über alles verabscheute. Konnte man jemanden noch verabscheuen, wenn er schon tot war? Ja, das konnte man, sie hatte kein Problem damit, sie hasste ihn von ganzem Herzen. Um sie herum anklagende Gesichter, die forschend auf sie herabsahen. Da war Cressida mit dem blauen Haar, blau wie die Hoffnung, die blaue Blume der Romantik, die war ebenfalls unerreichbar, es wäre besser, wenn sie selbst sich jetzt irgendwo verlieren könnte … Cressida streckte eine Hand nach ihr aus. So, als ob man sie irgendwo erreichen könnte, doch sie war tief nach unten gestürzt, bis auf den Boden, rock bottom.

      »War das ein Bekannter von Ihnen?«, fragte jemand dicht neben ihrem Ohr. »Hat der Mann Sie belästigt oder auf andere Weise unter Druck gesetzt? Haben Sie ihn deshalb umgebracht?«

      Das war der hagere Herr Storz, der jeden Tag zur gleichen Zeit in den Lesesaal kam. Was ging den das an? Er sollte weggehen. Wieso mischte sich überhaupt jemand ein? Sie war in der Hölle, wo sie hingehörte. Joes Tod hatte nicht geholfen.

      Aber irgendetwas an der Frage hakte sich in ihrem Bewusstsein fest. Kannte sie diesen Joe wirklich? So, wie man jemanden kennen musste, um ein Urteil über ihn abgeben zu können? Sie zwang sich, den Toten anzusehen. Er war alt, uralt, weiße Bartstoppel über knittrigem Doppelkinn. Dicke uralte Männer sahen alle gleich aus, egal ob tot oder lebendig, das hätte sie sich nie zu denken getraut, wenn sie nicht schon außerhalb der Welt ganz unten säße. Er musste ein Leben hinter sich haben, von dem sie nur einen winzigen Teil kannte, doch dieser Teil war schlimm genug. Sie spürte, wie Tränen über ihr Gesicht liefen, und sie ließ es geschehen, dass Cressida sie zum nächsten roten Sessel führte. Nun saß sie dem Toten gegenüber. Dem riesigen Blutfleck gegenüber. So viel Blut, an ihren Händen noch mehr Blut, verschmiert, dunkelrote Schlieren. Ein alter Mann, der nicht mehr atmete. Schon wieder. Erst letzte Nacht war sie wieder aufgewacht aus diesem Albtraum und hatte einen Moment lang geglaubt, sie hätte sich alles nur eingebildet, es wäre gar nicht passiert. Aber es war geschehen, und es geschah immer wieder, ein ewiger Kreislauf, aus dem sie nicht mehr entkommen konnte. Jetzt war auch dieser Joe tot, und sie konnte trotzdem immer noch nicht nach oben fliegen. Sie hatte es nicht verdient. Sie musste es jemandem sagen, sie konnte es nicht mehr allein ertragen.

      »Ich habe es getan!« Sie sah Cressida an. »Ich bin schuldig. Cressida, bitte hilf mir. Ich habe ihn umgebracht, mit meinen eigenen Händen. Blut an den Händen, sieh dir bloß das viele Blut an! Hilf mir!«

      Durch die Tränen in ihren Augen konnte sie die Menschen um sich herum nur noch verschwommen erkennen. Jemand drückte ihr einen Becher in die Hand, in ihre blutverschmierte rechte Hand. Kaffee, dunkel und stark, kein Kaffee im Lesesaal, dachte sie noch, da wurde ihr wieder schwarz vor Augen.

      Jede Ichverstrickung enthält aber schon eine Wirverstrickung.

      Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt

      »Ich protestiere gegen dieses unglaubliche Benehmen!« Eine schrille Männerstimme ertönte im Treppenhaus. Also hatten Heinrich Oberstrass und Martin Leeman noch jemanden im Haus entdeckt.

