2017: Die Lobby eines Hotels war wie eine Traumfabrik. Hier trafen sich fröhliche, ausgelassene Menschen, die Pläne schmiedeten, die sich berieten und sich ausmalten, wie es sein würde, wenn sie nach Palma fuhren, durch die großen Rundbögen der La Seu gingen und sich wie erschlagen vorkommen würden, wenn sie die ehrwürdigen, hoch aufragenden Mauern des alten Bischofssitzes sahen. Oder wenn sie darüber fachsimpelten, ob sie es schaffen würden, den Puig Major de Son Torrella zu besteigen, der in fast 1500 Meter Höhe aufragte. Eingebettet von dem Serra de Tramuntana und einer atemberaubenden schönen Landschaft, an der er sich die letzten Male immer gar nicht hatte sattsehen können. Wir uns nicht sattsehen konnten, dachte er mit einem bitteren Beigeschmack und versuchte den in seiner Brust aufsteigenden Seufzer nicht zu laut über seine Lippen kommen zu lassen. Es genügte, wie er fand, dass er die letzten drei Nächte schon nicht gut eingeschlafen war, weil ihm seine düsteren Gedanken nicht in Ruhe ließen und er deshalb aussah wie eine Leiche auf zwei Beinen. Dann sollte seine Trübsinnigkeit ihm wenigstens nicht den Anblick der Hotellobby zerstören. Nicht so, wie sie alles und jeden bisher niedergerungen und erdrückt hatte, was er imstande war, zu fühlen und zu lieben. Er wusste ja selbst, es war albern, wenn er der Vergangenheit nachtrauerte. Immerhin war er ein Teil davon. Die Erinnerung, wie glücklich er einst gewesen war, als sie das erste Mal hierher gekommen waren, war Grund genug, sich zu freuen und sich auf die Schulter zu klopfen. Er hatte es damals geschafft – oder etwa nicht? Louisa hatte sich in ihn verliebt, er hatte sein Abitur bestanden und eine glorreiche, goldene und verheißungsvoll klingende Zukunft hatte sich vor ihm ausgebreitet. Er hatte alles in der Hand gehabt. Glück. Zuversicht …
Nancy war eine von vielen. Eine, die Sebastian schnell wieder vergessen hatte. Eine der Frauen, die ihn sein ganzes Leben lang schon begleiteten. Sie tauchten auf, ähnlich einem Sonnenstrahl, der es schaffte, dunkle Wolken für einen kurzen Augenblick zu vertreiben. Dafür da, um einem das Gefühl zu geben, Wärme genießen zu können. Eine Abwechslung, die man wohlwollend in Kauf nahm. Sebastian tat es … immer wieder. Er liebte es, sich mit jungen attraktiven Frauen zu treffen, sie zu umgarnen und ihnen einen kurzen Blick in das Leben zu gönnen, das sie allein nicht erreichen würden. Ein Leben, das für sie alle Träume in sich trug, die aber sofort drohten zu zerplatzen, wenn sie nicht anfingen, selbst an sich zu arbeiten. Das taten die wenigsten. Zu Sebastians Glück. Sie waren viel zu schnell von seinen charmanten Worten beeindruckt und von dem nach außen getragenen Wohlstand. Er wollte ihnen einen Blick in seine Welt gewähren und sie so hoffen lassen, selbst Teil seines Universums sein zu können. Sie waren so blöd, so leichtgläubig und naiv. Nancy hatte Glück gehabt, dass sie das ganze Pfingstwochenende mit ihm hatte verbringen dürfen. Auch wenn sie ihn bereits nach dem zweiten Abend massiv gelangweilt hatte, hatte er sie trotzdem nicht mit einem fadenscheinigen Argument wieder nach Hause geschickt. Nancy war zu so viel mehr fähig als die anderen Frauen. Sie setzte, zu Sebastians Freude, eigene Ideen im Bett um. Sie hatte sich von ihm nicht den Schneid abkaufen lassen. Jetzt, wo er müden Schrittes in das geräumige Wohnzimmer trat, an dessen Wand ein überdimensionaler Flachbildfernseher hing, sah er sie auf der Couch sitzen. Nichts weiter als ein weißes, langes Hemd über ihrer üppigen Oberweite, das bis hinunter zu ihrem Po reichte und den Ansatz ihrer langen Beine dadurch unterstrich. Sie war äußerst nett anzusehen. Selbst am frühen Morgen umspielten ihre blonden Locken beinahe zärtlich ihr zart geschnittenes und weiches Gesicht, in dem Sebastian ohne philosophisch klingen zu wollen, immer etwas Kindliches erkannte. Sie war ausgesprochen schön, sie hatte weiche, porzellanweiße Haut und dazu einen roten, liebreizenden Mund, dessen Lippen schmal, aber nicht verkniffen waren. Wenn sie lachte, offenbarte sich ihre ganze Schönheit uneingeschränkt. Das Einzige, was ihn an ihr störte, war der oft ins Leere gerichtete Blick. Lukas, sein bester Freund, der gestern Abend kurz vorbeigekommen war, um mit ihm dem sonntäglichen Angelausflug zu besprechen, hatte spaßeshalber gesagt: «Licht ist an! Aber niemand ist zu Hause.» Beide hatten über den Scherz lange gelacht. Laut und ausgiebig. So gehässig und hinterhältig, dass Sebastian seinem besten Freund irgendwann auf die Schulter klopfen und sagte: «Der war gut. Der war wirklich richtig gut!» "So bin ich halt", hatte Lukas abwinkend gesagt und dann der freundlich lächelnden Nancy zu gewinkt, die seinen Gruß freudestrahlend erwiderte. Beinahe so, als freue sie sich darüber, dass man sie wahrnahm. Eben die Naivität war es, die Sebastian – zu seiner Verwunderung – an ihr faszinierte. Nancy wurde dadurch unberechenbar. Er, der immer alles ganz genau plante, sich alles stets zurechtlegte und das Talent besaß, seine ausgedachten Pläne wie Inspirationen aussehen zu lassen, war begeistert und erschrocken zugleich, wenn er Nancy reden hörte. Begeistert deshalb, weil er genau wusste, was sie sich in ihrer beschränkten Denkweise ausmalte. Sie redete von banalen Dingen, als habe sie sich darüber ernsthafte und tiefgehende Gedanken gemacht. Besonders dann, wenn sie mit Frau Hartmann zusammen war, um ihr bei der Dekoration der Räume zu helfen. Erschrocken war Sebastian aus dem gleichen Grund. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass Nancy das meinte, was sie sagte. Zum Beispiel, dass sie ernsthaft in Erwägung zog, nach Florida reisen zu wollen, weil es dort keine Insekten gab.