Ring der Narren. Chris Inken Soppa

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Название Ring der Narren
Автор произведения Chris Inken Soppa
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783937881850



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auf. Das Trommeln der Sambagruppe drang lärmend bis zu ihnen hoch, ihre Körper schwangen im Rhythmus mit. Cleopatra riss König Ludwig die Perücke vom Kopf und schrie ihm etwas ins Ohr. Lange Finger zerrten an seiner Samtjacke.

      „Was war das?“, fragte Milton in die erlösende Stille hinein, nachdem die Sambagruppe das Haus trillernd und trommelnd verlassen hatte.

      „Ich wollte dir nur sagen, ich bin HIV-positiv.“

      „Äh.“ Miltons Leidenschaft zerstob mit einem Schlag in graue, herbe Realität.

      „Ich kann es selbst noch gar nicht glauben.“ Cleopatra löste ihre Finger aus seiner Samtjacke, gab ihm die Perücke wieder, zwinkerte ihm Abschied nehmend zu und spazierte gelassen die Treppe hinab.

      Miltons Besuch beim Hausarzt am darauffolgenden Aschermittwoch verlief unbefriedigend. Der Arzt wollte offenbar so schnell wie möglich zu seinem Mediziner-Fischessen. Zwischenfragen von Laien waren da nur Zeitverschwendung.

      „Falls Sie positiv sein sollten, werden wir es Ihnen in der nächsten Woche mitteilen. Sie können ja anrufen.“

      „Und Sie wissen noch gar nichts?“, fragte Milton niedergeschlagen.

      „Wir werden die Blutprobe einschicken. Ich bin doch kein Haruspex.“

      „Wie bitte?“

      „Kein Opferschauer, der aus Blut und Eingeweiden die Zukunft eines Menschen abliest. Obwohl ich mir an jedem Aschermittwoch erneut wünsche, einer zu sein.“

      „Ich habe wohl ein falsches Bild von euch Medizinern.“ Milton stellte sich vor, wie der Herr Doktor mit Skalpell und Schere einen Karpfen sezierte und sich dabei ausmalte, wieviel er im nächsten Jahr an seinen Privatpatienten verdienen würde.

      „Im Labor haben sie nur begrenzt Personal. Besonders in den ersten Tagen der Fastenzeit.“ Mit unbewegtem Gesicht erhob sich der Arzt und öffnete die Tür. „Lassen Sie sich an der Rezeption die Telefonnummer geben!“

      Milton hatte Glück. Er durfte sich durch und durch negativ fühlen. Das Damoklesschwert aber, dessen Spitze tagelang auf sein Leben gezielt hatte, verlieh ihm Misstrauen gegenüber verkleideten Menschen. Als er den Job im Feuerwehrmuseum verlor, wurde ihm klar, dass auch andere Leute stutzig wurden, wenn sich einer mit falschen Klamotten hochstapeln wollte. Kein Wunder, dass die Menschen in Sachen Alltagsgarderobe so kleinmütig waren. In nächtlichen Träumen sah Milton sich in knallenger Ledermontur und wehendem schwarzem Mantel durch die Innenstadt schlendern. Zum Glück wachte er immer auf, bevor er zusammengeschlagen wurde.

      Das teure Erbstück aus den Goldenen Zwanzigern gehörte seinem Kumpel Viktor, den er gelegentlich zum Trinken und Pfeile werfen in die Kneipe begleitete. Viktor war ein Faschingsnarr im besten Sinne. Nur wenige Wochen im Jahr durfte er seinen glänzenden Billardkugelkopf mit Perücken bedecken, ohne dass sich jemand darüber mokierte. Und das kostete er aus, schamlos und mit kindlicher Freude. Es gab kaum eine Nacht in der Fünften Jahreszeit, in der er nicht unter einem bunten Mop aus Plastikhaaren, die seinem Gesicht etwas engelhaft Weiches verliehen, im schwarzen Anzug um die Häuser zog. War Milton bei ihm, seit Cleopatra stets in Zivil, staunte er über Viktors körperliche Wandlungsfähigkeit. An allen restlichen Tagen des Jahres war Viktor ein bulliger Augenoptiker, dessen Kunden stets damit rechnen mussten, dass er handgreiflich wurde und ihnen genau die richtige Brille auf die Nase drückte. Frauen bewunderten seinen künstlerischen Weitblick und seine rüden Verkaufstechniken. Die Männer beklagten die Preise seiner Gestelle und bezahlten sie trotzdem gern. Viktor gab sich nicht mit Schmeicheleien ab. Er nannte schiefe Nasen, asymmetrische Augenbrauen, fehlende Tränenflüssigkeit, miserable Hell-Dunkel-Reaktionen und unterschiedliche Ohrhöhen beim Namen und fand im Nu die passende Lösung. Er galt als glaubwürdig, der Billardkugelkopf war Teil des Programms. Eine Echthaarperücke hätte seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Also blieben Viktor nur die Faschingswochen.

