Vom Kriminellen zum Kriminalisten. Siegfried Schwarz

Читать онлайн.
Название Vom Kriminellen zum Kriminalisten
Автор произведения Siegfried Schwarz
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783958415683



Скачать книгу

wenige Tage später verließ uns mein Vater in Richtung Schkopau. In einem Barackenlager wohnte er jetzt, in dem schon zu Kriegszeiten Arbeitskräfte untergebracht gewesen waren. Dort besuchte ich ihn öfters. Ich erinnere mich, wie ich im Metalldoppelstockbett über ihm schlief. Bei Vater gab es leckeren Kartoffelbrei. Dazu holten wir uns auf nicht ganz legalem Wege Kartoffeln von einem Feld neben den Buna-Werken. Vater kochte sie in einem Aluminiumtopf. Dann briet er Zwiebeln in Rapsöl und vermengte alles zu einem köstlichen Brei.

      Vater arbeitete also ab 1948 in den Buna-Werken, und Mutter verdiente in einer Großwäscherei in Mittweida Geld für unseren Lebensunterhalt. Einmal im Monat trafen sich beide in Leipzig auf dem Hauptbahnhof. Dann übergab Vater das »Stalinpaket« für seine Familie, und Mutter kehrte mit der Bahn wieder heim.

      Mittlerweile kamen wir ganz gut ohne ständiges Stehlen meinerseits zurecht. Außerdem betonte mein Vater, dass er keinen Dieb als Sohn haben wollte, und zeigte dabei auch auf, welche Strafen er für Stehlen als richtig erachtete. All das überzeugte mich, dass ich mich von meiner Gang besser fernhalten und meine kriminelle Karriere aufgeben sollte. Doch da ich außer Stehlen bisher keine Hobbys gehabt hatte, musste ich mir für meine Freizeit etwas Neues suchen. Fußball hielt ich für eine gute Idee. In einer gemischten Kinder- und Jugendfußballmannschaft erprobte ich mein Talent auf dem Rasen. Schon zu Beginn des Jahres 1949 gab ich jedoch meine Fußballkarriere auf.

      II

      Boxen: Start in ein neues Leben · Matrose in Kühlungsborn · Grundausbildung · Boxer statt Matrose · Versetzung nach Wolgast

      In Mittweida gab es eine Boxmannschaft. Einen der Boxer kannte ich näher. Als er mir erzählte, dass nach jedem Kampf im Schützenhaus in Mittweida für die Heim- und Gästemannschaft ein gemeinsames Pferdegulaschessen stattfindet, meldete ich mich beim Boxtrainer. Nun hatte ich etwas gefunden, das mir gefiel. Der Eintritt in die Welt des Boxsports sollte einige Jahre später wichtige Entscheidungen in meinem Leben bewirken. Der Trainer arbeitete mit mir individuell. Schon wenige Wochen nach Beginn meines Trainings durfte ich meinen ersten öffentlichen Kampf in Geringswalde als Fliegengewichtler bestreiten. Ich hatte einundfünfzig Kilogramm Kampfgewicht.

      Im September 1949 war mit der Schule endgültig für mich Schluss. In Erlau, unweit von Mittweida, begann ich eine Lehre als Graugussformer. Die Stelle in der Eisengießerei und Maschinenfabrik Erlau hatte mir ein ehemaliges Mitglied unserer Gang vermittelt. Lange sollte ich dort nicht bleiben.

      Vater hatte in den Buna-Werken Fuß gefasst und konnte gute Arbeitsleistungen vorweisen. Man wollte ihn als Arbeiter behalten. Daher bekam er das Angebot, eine Zweieinhalbzimmerwohnung in Merseburg, etwa sechs Kilometer von Schkopau entfernt, beziehen zu können. Natürlich mit seiner Familie.

      Zur Jahreswende 1950/51 holte uns der Vater nach Merseburg. Graugussformer konnte ich dort nicht weiterlernen. Stattdessen fand ich Platz in der kleinen Abteilung Buntmetallgießerei der Buna-Werke. Doch auch damit hatte ich kein Glück. Nach nur sechs Monaten wurde dieser Betriebsteil stillgelegt. Man schob mich in eine Stahlgießerei in Frankleben, Kreis Merseburg. Wenig später, im September 1951, endete auch dort mein »Gießerei-Kapitel«.

      Nach meinem Umzug nach Merseburg habe ich sofort Kontakt zur Boxmannschaft »Stahl Merseburg« aufgenommen. Die Aufnahme als Mitglied war reine Formsache. Als unsere Boxstaffel die Buna-Werke als Sponsor bekam, reisten wir zu Kämpfen quer durch die DDR. Einmal hatten wir Gäste »aus dem Westen«. Die Boxstaffel aus Essel-Recklinghausen trat gegen uns an. Mein Gegner hieß Auth. Wir führten einen harten Kampf, der mit einem Unentschieden endete. Zur damaligen Zeit war es noch üblich, Vergleichskämpfe mit westdeutschen Mannschaften durchzuführen.

      Ende November 1952, draußen war es frostig, trat mein Boxerfreund Rudi in einer Pause an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, dass er Merseburg verlassen wolle. Die Marine in Kühlungsborn werbe Mitglieder, und er werde bald dorthin gehen, um Matrose zu werden. Darüber hatte er bisher kein Wort verloren. Vielleicht hatte ihm unser Aufenthalt an der Ostsee während eines Trainingslagers so gut gefallen. Wir hatten 1951 mehrere Boxveranstaltungen an den Küstenorten durchgeführt, unter anderem in Kühlungsborn.

