Karlchen. Thomas Matiszik

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Название Karlchen
Автор произведения Thomas Matiszik
Жанр Языкознание
Серия Kommissar Modrich
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783942672481



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      Peer Modrich hatte richtig beschissen geschlafen. Wahrscheinlich war es wieder mal eine Kombination aus zu viel Dosenbier, einem halben Dutzend selbstgedrehter Zigaretten und dem Vollmond. Wenn das jemals rauskommen sollte, würden die Kollegen auf seinem Revier noch mehr Gründe haben, ihm dumme Sprüche zu schieben. Aber es stimmte: Modrich war in Sachen Schlaf kein typischer Kerl. Er konnte sich, im Vergleich zu vielen seiner Kollegen und Freunde, nicht einfach so ins Bett legen und bereits nach Sekunden in den Schnarchmodus umschalten. Zu oft zog der Tag noch mal an seinem inneren Auge vorbei und brachte ihm Bilder zurück, die er zum Einschlafen nicht brauchen konnte. Und wenn dann noch der Vollmond in sein Zimmer schien, ging gar nichts mehr. Deshalb versuchte Modrich es regelmäßig mit einer moderaten Alkohol- und Nikotindröhnung. Hansa-Pils aus Dosen war da vielleicht nicht das ideale Schlafgetränk, aber der Kiosk um die Ecke hatte um kurz nach Mitternacht einfach keine Alternative parat. Modrich wusste in dem Moment, als er das erste Bier ansetzte, bereits, dass er am kommenden Morgen einen amtlichen Kater haben würde. „Morbus Meulengracht“ war der Grund dafür. Sein Hausarzt hatte bei einer Routinekontrolle festgestellt, dass einer seiner Leberwerte nicht korrekt war. „Aber seien Sie beruhigt“, hatte er weiter ausgeführt, „dieser Wert ist nicht lebenswichtig. Im Gegenteil: Menschen mit dieser Krankheit werden zwangsläufig nicht mehr soviel trinken und rauchen, weil ihre Leber die Giftstoffe einfach nicht so abbaut wie bei normalen Menschen.“ Modrich wusste seitdem, dass er entweder nach zwei Bier und drei Zigaretten mit einem Megakater aufwachen würde oder sich vor dem Zubettgehen eine Ibuprofen einwerfen musste, um am nächsten Morgen keine Nachwehen zu verspüren. Tabletten waren aus, darum fühlte er sich jetzt wie ausgekotzt, als sein Telefon läutete. „Meike Ressler.“ Modrich spürte, wie sich sein Magen umdrehte, und erbrach sich auf dem Wohnzimmerteppich. „Modrich, alles in Ordnung?“ „Jetzt wieder“, röchelte er in den Hörer. „Kann ich dich gleich zurückrufen? Ich müsste hier mal eben … sauber machen.“ „Karl ist wieder aktiv! Ich weiß nicht, wie viel Zeit uns noch bleibt, ihn und sein neues Opfer aufzuspüren, aber nach dem letzten Telefonat mit ihm würde ich meinen, dass in diesem Moment irgendwo da draußen ein Mädchen elementare Probleme hat.“ Modrich legte auf.

      Zwei Stunden später traf sich Modrich mit Meike Ressler bei Amalfi, seinem Stammitaliener. Seltsamerweise überkam ihn, nachdem sich sein Magen einmal auf links gedreht hatte, ein übermächtiges Hungergefühl, sodass er bei Costa, seinem Lieblingskellner, seine übliche Ration Penne Bolognese bestellte. „Einen guten Italiener erkennt man nicht an seinem Ambiente“, erklärte er Meike, „sondern an den Basics. Wenn die Pizza Funghi und die Penne Bolognese nicht schmecken, taugt der ganze Italiener nix.“ Meike schmunzelte: „Ich werde das Gefühl nicht los, dass du letzte Nacht zu viel getrunken hast.“ Meike und Peer hatten sich in den Sommerferien kennengelernt. Das diakonische Werk in Oer-Erkenschwick bot in jenem Sommer Jugendfreizeiten für drei verschiedene Altersgruppen an. In dem Jahr, als Peer und Meike sich zum ersten Mal begegneten, ging es nach Wagrain in Österreich. Peer war in der jüngsten Gruppe, Meike in der ältesten. Trotz seiner zarten elf Jahre hatte Peer erstaunlicherweise bereits einen gewissen Schlag bei heranwachsenden Frauen. Meike hatte jedenfalls einigermaßen überrascht beobachtet, wie Peer abends am Lagerfeuer, während das Stockbrot gegrillt wurde, mit seiner Betreuerin Iris Händchen hielt. Immerhin war sie sechs Jahre älter und sah auch so aus. „Was ist eigentlich aus Iris geworden?“ Modrich blickte äußerst sparsam aus der Wäsche, hatte er mit dieser Frage offenbar nicht gerechnet. „Du meinst die Betreuerin aus der Freizeit? Oh Mann, das ist ja ewig her. Wir haben uns noch ein paar Mal Briefe geschrieben. Irgendwann hat sie dann wohl einen Gleichaltrigen gefunden, mit dem sie … na ja, du weißt schon. Ich war damals ja erst elf. Da klappte es zwar in der Theorie, aber noch längst nicht in der Praxis.“ Jetzt mussten sie beide lachen, was offenbar Meikes Appetit anregte. Sie bestellte sich bei Costa Bruschetta als Vorspeise und eine große Pizza mit Meeresfrüchten. „Karl hat mich gestern angerufen und mir erzählt, dass er wieder ‚aktiv‘ ist. Ich wollte dich direkt darüber informieren, aber auf deiner Durchwahl sprang nur die Mailbox an. Wir hatten damals, bevor er in die Psychiatrie ging, vereinbart, dass er mich immer auf dem Laufenden hält, sobald er Veränderungen an sich bemerkt. Diesmal ist es anders …“ Meike blickte Peer ernst an. „Er hat offenbar wieder Spaß daran gefunden. Bislang regulierten die Medikamente seinen nicht zu kontrollierenden Trieb. Ich vermute, er hat sie eigenständig abgesetzt.“

