Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3. Rudolf Walther

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Название Aufgreifen, begreifen, angreifen Band 3
Автор произведения Rudolf Walther
Жанр Языкознание
Серия Essay-Reihe
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783944369082



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um Malville. Sie wurden von der französischen Polizei mit äußerster Härte zurückgedrängt. Der Physiklehrer Vital Michalon kam bei diesen Auseinandersetzungen ums Leben, mehrere Demonstranten und Polizisten wurden erheblich verletzt. Der Superphénix lieferte nur während zehn Monaten Strom, kostete etwa 20 Milliarden Franken und wird nun mit großem Aufwand definitiv stillgelegt.

      Die teilweise hysterische Reaktion der Öffentlichkeit auf die möglichen Auswirkungen der Öl- und Benzinpreiskrise erleichterte die »zivile Nuklearisierung der Energieversorgung« (Guillaume Sainteny) und stabilisierte deren bröckelnde Akzeptanz bei den Bürgern. Die Ökologiebewegungen gerieten Ende der 70er Jahre in die Defensive und rieben sich in Fraktionskämpfen auf. André Gorz warnte die Ökologiebewegungen vor dem »Eindimensionalwerden« als Parteien, die »nicht mehr Protest, Revolte und Unzufriedenheit jeglicher Art politisch übersetzen«, sondern nur noch »die Staatsmacht« bzw. Regierungsbeteiligung im Auge haben. Gorz’ Absage an vermeintliche Real- und die Parteipolitik überhaupt war kein Ausdruck von »Apolitismus, sondern die Weigerung, die Freiheit des Ausdrucks, des Protests und der Phantasie den Erfordernissen der Machtlogik unterzuordnen.«

       6 Volksfront in Frankreich (1936/37)

      Die Wahlkämpfer in Hessen und Hamburg belebten alte Gespenster und Kampfbegriffe: »Linksfront«, »Volksfront«, »Einheitsfront« und »Linksblock«. Was sie damit meinten, blieb unklar. Das war schon einmal so. Mitte der 70er Jahre fühlten sich Christdemokraten von Strauss und Dregger bis zu Kohl von »Volksfronten« eingekesselt. »Volksfronten«? Jede sah anders aus. Oder was verbindet den »historischen Kompromiss«, den italienische Christdemokraten und Kommunisten planten, mit dem »gemeinsamen Programm« von Sozialisten und Kommunisten in Frankreich? Und worin glich die etwas ältere Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur »Einheitsfront« bzw. zur »Sozialistischen Einheitspartei« in der DDR mit dem Vorhaben in Spanien, nach Francos Tod ein Bündnis von den Kommunisten bis zu den Monarchisten zusammenzubringen? Ins rhetorische Wahlkampfreservoir passen die Krawallwörter »Front«, »Volk«, »Block« und »Links«, die das Publikum abschrecken sollen wie Vogelscheuchen auf dem Acker die Vögel.

      Die Allensbacher Demoskopen haben 1976, als das Volksfront-Gespenst herumgeisterte, das Publikum befragt, was »Volksfront« bedeute. Sie bekamen eigenwillige Antworten: Fast ein Drittel wusste mit dem Wort gar nichts anzufangen. Fünf Prozent verwechselten es mit Hitlers »Volkssturm«, sechs Prozent hielten es für eine militärische Taktik und drei Prozent für etwas Ähnliches wie die Ernteschlacht an der Kartoffelfront in der DDR.

      Ebenfalls 1976 diskutierten linke Intellektuelle im »Kursbuch« Nummer 46 über die Aussichten von Volksfronten. In einem täuschten sie sich nicht: Der Ausdruck »Volksfront« (französisch »Front populaire«) ist so schillernd und situationsabhängig, dass er gar nicht verallgemeinerungsfähig ist. Entweder der Begriff verkleidet bloße Parteiinteressen als »Volksinteressen« oder er versucht, »die nationalen Unterschiede zugunsten einer übergreifenden Strategie hinwegzurationalisieren« (Harald Wieser/Rainer Traub).

      Wenn es auch keine Theorie »der« Volksfront geben kann, weil die Unterschiede viel größer sind als formale Ähnlichkeiten, so regierte in Frankreich in den dreißiger Jahren doch für kurze Zeit die Volksfront, d. h. eine Dreierkoalition aus Kommunisten, Sozialisten und Radikalsozialisten, wobei diese weder radikal noch sozialistisch waren, sondern bürgerlich in der jakobinisch-republikanischen Tradition. Und die »Radikalen« waren keine Partei, sondern ein locker organisierter Honoratiorenverein.

      Weder der Beginn der französischen Volksfront noch deren Ende sind eindeutig zu datieren, denn so langsam, wie man ab 1934 in sie hineinschlidderte, so sachte entschlief sie 1938. Die Regierungszeit der Volksfront dauerte gut ein Jahr vom 4.6.1936 bis zum 21.6.1937.