      Der Mann, der – sichtlich gegen seinen Willen – durch die Tür vom Vorraum in den Lesesaal gezerrt wurde, kam Cressida bekannt vor. Woher nur – natürlich, sie hatte sein Foto gesehen, in der aktuellen Broschüre der Museumsgesellschaft, die man ihr letzte Woche feierlich überreicht hatte zum Beginn ihres Aufenthalts als Writer in Residence. Das war Jakob Wildenbruch, Präsident der Museumsgesellschaft, dem sie vorhin in ihrer Vorstellung zwei saftige Ohrfeigen verpasst hatte. Eine wichtige Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, ein Amtsträger, ein hochehrenwerter Präsident, der nun wie ein verdächtiges Subjekt vorgeführt wurde. Nicht so erfreulich wie eine Ohrfeige, aber auch nicht schlecht.

      »Sie wollen mich doch wohl nicht daran hindern, meinen Schirm zu nehmen und nach Hause zu gehen!«

      Sein Blick schweifte auf die Gruppe bei den roten Ledersesseln, blieb kurz an dem Toten hängen, ging dann zurück zu Heinrich Oberstrass. »Was bilden Sie sich eigentlich ein?«

      Das war seltsam. Warum war dieser Mann überhaupt nicht überrascht? Nicht neugierig darauf, wer oder was dort über dem Sessel hing? Sah er nicht, dass dort ein Toter lag? War er stark kurzsichtig?

      Cressida ging auf ihn zu. »Herr Wildenbruch, hier ist ein Mord geschehen.«

      »Das sagte Herr Oberstrass bereits. Schrecklich. Aber das Ganze hat nichts mit mir zu tun, ich habe gerade eben erst das Haus betreten. Und ich bin in Eile, ich werde zu einer wichtigen Sitzung erwartet.«

      »Darauf können wir leider keine Rücksicht nehmen. Sie waren vorhin schon einmal hier, ich habe Sie gesehen. Deshalb muss ich Sie bitten, bei uns zu bleiben, bis die Polizei kommt, die wird Ihre Zeugenaussage aufnehmen.«

      Das Donnerwetter, das Cressida auf ihre Worte hin von Jakob Wildenbruch erwartet hätte, blieb erstaunlicherweise aus. Er wurde blass und setzte sich ohne weitere Gegenrede an einen der Arbeitstische.

      Jetzt erst bemerkte Cressida, dass auch Daniel den Lesesaal betreten hatte, unauffällig wie immer. Er sah sich um, erfasste die Situation und ging auf Karin zu, die teilnahmslos in dem Sessel gegenüber dem Toten saß. Wie selbstverständlich hockte er sich neben sie und legte sanft seinen Arm um ihre Schulter. Daniel, der starke Beschützer der Witwen und Waisen. Immer bereit, einer attraktiven Frau seine Hilfe anzubieten. Jedenfalls solange diese Frau zart und hilflos genug wirkte.

      Er blickte in Cressidas Richtung, vorwurfsvoll. So als ob sie grundsätzlich an allem schuld und für alles verantwortlich wäre.

      Fuck you, Daniel, dachte Cressida. Da war also wieder dieser Blick, wie damals. Es tat immer noch weh. Vielleicht hätte sie die Position als Writer in Residence doch nicht annehmen sollen. Aber sie konnte schließlich nicht für alle Zeiten vor ihren Erinnerungen davonlaufen, alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. Fuck you, wiederholte sie für sich, weil es sich gut anfühlte. Fuck you – fuck you – fuck you. Die Wut tat ihr wohl.

      Ein Blick auf Karin ließ sie wieder nüchtern werden. Der Thermosbecher mit Kaffee war Karin aus der Hand gefallen, ihre Gesichtsfarbe war aschgrau. Langsam öffneten sich Karins Augen und starrten ins Leere. »Ich bin schuldig«, hatte sie gesagt, doch das konnte nicht wahr sein. Cressida spürte, dass die dahinterliegende Geschichte viel komplizierter war, als es den Anschein hatte. Allerdings war dies noch nicht der richtige Zeitpunkt zum Trösten und Abwarten. Es gab im Moment vieles, was sie klären musste.

      »Da wir alle hier sind, können wir der Polizei ein bisschen Arbeit abnehmen«, verkündete sie laut. »Wenn wir schon mal vorab herausfinden, wer der Tote war und wer ihn kannte, kommen wir nachher schneller wieder nach Hause.«

      »Und Sie als Krimi-Autorin und Philosophin fühlen sich berufen, die Untersuchung zu leiten? Da haben wir wohl Glück gehabt, dass Sie zufällig gerade hier sind!« Martin Leemans