Die Ungerächten. Volker Dützer

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Название Die Ungerächten
Автор произведения Volker Dützer
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783839268742



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Winter ’44 war ich mit meiner Einheit in Belgien stationiert, Unternehmen ›Wacht am Rhein‹. Wir waren zu fünft und sollten ein Dutzend gefangene GIs bewachen, als wir unter Feuer genommen wurden. Mir hat’s an dem Tag die Hand zerfetzt. Sie haben mich abtransportiert und in einem Gehöft untergebracht, das als Lazarett diente. Später hab ich erfahren, dass meine Kameraden die Gefangenen erschossen haben. Alle haben sie auf den Meissner gehört, dem hatten die Nazis völlig den Kopf verdreht. Jemand hat die alte Geschichte ausgegraben, um uns ein Bein zu stellen. Bevor ich nicht offiziell entnazifiziert bin, habe ich Berufsverbot. Und das ist noch das kleinste Übel. Wenn die Amis glauben, dass ich an der Erschießung beteiligt gewesen bin, geht’s mir an den Kragen.«

      Hannah gefror innerlich. »Aber das warst du doch nicht, oder?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

      Pohl schüttelte entschieden den Kopf. »Nee, Mädchen. Ich hab versucht, mich aus allem Ärger rauszuhalten. Das hätt ich nie und nimmer gemacht.«

      »Dann brauchst du doch nur zu beweisen, dass du verwundet wurdest. Deine Kameraden müssen aussagen.«

      Pohl winkte dem Kellner. »Die gibt’s nicht mehr. Alle tot.«

      »Es muss Unterlagen aus dem Lazarett geben.«

      »Da ging es damals drunter und drüber. Ich kann mich nicht mal an den Namen des Arztes erinnern, der mich behandelt hat. Ich sitze in der Tinte.«

      Hannah sank auf dem Barhocker zusammen. Es durfte nicht so enden.

      »Weißt du denn wenigstens, wer uns reinlegen will? Wie kann überhaupt jemand von unserem Plan wissen?«

      Max spielte verlegen mit der Kaffeetasse. »Ich hab’s eben rumerzählt, weil ich mich so gefreut hab, dass es wieder bergauf geht. Es gibt leider ’ne Menge Leute, die mir den Erfolg nicht gönnen.«

      »Musstest du die Sache denn unbedingt ausposaunen, bevor wir die Genehmigung in der Tasche hatten?«

      Er seufzte. »Du hast doch gemerkt, dass ich die Klappe nicht halten kann, wenn ich trinke.«

      »Wir müssen dich also entnazifizieren«, überlegte Hannah.

      Scott saß in einem Flugzeug hoch über dem Atlantik, er würde ihr diesmal nicht aus der Patsche helfen können. Aber vielleicht konnte sie ihr eigenes Engagement der vergangenen beiden Jahre in die Waagschale werfen. Sie zog die Visitenkarte aus der Akte, die Scott ihr gegeben hatte.

      »Ich bringe das in Ordnung«, sagte sie. »Dazu brauche ich deinen Personalausweis.«

      »Hä?«, machte Pohl.

      »Gib schon her.«

      Pohl nestelte an seiner Fliegerjacke und reichte ihr einen abgegriffenen Pass. »Was willste denn damit?«

      Hannah sparte sich eine Antwort. Stattdessen machte sie sich auf den Weg zum Hauptquartier der US-Streitkräfte.

      Mit ihrem Ausweis des CIC erhielt Hannah Zutritt zum I.G.-Farben-Haus. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und versank, ohne es zu wollen, in der Vergangenheit. Zu viele Erinnerungen waren mit diesem Ort verbunden. Vor ihrem inneren Auge sah sie den T4-Gutachterarzt Joachim Lubeck, wie er den Meldebogen ausfüllte, der sie in die Tötungsanstalt in Hadamar gebracht hatte. Es war ein zynischer Zug des Schicksals, dass sie selbst seit fast zwei Jahren Dokumente ausstellte, die über das weitere Leben von Menschen entschieden.

      Eine ihrer Aufgaben war es gewesen, sogenannte Clearance Certificates auszustellen, Entlastungszeugnisse, die den Betreffenden von einer Mitschuld am Terror des NS-Regimes freisprachen. Hannah hatte jeden einzelnen Fall geprüft und Dutzende kleine und große Mitläufer enttarnt, aber nie einen Persilschein ausgestellt und damit Täter geschützt. Nun übernahmen die neu gegründeten Spruchkammern die Entnazifizierung. Sagte Max die Wahrheit? Wenn er log und sie ihn entlastete, war sie nicht besser als die Verbrecher, die sie jagte. Unternahm sie jedoch nichts und er musste vor einer Spruchkammer aussagen, ohne Zeugen benennen zu können, die seine Unschuld bewiesen, gefährdete sie ihre eigene Zukunft.

