Katalonien im September: Wenig weiß Hilde über Land und Leute, über Zweck und Ziel ihrer Tour ins Unbekannte, als sie am Ende des Sommers zu ihrem ersten Aufenthalt im Pyrenäen-Gebirge aufbricht. Ihre katalanischen Gastgeber Fran und Len wollen der Besucherin einen Ort der Selbstbesinnung und Inspiration bieten, ein Stück Heimat in der Fremde, zum Ausruhen und Krafttanken. Hilde trifft im entlegenen Bergdörfchen Conocer unterhalb des gigantischen Manigo-Passes ein und wird von den Pensionsbetreibern freundlich empfangen. Sie lernt hier auf Gäste aus aller Welt kennen, Künstler und Suchende wie sie selbst, voller Fragen an das Leben und neugierig auf Abwechslung. Sonnendurchflutet scheint die atemberaubende Gebirgslandschaft ringsum zur Erkundung einzuladen: Mehr und mehr traut Hilde sich zu, schnell werden ihre Mutproben zur Grenzerfahrung. Was sie wagen kann, zeigt sich erst, als sie es ausprobiert –
Angefüllt mit Bildern, Eindrücken und Phantasien kehrt die Alleinreisende abends nach Conocer zu ihren Gastgebern zurück. Hilde genießt die freundliche, unbeschwerte Atmosphäre in ihrer kleinen Pension, doch das Ehepaar gibt Rätsel auf: Fran, die kleine Katalanin, fasziniert Hilde, während Len ihr freundlich-distanziert gegenübersteht. War Fran ihrem Mann in 25 Ehejahren treu? Und ist Frans Freundlichkeit gegenüber Hilde mehr als nur gastfreundlich gemeint? Aus Anziehung wird rasch tiefe Zuneigung, doch Fran und Hilde wagen es nicht, sie auszusprechen. Und so wird auch die Reise nach Innen zur Mutprobe: Beide Frauen erfahren, wie schwer es ist, der anderen ein Zeichen zu geben.
Das Leben ist schön, unerwartet und macht vieles möglich. Leserinnen und Leser, die eine gute Geschichte und meisterhafte Sprache mögen, werden in dieser Erzählung von der Magie der Worte verführt. «Das fünfte Dorf» erkundet psychologisch stimmig, wie Menschen über ihre Gewohnheiten hinauswachsen.
Kostja Kiefholz, 43, resümiert sein Leben: gelungen oder nicht? Das 'junge Talent' des DDR-Bildungssystems bekam Brücken gebaut, er ging nicht drüber. Misstraute den Eltern, misstraut den (inzwischen kapitalistischen) Arbeitgebern. Naiv-zuversichtlich war er mal gestartet. Als Selbständiger und Sinnsucher konnte er's nicht lassen, das 'Schöne, Wahre, Gute' zu ersehnen. Im Chaos des Neuen findet er sich nur schwer zurecht. Als Musiklehrer, Werbetexter, Wissenschaftler verdient er den Lebensunterhalt. Kaum etwas scheint geblieben vom euphorischen Beginn. Tugenden und Werte der Kinderzeit sind längst verramscht. Doch taugt sein Anspruch noch? Träumend, augenwischend, gescheitert – ist nun überholt und ganz vergeblich, was vormals noch wichtig und richtig war? Was zählt im Jahr 22 nach der Wende? Dem Lebenskünstler wider Willen bei seinen Strampelkämpfen zuzusehen, macht Vergnügen, berührt, entsetzt. Es scheint, als müsse Kostja Schiffbruch erleiden, um zu haltbarer Identität zu finden. Er stößt sich an Liebschaften, Kindererziehung, konkurrenzgetriebenen Arbeitsverhältnissen, schlingert zwischen Selbstoptimierung und Selbstsabotage. Das hat, außer dass es als persönliches Desaster schwer zu ertragen ist, auch eine soziale Dimension: Was kann, darf, will Intelligenz? Was bleibt übrig, wenn einer seine Sohnes-, Mitarbeiter-, Bürgerpflichten ebenso abstreift wie Rollenerwartungen an den Liebesfähigen, Verantwortungsbewussten? Das Kippen aus der Jugend ins Älterwerden ist mit «Wendeverlierer in Midlife-Crisis» unzutreffend etikettiert: Hier versucht einer, sich nicht in Einsamkeit zu verlieren. Was die bitterböse Abrechnung des Berufsversagers so komisch macht, ist, wie ernsthaft und systematisch Kiefholz auf Fehlersuche geht. Man muss nicht zwischen 40 und 50 sein: Wer Vorbilder noch nie leiden konnte, findet in diesem Antihelden ein Prachtexemplar. Sein Anrennen gegen die Übermacht der Zwänge macht jede Menge Lust auf Leben. Mehr davon, weiter so!
