Leipziger Mörderquartett. Tatjana Böhme-Mehner

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Название Leipziger Mörderquartett
Автор произведения Tatjana Böhme-Mehner
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839269282



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auch so schief angesehen wird wie ich in diesem weit kostengünstigeren Fall. Aber mein Versicherungsvertreter kann nun wieder ruhig schlafen, wenn ich morgen früh den Termin absage.«

      Erst jetzt begriff Anna die Sache in ihrem ganzen Ausmaß: Die gestern zertrümmerte Bratsche wäre das zukünftige Instrument ihres Gegenübers gewesen. Mitleidig und entsetzt starrte sie Habakuk an.

      10

      »Hat er dir jemals gesagt, warum er das Instrument so dringend verkaufen wollte?«

      »Kein Sterbenswort. Er hatte es eilig, also dachte ich mir, er braucht das Geld. Er hatte ja mehr als ein anderes anständiges Konzertinstrument.«

      »Und warum hat er gestern ausgerechnet dieses gespielt?«

      »Das hat er mir angekündigt, aber plausibel erschien mir seine Erklärung nicht! Es fällt mir schwer, in bestimmten Situationen an Zufälle zu glauben; und das hier ist so eine.«

      Ein Satz, der durchaus von Anna stammen könnte, das gefiel ihr. Habakuk C. Brausewind hatte Anna Schneider argumentativ längst auf seine Seite gezogen.

      Habakuk fuhr fort: »Ich weiß nicht, was passiert ist, oder was ich davon halten soll. Aber es fällt mir schwer, an einen Unglücksfall zu glauben. Vorgestern hat mich Steinmüller angerufen und mir erklärt, dass er das Instrument am Samstag im Konzert im In-and-Out noch einmal spielen müsse, des Klangbildes wegen und verschiedenen Leuten zuliebe. Die nannte er jedoch nicht namentlich. Es sei ihm aber wichtig – natürlich gegen Quittung –, gleich im Anschluss an das Konzert das Instrument vorfristig an mich zu übergeben. Er bat mich, da zu sein, eine Freikarte sei auf meinen Namen an der Abendkasse hinterlegt. Ich habe daraufhin bei einem befreundeten Anwalt angerufen, um zu ergründen, ob sich das auf den schon unterschriebenen Kaufvertrag auswirken könnte. Dieser hat verneint, aber eine Übergabequittung aufgesetzt, die am Ende nicht mehr benötigt wurde.«

      »Hast du das der Polizei gesagt?«

      »Du bist gut! Weder gehörte mir das Instrument bereits, noch weiß ich, ob man eindeutig nachweisen kann, dass es sich bei dem auf der In-and-Out-Bühne verteilten Kleinholz um genau diese Bratsche gehandelt hat. Jemand, der nicht vorher im Saal war, könnte vermutlich nicht einmal sagen, dass die Holzsplitter ein Musikinstrument waren. Allerdings werde ich das Gefühl nicht los, dass es sich um einen Anschlag auf das Instrument gehandelt hat.«

      »Aber«, fuhr ihm Anna ins Wort, »ein solcher Anschlag wäre auch mindestens fahrlässige Tötung!«

      Habakuk wiegte bedächtig den Kopf. »Das ist es doch, was mir die ganze Zeit durch den Kopf geht. Wie kann man Hypothesen zu Instrumentenschwarzmarkt oder Versicherungsbetrug verfolgen oder das der Polizei gegenüber erwähnen, ohne dabei das Andenken eines Toten zu verunglimpfen, der damit möglicherweise gar nichts zu tun hatte? Das Hin und Her des Verkaufs sorgte unter Kollegen ohnehin für Aufsehen.«

      »Man müsste herausbekommen, dass es kein Unfall war«, hörte sich Anna sagen.

      »Davon ist Frille überzeugt!«

      Anna war irritiert. Hatte sie etwas verpasst? »Wer ist Frille?«

      Frille wurde ein gewisser Friedrich Lehmann von seinen Freunden und Kollegen genannt. Und Friedrich Lehmann war der technische Leiter vom In-and-Out, einer der beiden festangestellten Veranstaltungstechniker, der Einzige in Vollzeit. Woher Habakuk diesen Frille so gut kannte, dass er wusste, was der darüber dachte, konnte Anna nicht fragen.