      Sie ist ein Produkt der Weltwirtschaftskrise von 1929. Wie alle Volkswirtschaften wurde auch die französische hart getroffen. Aber im Unterschied zu den USA, wo Franklin D. Roosevelt die Reformpolitik des »New Deal« einführte, und auch im Unterschied zu England, wo die Regierung von James Ramsay MacDonald – mit Sondervollmachten ausgestattet – Land und Wirtschaft sanierte, fand die in Frankreich seit 1926 regierende »Union nationale« keinen Ausweg aus der Krise. Diese Koalition aus Republikanern, gemäßigten Rechten und Radikalen verlor bei den Wahlen 1932 ihre Mehrheit. In dem Maße wie die Honoratiorenparteien ohne Rückhalt im Volk an Ansehen verloren, bekamen die rechtsradikalen Bünde und Ligen (»Action Française«, »Croix de feu«, »Jeunesses patriotes«, »Solidarité française«) enormen Zulauf.

      Im Dezember 1933 wurden eine Finanzaffäre und die wahrscheinliche Verwicklung von Politikern darin ruchbar. Der hauptbeschuldigte Finanzjongleur Alexandre Stavisky kam unter ungeklärten Umständen ums Leben. Als der mit Stavisky befreundete Polizeipräsident entlassen wurde, zogen am 6.2.1934 bewaffnete Rechtsradikale auf die Place de la Concorde und lieferten sich eine Schießerei mit der Polizei. Kompliziert wurde die Lage, dass neben den die »Marseillaise« singenden rechten Kampfbünden am gleichen Ort auch Kommunisten »gegen faschistische Verbände, gegen die Regierung und gegen die Sozialdemokratie« – so der Aufruf der KPF – demonstrierten und die »Internationale« sangen, wie Daniel Guérin (1904-1988) als Augenzeuge berichtet. Am Morgen danach waren 15 Menschen tot und über tausend verletzt. Bei einer Demonstration der KPF am 9.2. kamen weitere neun Menschen ums Leben.

      Das Land taumelte zwischen faschistischer Machtergreifung und Bürgerkrieg. Unter dem Druck der Ereignisse folgten am 12.9.1934 erstmals über eine Million Sozialisten und Kommunisten einem Aufruf des sozialistischen Gewerkschaftsverbandes CGT (Confédération Générale du Travail) zum Protestmarsch gegen die faschistische Gefahr. Aber es dauerte noch Monate, bis die KPF von ihrem Dogma »Klasse gegen Klasse« abrückte, sich also von der politisch verheerend wirkenden Gleichsetzung von Sozialdemokraten, Demokraten und Faschisten verabschiedete. Den Anstoß dazu gab ein Prawda-Artikel von Ende Mai, der die Einheitsfront von Demokraten und Kommunisten gegen Faschisten als den Frieden sichernde Strategie empfahl. Am 27.7. vereinbarten Sozialisten und Kommunisten einen Pakt zur Aktionseinheit, und weitere drei Monate später sprach Maurice Thorez – der Generalsekretär der KPF – von der »Einheitsfront für Arbeit, Freiheit und Frieden«.

      Für die Organisation einer gemeinsamen Demonstration am Nationalfeiertag des 14.7.1935 bildeten Kommunisten und Sozialisten das »Comité national du rassemblement populaire«, worauf sich in der Presse die Kurzform »Front populaire« durchsetzte. In einer feierlichen Schlusszeremonie deklamierten Sozialisten und Kommunisten im Chor: »Wir schwören, zur Verteidigung der Demokratie, zur Entwaffnung der faschistischen Ligen, zur Sicherung unserer Freiheiten vor dem Faschismus vereint zu bleiben.«

      Der Wandel kam nicht zufällig. In Moskau rückte die »Kommunistische Internationale« von ihrer ebenso absurden wie aussichtlosen Politik ab, keinen Unterschied zu machen zwischen Faschisten, Sozialdemokraten und Demokraten. Stalins Kurswechsel beruhte auf der Einsicht, dass in ganz Europa eine faschistische Gefahr drohte sowie auf dem Interesse der sowjetischen Außenpolitik, Frankreich in ein Bündnis gegen Hitler einzubinden. Das gelang im Mai 1935 mit einem formellen Pakt, der obendrein die KPF über Nacht mit der nationalen Verteidigung und mit der Aufrüstung versöhnte.

      Die nicht weniger als neun französischen Regierungen in fast identischer konservativ-rechtsliberal-republikanischer Zusammensetzung zwischen Juni 1932 und Juni 1935 scheiterten alle daran, die wirtschaftlichen Krisen zu überwinden. Das änderte sich auch nicht mit dem Kabinett des Radikalen Pierre Laval (1883-1945), der ein paar Jahre später im Vichy-Regime mit Hitler kollaborierte. Laval begann am 16.6.1935 mit »décrets-lois« zu regieren, also mit Regierungserlassen, die – am Parlament vorbei – Gesetzeskraft erhielten wie die »Notverordnungen« von Brüning/Hindenburg in Deutschland. Mit mehreren Hundert solcher Dekrete verfügte Laval Lohnsenkungen, Tarifreduktionen und Höchstpreise. Die Massenkaufkraft sank drastisch, die Arbeitslosigkeit blieb. Mit der Ausschaltung des Parlaments wurde die Krise politisch verschärft und der Abstand zu den diktatorischen Regimes in Italien und Deutschland verringert.

      Als Laval auch noch Mussolini Konzessionen machte, obwohl dieser im Oktober 1935 gerade völkerrechtswidrig Äthiopien überfallen hatte, verließen die gemäßigten Radikalen die Regierung. Im Januar 1936 traten sie der Volksfront von Sozialisten und Kommunisten bei und verabredeten mit diesen ein Aktionsprogramm bzw. einen