Kurzgeschichten von Mathilde Schrumpf, entstanden zwischen 2006 und 2019, sind am ehesten als Beschwörungsformeln zu deuten: Beschworen werden Schrecknisse der Kindheit, die auch im Licht erwachsener Einsicht nur wenig vom früheren Horror verloren haben, Missverständnisse ebenso wie spätere amouröse Misserfolge. Sie spuken in der Seele umher, lassen sich kaum besänftigen. Woran sich die Leidenschaften des jungen, des gereiften Menschen entzünden, das sind keine lässlichen Bagatellen, sondern Antrieb und Beweggrund des wilden Herzens, das sich selten Ruhe gönnt. In magischer Weise betreten Akteure die Szenerie verschiedener Jahrhunderte, als gäbe es keinen Abstand der Geschichte. Und doch scheint Phantasie genau zu wissen, was sie tut, wenn sie die Regeln landläufiger Logik außer Kraft setzt. Getrieben von Schmerz (um die Verflossenen) oder bitterer Aggression (Schwiegermutter, Chef) lassen die Protagonisten von Mathilde Schrumpf auch der Leserschaft keine Ruhe: Man zittert, hofft, bangt mit ihnen, die Routinen zum Feindbild erklärt haben und auf ihrem Geburtstagskuchen bestehen. Und manchmal gibt es sie doch, die Liebe. Sie wohnt am zweiten Oktober, braucht zwanzig Minuten im Ofen, schmeckt süß und darf leider nicht sofort aufgegessen werden. «Mein berlinerndes Herz» versammelt die Ruhelosen der Stadt, schenkt ihnen Geschichten für Tag und Nacht.
Vom Aufbäumen und Aufwachsen handelt dieser Band mit Gedichten, zwischen 1992 und 2016 entstanden, die das Alltägliche besonders und das Außergewöhnliche zum Thema des Alltäglichen machen. Wie das zugeht? Der lyrische Sprachklang Mathilde Schrumpfs flüstert und summt, bewahrt Wortschätze. Die Verletzlichkeit, Hellhörigkeit und Klarsicht des Kindes hat diese Autorin nie eintauschen wollen. Das braucht Mut und ist ungewöhnlich in unserer Zeit, die sich mit Vernunft ebenso wappnet wie mit Unvernunft. Die Wahrheit der Dichtung aber liegt darüber: Wenn es gelingt, sie zu erahnen, ist das ein Glück. Bleiben oder Gehen heißt es oft im Lieben. Doch ist der Versuch, Hingabe oder Verschwendung zu dosieren, manchmal vergeblich, sind die Sinne erst einmal geweckt. Den Zauber zwischenmenschlicher Anziehung zu entschlüsseln – das vermag auch Dichtung nicht. Aber sie kann ihn besingen, Verluste beklagen, ihr Recht fordern. Über die Jahre wachsen Selbstvertrauen und Gelassenheit, wo Aufregungen der Jugendzeit oft in Verzweiflung stürzten. Nicht Kühle oder Abstand sind an ihre Stelle getreten, sondern Einsicht in die Wandelbarkeit dessen, was die Dinge uns bedeuten. Was einmal furchtbar wichtig war, schmerzhaft, erscheint nun in milderem Licht: nicht abgetan, doch verheilt. Ein Glücksfall auch, wenn das Unbedingte jugendlichen Wollens sich allmählich entspannt. Mathilde Schrumpf spürt in der Gefühlslandschaft der Kindheit und Jugend die Renitenz auf, die unwiederbringlich verloren schien, doch noch immer funkelt, lockt und sich ins Fäustchen lacht – zwischen Aufbäumen und Aufwachsen.