      Rudis Idee ließ auch mir jetzt keine Ruhe mehr. Aufs Meer hinausfahren, Matrose sein, Seeluft schnuppern … »Was muss ich machen, damit wir zusammen zur Marine kommen?«, fragte ich ihn unverhohlen und hatte im Stillen schon einen Entschluss gefasst.

      »Du musst dich beim Wehrkreiskommando melden, in Merseburg. Die warten dort nur auf Freiwillige wie dich!« – Gleich in den nächsten Tagen setzte ich meinen Entschluss um und bewarb mich an besagter Stelle. Ohne weitere Fragen nahm man meine Bewerbung an. Dass schon an dieser Stelle ein bürokratischer Fehler begangen wurde, sollte ich zu Beginn des neuen Jahres zu spüren bekommen.

      Am 2. Januar 1953 fuhren wir Freiwilligen mit der Eisenbahn zuerst nach Rostock und danach mit der Kleinbahn nach Kühlungsborn. Mein Reisegepäck bestand lediglich aus meinem Boxkoffer, in dem ein wenig Wechselkleidung verstaut war. In Kühlungsborn-West angekommen, wurden wir in neu errichtete massive Baracken einquartiert. Diese standen nur wenige Meter vom Strand entfernt. Die Dienststellenleitung Volkspolizei-See (VP-See) war in einem Klinkerbau untergebracht. Vor diesem befand sich ein Appellplatz, daran schloss sich ein großer Speisesaal an. Diese Gebäude waren schon in der Nazizeit als Bestandteil militärischer Ausbildung errichtet worden.

      Von Rudi wurde ich gleich nach unserer Ankunft getrennt. Er kam in einen anderen Ausbildungszug. Ein Zug bestand aus dreißig Mann. Damals war es noch üblich, dass alle Männer eines Zuges in einem Schlafsaal, der mit Doppelstockbetten ausgestattet war, untergebracht wurden. In einem zweiten Raum befand sich eine Vielzahl von Schränken. Jedem Matrosen stand eine Schrankhälfte zu.

      Kurz nach unserer Ankunft hatte man unsere Personalien aufgenommen. Später stand uns die Einkleidung bevor. Dazu begaben wir uns zugweise in den Warteraum, wo wir einzeln aufgerufen wurden. Der Warteraum leerte sich. Matrose um Matrose verschwand und kehrte mit einem prall gefüllten Seesack zurück. Nur ich blieb sitzen. Ich wartete. Nachdem auch der neunundzwanzigste Auszubildende mit seinem Seesack an mir vorbei ins Quartier gegangen war, erwartete ich nun endlich meine Matrosenkleidung. Doch statt zur Einkleidung wurde ich zum Kompaniechef gerufen. Der Mann, ein »Omar-Sharif-Typ«, sah mich streng an. Kaum dass ich eingetreten war. In einem klaren Hochdeutsch und frei von jedem Ostseedialekt erklärte er mir, dass ich wieder nach Hause fahren müsse. »Schwarz, schon in Merseburg hat man einen Fehler gemacht! Man hätte Sie nicht als Freiwilligen für die Marine erfassen dürfen. Es hat wohl keiner gemerkt, dass Sie noch nicht volljährig sind. Sie sind am 1. April 1935 geboren und somit erst siebzehn dreiviertel Jahre alt. Vor Vollendung des achtzehnten Lebensjahrs dürfen wir Sie nicht einstellen.«

      Ich war schon zu dieser Zeit niemand, der sich von einem gefassten Entschluss leicht abbringen ließ. Ich muss den Kompaniechef davon überzeugt haben, dass ich nie und nimmer nach Merseburg zurückfahren würde. Jedenfalls lenkte er ein: »Schwarz, eine Möglichkeit sehe ich noch. Wenn Ihre Eltern einverstanden sind, dass Sie als Minderjähriger eingestellt werden, dann ist dieses Problem gelöst. Ihre Eltern müssten dazu beim Wehrkreiskommando in Merseburg eine entsprechende Unterschrift leisten.«

      Mir wurde flau im Magen, denn ich dachte daran, dass meine Mutter ganz und gar nicht mit meinem neuen Lebensweg einverstanden gewesen war. Würde sie gegen ihre Überzeugung einen solchen Antrag unterschreiben?

      Ich weiß nicht, was Vater und Mutter in den folgenden Tagen miteinander ausdiskutierten. Ich weiß nur, dass die entsprechende Unterschrift an meinen Kompaniechef geschickt wurde. Kurz darauf bekam auch ich meine Matrosenkleidung. Damit war ich am 13. Januar 1953 in den Marinedienst übernommen.

      Es folgte eine dreimonatige Grundausbildung. Der Leiter war ein alter Obermaat, der, so wurde gemunkelt, schon unter Adolf Hitler in der Kriegsmarine die jungen Matrosen ausgebildet hatte. Die Art, wie er mit uns Freiwilligen gleich in der ersten Woche umging, verschärfte diesen Verdacht.

      Der Januar dieses Jahres war an der Küste Kühlungsborns eiskalt. Auf gefrorenem Sandstrand ließ er uns robben, in Bauchlage Drehungen auf dem Koppelschloss nach links und rechts vollführen, in Richtung Ufer Intervalle im Laufschritt absolvieren, niederwerfen, aufspringen … Vorwärts, vorwärts!

      Ein