      Denn Habakuk erklärte bereits: »Frille hat noch gestern Abend darauf bestanden, dass das kein Unfall gewesen sein kann, dass keiner seiner Leute – es gibt eine Reihe freier Kollegen – so grob fahrlässig handeln würde. Vor allem können sich die Befestigungsschellen eines Moving Lights von Bero niemals einfach so lösen, niemals! Frille sagt, es gebe technisch und was die Sicherheit betrifft nichts Besseres. Die Spots besitzen nämlich eine Sekundärsicherung, einen Unfall hält er also für ausgeschlossen. Aber das In-and-Out mit seiner Politik der offenen Türen, wo jeder nach überall durchmarschieren und Dinge abschrauben und mitgehen lassen könne … Für Frille ist es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass mal etwas passiert. Aber gleich so etwas … Das hätte er nicht für möglich gehalten. Mit einem ordentlichen Sicherheitsdienst wie in anderen Clubs wäre das nicht passiert, sagt er. Er hofft, dass sich wenigstens jetzt etwas ändert.«

      Anna wagte vorsichtig anzumerken: »Ist es nicht naturgemäß und allzu verständlich, dass der technische Leiter hofft, der Fehler liege nicht in seinem Zuständigkeitsbereich? Immerhin kam durch den einzigartigen – wie heißt der? Moving Light? – na, durch den fantastischen Drehscheinwerfer ein Mensch zu Tode. Hat dieser Herr Frille« – Habakuk schmunzelte, weil Anna ihn »Herr Frille« nannte – »also dieser Frille seine Bedenken der Polizei vorgetragen?«

      »Und ob«, wusste Habakuk, der mit Frille heute schon ein längeres Telefonat geführt hatte. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, die Polizei nimmt Frilles Bedenken durchaus ernst. Aber ich habe im Gegensatz zu ihm keinen Grund und schon gar keine Berechtigung, mit irgendwelchen kruden Verdächtigungen durch die Gegend zu ziehen. Rein formal war es ja noch nicht einmal mein Instrument.«

      Anna saß aufrecht auf ihrer Plüschsesselkante. Durch ihren Kopf schoss alles Mögliche – Versicherungsbetrug, Instrumentenmafia, fahrlässige Tötung, Mord … Außer dass sie diesen Austausch mit Habakuk unendlich genoss und fortsetzen wollte, hatte sie das verführerische Gefühl, dass das hier ihre große Enthüllungsstory sein könnte, der Beweis, dass sie mehr konnte, als Musikkritiken zu schreiben. Sollte keine große Story dahinterstecken, bot ihr Habakuks Erzählung wenigstens einen Ausweg aus dem momentanen Kramer-Dilemma. Sie sagte: »Ich weiß, wie wir vorgehen!«

      11

      »Hast du das jetzt wirklich gemacht?« Habakuk war erschüttert.

      »Ja, klar!«, sagte Anna so cool wie möglich. Dabei war sie über sich selbst verblüfft.

      »Du hast mich nicht mal gefragt …«

      »Ja, aber du hast mir das alles doch nicht völlig absichtslos erzählt, oder?«

      »Stimmt. Und du hältst mich nicht für paranoid?«

      »Nicht mehr als andere. Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was du gesagt hast, muss man dem nachgehen. Kramer ist übrigens dabei.«

      »Kramer?«

      »Mein Ressortleiter. Der Mann, der abnicken muss, wenn ich so wertvolle Ressourcen wie meine Arbeitszeit damit vergeude, loszuziehen, mit meinem Presseausweis zu wedeln und unliebsame Fragen zu stellen.«

      »Anna?«

      »Wir verfolgen die Spur. Presse, die vierte Macht im Staate …« Annas Kampfgeist war geweckt.

      Dem vorausgegangen war ein langes Telefonat mit Kramer, Folge ihrer Ankündigung Habakuk gegenüber, zu wissen, wie sie – der Plural entsprang ihrer Überzeugung – vorgehen sollten.

      Kramer hatte für seine Verhältnisse sehr schnell abgehoben. »Ach, Anna! Noch unter den Lebenden? Hast du dich endlich vom Schock erholt?« Ein ungewohnt zynischer Unterton schwang in seiner Ansprache mit. »Ich habe Schrottheimer erklärt, dass du erst einmal fertig werden musst mit so viel Blut und Trümmern. Hat man ja sonst im Konzert nicht allzu oft.«

      Uuh, das hätte unter normalen Umständen gesessen, aber inzwischen hatte Anna einen Joker in der Tasche, den sie genüsslich hervorgekramt hatte. Okay, sie hatte die Geschichte ein bisschen geschönt: Schon gestern Abend habe ein »Informant« ihr gegenüber berechtigte Zweifel geäußert an der Unfalltheorie, vor allem weil Steinmüller aktuell in einen komplizierten, vielleicht sogar dubiosen Instrumententransfer verwickelt sei. Das Wort »Transfer« sollte selbst Schrottheimer aus den attraktiven Fußballenthüllungen kennen. Sie hatte noch geschickt Reizworte wie »Versicherungssumme«, »laufende Ermittlungen« und »Marktregulierung« eingeflochten, ohne zu wissen, wie sie diese am Ende in ihre Berichterstattung integrieren konnte. Als sie endlich aufgelegt hatte, hatte sie tatsächlich die Carte blanche ausgehandelt. Sie durfte recherchieren, was es mit dem Unglücksfall