      Dieses Jahr hatte er Milton bedrängt, sich mal wieder auf ein Kostüm einzulassen. Das teure Kleid aus den Zwanzigern brachte er eigens für ihn mit. Es hatte Viktors Großmutter gehört, einer lustorientierten Berlinerin mit Faible für Joachim Ringelnatz.

      „Wenn man das zierlichste Näschen

       Von seiner Braut

       Durch ein Vergrößerungsgläschen

       Näher beschaut

       Dann zeigen sich haarige Berge

       Dass einem graut.“

      So deklamierte Viktor, nachdem er Milton keine Ruhe gelassen hatte, bis dieser das Kleid endlich überstreifte. Im Spiegel sah Milton eine Drag Queen mit Dreitagebart und zartem Gespitzel über der Brust, das nicht recht wusste, ob es flattern oder spannen sollte. Miltons Haare waren in diesem Winter kinnlang und hingen ihm über die linke Gesichtshälfte, was Viktor Anlass zu Sticheleien über den verzweifelten Charme alternder Boy-Band-Boys gab. Milton hob die Schultern, um zu überprüfen, ob ihm das Kleid etwas Spielraum für Bewegungen ließ, die selbst einer lustorientierten Berlinerin aus den Zwanzigern zu gewagt gewesen wären. Er reckte die Arme, spreizte die Beine, rieb sich am Türrahmen und verfiel schließlich auf eine Josephine-Baker-Parodie. Brüllend vor Lachen rammte ihm Viktor seine groben Optikerfinger in die Seite. Das Kleid hielt es aus.

      „Du brauchst noch hohe Schuhe“, riet Viktor, nachdem sich seine Stimmlautstärke wieder normalisiert hatte. „In der Altstadt gibt’s einen Secondhandladen mit Übergrößen.“

      „Und wer soll die besorgen?“ Milton stellte sich eine winzige weißgelockte Verkäuferin vor, die ihm mit ängstlichem Blick einen roten Schuhlöffel brachte, damit er seine Füße in schwarze Pumps Größe 46 zwängen konnte. Doch höchstwahrscheinlich würde sie ihm die Schuhe vorher entreißen, um mit den Absätzen stereo auf ihn einzuschlagen. Pfennigabsätze aus Metall verursachten mit Sicherheit höllische Wunden.

      „Vögel wie du kommen da in der Faschingszeit öfter vorbei.“ Viktor zog einen Elektrostatik-Staublappen aus der Gesäßtasche seiner Jeans und polierte sich den Kopf. Das angenehm Pappige eines solchen Staubwischers vertrage sich prächtig mit der unendlichen Glätte seines Kopfes, hatte er Milton einmal erklärt. Regelrecht süchtig sei er nach dem Kitzel winziger, wenn auch unsichtbarer Härchen, die sich steil aufrichteten, sobald der Lappen nur in ihre Nähe kam. Im Laden begründete Viktor seine Staublappen-Manie mit hygienischen Vorgaben der Gesundheitsbehörde. Überall standen grüne Swiffer-Kartons, aus denen sich Viktor regelmäßig bediente. Seine Mitarbeiter waren inzwischen zu stoisch für weiterführende Gedanken, den Kunden verbot die Höflichkeit, Fragen zu stellen. Manchmal murmelten sie etwas von „seit zehn Tagen Hitze“ oder „diese Kälte lädt doch alles auf“, um Anteilnahme zu signalisieren. Dann begann Viktor in der Regel mit einer längeren Tirade gegen die irren Dilettanten der Stiftung Warentest und ihre unwissenschaftlichen Methoden, elektrostatische Staublappen zu benoten. „Das sind Laien von der Straße, die von Physik keine Ahnung haben. Die nehmen so ein Tuch und wischen damit ein paar Fussel von einer Metallplatte. Und dann sagen sie, das Material trockne ihre Hände aus und geben dem Produkt ein Ausreichend.“ Nach einer Weile vergaßen die Kunden ihr Mitgefühl und hofften ergeben, der Optiker möge sich wieder mit ihren Sehfehlern beschäftigen.

      Lustvoll wischte sich Viktor nun mit dem Lappen auf dem Kopf herum. Milton glaubte förmlich zu hören, wie sich kleine unsichtbare Härchen knisternd reckten. „Ich will kein Aufsehen erregen“, murmelte er.

      Viktor lachte. „Was bist du für ein Pessimist!“

      Den Secondhandshop in der Altstadt kannte Milton von außen. Die Heimatlosigkeit der hilflos hinter der trüben Scheibe hängenden Klamotten war ihm bisher nie aufgefallen. Die Mäntel, Röcke und Hosen schienen die Formen ihrer früheren Besitzer konserviert zu haben. Hier erinnerte ein überstrapazierter Reißverschluss an ungesunde Bauchfülle, dort hing ein schlaffes Etuikleid, das einmal einer magersüchtigen Fünfzehnjährigen mit zu breiten Schultern gehört haben mochte. Die Träger dieser Sachen hatten ein Stück ihrer persönlichen Geschichte hier zurück gelassen.

      Die düstere Stimmung setzte sich drinnen fort. Hinter der Glastür hing ein Windspiel aus bleichen runden Plastikscheiben. Ein schummriger Raum voller fahrbarer