      Langsam zog sie die Schublade auf, nahm ein Blankoformular heraus und spannte es in die Schreibmaschine. Sie begann, Pohls Namen und Adresse in das Namensfeld zu tippen, und sprach ihn nach der Verordnung Nummer neunundsiebzig der Militärregierung von jeglicher Mittäterschaft des Naziterrors frei.

      Dann zog sie den Bogen aus der Maschine und stempelte ihn ab. Sie war nicht befugt, das Dokument selbst zu unterzeichnen, und ihr Gewissen weigerte sich, ihr zu erlauben, Scotts Unterschrift zu fälschen. Deshalb musste der Staatsanwalt, den Scott ihr empfohlen hatte, diesen letzten Schritt übernehmen. Noch hatte sie keine Ahnung, wie sie Lenz dazu überreden sollte, sie kannte ihn ja noch nicht einmal. Sie faltete das Schreiben mit dem Stempel der Militärregierung und steckte es in ein Kuvert. Dann nahm sie das Dossier über Heyrich und verließ das I.G.-Farben-Haus, das sie vermutlich nie wieder betreten würde. Zwar war sie auch nach Scotts überstürztem Abflug noch Zivilangestellte der Army, aber es gab für sie nichts mehr zu tun, die Abteilung existierte praktisch nicht mehr. Ohne Scott erschien ihr die Arbeit ohnehin sinnlos.

      Nach einem letzten sehnsuchtsvollen Blick zurück machte sie sich auf den Weg zu Staatsanwalt Harald Lenz. All die schönen Stunden an Scotts Seite, ihre gemeinsame Arbeit, die aufregende Jagd und die Befriedigung, für Gerechtigkeit zu sorgen, endeten hier.

      Das Gebäude, in dem das neue Oberlandesgericht und damit auch die Staatsanwaltschaft untergebracht war, lag etwa drei Kilometer vom Hauptquartier der US-Streitkräfte entfernt. Hannah hatte Scott ein paarmal dorthin begleitet, daher kannte sie den Weg und wusste, wo sie sich melden musste, um zu Lenz vorgelassen zu werden. Nun wartete sie in seinem Vorzimmer und hoffte, dass ihre Uniform Eindruck schindete. Wenn Lenz sie nicht unterstützte, wusste sie nicht, wie sie Pohl helfen sollte. Ihr Traum von der eigenen Fluggesellschaft würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Zerfahren legte sie sich eine Strategie zurecht, wie sie Lenz um den Finger wickeln könnte. Die Sekretärin des Staatsanwalts riss sie aus ihren Grübeleien.

      »Herr Lenz hat jetzt Zeit für Sie.«

      Die Vorzimmerdame ging voran, klopfte an eine Tür und bat Hannah einzutreten.

      Lenz erhob sich von seinem Platz hinter dem Schreibtisch, knöpfte sein Sakko zu und begrüßte sie. Er deutete auf eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder und bat Hannah, Platz zu nehmen.

      »Harald Lenz. Was kann ich für Sie tun, Fräulein Bloch?«

      Ihr Plan, ihm zuerst eine Zusammenarbeit bei der Suche nach NS-Kriegsverbrechern anzubieten und dann allmählich auf Pohls Entnazifizierung zu kommen, löste sich vor ihren Augen auf wie Nebel in der Frühlingssonne. Ihr Herz trommelte einen aufgeregten Wirbel gegen ihre Rippen. Sie spürte, dass sie Lenz anstarrte.

      Der Staatsanwalt runzelte die Stirn. »Stimmt etwas nicht? Fühlen Sie sich nicht wohl?«

      Hannah fasste sich. »Entschuldigung. Sie erinnern mich an jemanden. Die Ähnlichkeit … ist verblüffend.«

      Was sie sagte, war mehr als untertrieben. Staatsanwalt Harald Lenz war eine ältere Ausgabe von Hans Simonek. Das blonde, gescheitelte Haar und die klaren blauen Augen, seine Haltung und die Art, wie er sich bewegte – alles erinnerte sie an ihre erste Liebe.

      »Ich hoffe, ich darf Ihre Reaktion als Kompliment verstehen«, sagte Lenz und lächelte.

      Hannah wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Alles drehte sich um sie, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Lenz stand auf, öffnete eine Klappe in der Schrankwand und kehrte mit zwei gefüllten Likörgläsern zurück.

      »Wenn Ihr Bekannter einen solchen Eindruck bei Ihnen hinterlassen hat, sollten wir auf sein Wohl trinken, meinen Sie nicht auch?«, sagte er. »Erklären Sie mir, warum eine so hübsche junge Frau eine Uniform trägt?«

      Der Alkohol breitete sich warm in ihrem Bauch aus und half ihr, die Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. Sie berichtete stockend von ihrer Arbeit beim CIC und der Suche nach Rolf Heyrich.

      Lenz blätterte in dem Dossier. »Leider kann ich Ihnen nicht allzu viel Hoffnung machen«, sagte er. »Dass die Amerikaner und Briten sich langsam aus