      Augenblicklich blieb Peer die Pasta im Halse stecken. Ohne Medikation waren Triebtäter unberechenbar. Die normalen Muster und Profile konnte man getrost ad acta legen und nach jedem Fall neue Verhaltensauffälligkeiten konstatieren. Bei Karl Ressler kamen ein IQ von 146 und oscarreife schauspielerische Fähigkeiten hinzu. Einmal, als sie gemeinsam schwimmen waren, hatte Karlchen es tatsächlich geschafft, dass alle, einschließlich des herbeigeeilten Sanitäters, glaubten, er sei ertrunken. Knapp vier Minuten nach seinem Kopfsprung vom Dreimeterbrett war er immer noch nicht wieder aufgetaucht. Zwei DLRG-Bademeister bargen ihn vom Grund des fünf Meter tiefen Springerbeckens und legten ihn rücklings auf die Wiese. Er gab keinen Piep mehr von sich, auch nicht nach Wiederbelebungsmaßnahmen durch die Bademeister und die Sanitäter. Erst als Uschi, Karls damaliger Schwarm aus der 9. Klasse, ihn per Mund-zu-Mund-Beatmung ein letztes Mal zu reanimieren versuchte, prustete er plötzlich literweise Wasser in Uschis Gesicht, die sich in der Situation natürlich erst einmal unbändig freute, jemandem vermeintlich das Leben gerettet zu haben. Dass Karl all das geplant hatte, um sie zwei Tage später ins Kino einzuladen, ahnte natürlich niemand – am allerwenigsten Uschi.

      „Was ist passiert, Meike? Warum ändert er sein Profil so drastisch? Es muss etwas Einschneidendes in seinem Leben vorgefallen sein!“ Meike blickte ins Leere. „Unsere Mutter ist letztes Jahr gestorben. Ich als Psychotante habe mich natürlich gefragt, welchen Einfluss dieses Ereignis auf ihn haben könnte, zumal er zum Zeitpunkt ihres Todes noch einsaß und auch die letzten Wochen, in denen sie wegen ihrer Krankheit sehr gelitten hat, nicht mitverfolgen konnte. Insofern glaube ich eigentlich nicht, dass die Krebserkrankung unserer Mutter etwas mit dem gesteigerten Tötungstrieb meines Bruders zu tun hat. Aber man weiß ja nie.“

      Ein Rosenverkäufer stand plötzlich debil lächelnd an ihrem Tisch. Peer legte zehn Euro auf den Tisch und bekam dafür vier rote Rosen, die er Meike, seltsam feierlich dreinblickend, überreichte. „Womit hab ich das nun verdient?“, fragte Meike ihn. „Bleibt uns die Zeit, bei mir zu Hause auf die alten Zeiten anzustoßen und meine alte 80er-Jahre-Hairspray-Metal-CD-Sammlung durchzuhören?“ Er hatte bewusst nicht ‚gute alte Zeiten‘ gesagt.

      Zwanzig Minuten später standen die Rosen in einer IKEA-Vase, Peer und Meike hatten zwei Gläser Tempranillo gekippt und tanzten Klammerblues zu „Always“ von Bon Jovi.

      Wie wird ein Mensch zu einem Monster? Was bringt jemanden dazu, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen, sie so lange zu quälen, bis sie ihren letzten Widerstand aufgeben und froh sind, endlich sterben zu dürfen? Die Sat-1-Doku mit dem reißerischen Titel „Die Bestie in mir“ betrieb Ursachenforschung, stellte Fragen an sogenannte Experten. Verhaltenspsychologen, Profiler und Neurologen standen Rede und Antwort und versuchten, Licht ins Dunkel zu bringen. War Charles Manson bereits als Baby böse? Karl Ressler hatte eine Schüssel Barbecue-Nachos und ein Weizenbier vor sich und schmunzelte. Den letzten Schrei von Silke hatte er vor gut zwei Stunden gehört. Entweder war sie vor Erschöpfung eingeschlafen oder die Messer hatten ihr bereits den Rest gegeben, wobei er eigentlich die Anordnung so konzipiert hatte, dass es noch Stunden dauern musste, bis sie den entscheidenden Stoß verabreicht bekommen sollte. Nun, er musste ohnehin zur Toilette, da konnte er ja auch mal einen Blick in sein Spielzimmer werfen.

      Karl legte fast zärtlich ein Ohr an die Tür und lauschte. „How deep is your love?“ klang es aus dem Raum, Karl musste sich ein paar Tränen verdrücken. Dieser Song hatte eine fast magische Wirkung auf ihn. Als Take That sich an „How Deep Is Your Love?“ vergingen, war Karls Wut so groß, dass er eines Nachts bei „Jellineks Record Store“, dem größten CD-Händler im Kreis Unna, einbrach und sämtliche Take-That-Alben kurz und klein schlug.

      Silke lag flach atmend auf dem Bett. In ihrer linken Wade steckte immer noch das erste Messer, die Wunde um die Einstichstelle herum sah mittlerweile entsetzlich aus. Immer wieder trat frisches Blut