Amerika Saga. Frederik Hetmann

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Название Amerika Saga
Автор произведения Frederik Hetmann
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862870868



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so fragte ich wieder verwundert, »macht dieser Mann denn nirgends Rast? Spricht er nie mit jemandem? Ich bin ihm schon einmal vor drei Jahren in der Nähe von Providence begegnet und hörte schon damals allerlei seltsame Geschichten über ihn. Bitte mein Herr, sagen Sie mir, was sie von ihm wissen.«

      »Sir«, antwortete der Mann, »wer über diesen Fall etwas weiß, der schweigt … aus Respekt. Ich kann Ihnen nur soviel sagen: Auf diesem Mann ruht ein Fluch des Himmels. Ich bedauere ihn.«

      »Sie sprechen sehr verständnisvoll«, sagte ich, »aber wenn Sie ihn schon so lange kennen, so sagen Sie mir doch bitte wenigstens, ob sich sein Aussehen in all den Jahren verändert hat?«

      »Nun ja. Er sieht verhungert aus, und sein Kind sieht fast älter aus als er selbst. Man könnte auch sagen, er sieht aus wie ein Stück Ewigkeit oder als ob es ihn sehr nach einem ruhigen Ort verlange, wo er sein müdes Haupt zur ruhe betten kann.«

      »Und wie sieht sein Pferd aus?«

      »Es ist besser in Schuss. Es wirkt lustiger und zeigt mehr Feuer und Lebhaftigkeit als vor zwanzig Jahren. Das letzte Mal, als ich mit Rugg sprach, fragte er mich, wie weit es nach Boston sei. Ich antwortete ihm, es seien genau hundert Meilen. ›Ach‹, antwortete er mir, ›warum lügen Sie? Es ist grausam, einen Reisenden hinter das Licht zu führen. Bitte sagen Sie mir den nächsten Weg nach Boston!‹

      Ich wiederholte, es seien hundert Meilen. ›Wie kann das sein‹, sagte er? Ich habe gestern Abend gefragt, und da waren es nur fünfzig Meilen. Ich bin die ganze Nacht gereist, und nun sollen es hundert sein?« – ›Ja‹, sagte ich, ›Sie sind in die falsche Richtung gereist. Sie müssen umkehren.‹ – ›Ach‹, sagte er, ›immer umkehren. Boston fährt um wie der Wind. Mal liegt es hier und mal dort auf dem Kompass. Einer sagt mir, es liege im Osten, ein anderer sagt mir, es liege im Westen, und selbst die Wegweiser sind alle falsch.‹ – ›Aber wollen sie nicht rasten‹, fragte ich ihn, ›Sie müssen doch müde sein, und durchnässt sind sie auch!‹ – ›Ja‹, sagte er, ›seitdem ich von zu Hause fort bin, war immer schlechtes Wetter.‹ – ›Dann warten Sie doch, und ruhen Sie sich aus‹ – ›Ich kann nicht. Ich muss noch vor Einbruch der Nacht daheim sein. Ich bin sicher, Sie irren sich, wenn Sie sagen, es sind noch hundert Meilen.‹ Dann gab er seinem Pferd die Zügel und war im Augenblick verschwunden.«

      »Ist Peter Rugg sein richtiger Name oder hat er ihn nur angenommen?«, fragte ich.

      »Ich glaube, es ist sein richtiger Name. Warum sollte er seinen wahren Namen verleugnen? Wenn Sie ihn das nächste Mal sehen, können Sie ihn ja fragen.«

      Und nun geschah das Allerunheimlichste. Ich drehte mich um, und was sah ich? Über die Straße fuhr ein Wagen, gezogen von einem schwarzen Pferd, und er wäre wohl eilig weitergefahren, hätte ich nicht mich ihm in den Weg gestellt und gesagt:

      »Sir, darf ich Sie ansprechen! Ich glaube, Ihr Name ist Peter Rugg. Wir sind uns schon mehrere Male begegnet, und gerade habe ich mich mit einem anderen Herren über Sie unterhalten … und nun kommen Sie plötzlich selbst daher.«

      »Mein Name ist Peter Rugg«, antwortete der Mann auf seinem Wagen geistesabwesend, »ich habe mich verirrt. Ich bin müde und meine Kleider sind durchnässt. Würden Sie die Freundlichkeit haben, mir zu sagen, wie ich auf dem schnellsten weg nach Boston komme?«

      »Wohnen Sie in Boston? In welcher Straße, bitte?«

      »In der Middle Street«

      »Wie lange sind Sie schon aus Boston fort?«

      »Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Jedenfalls ist es lange her.«

      »Aber wie kommt es, dass Sie und das Kind ganz nasse Kleider haben? Es hat hier den ganzen Tag keinen Tropfen geregnet!«

      »Aber flussaufwärts regnet es stark. Jetzt muss ich weiter. Wenn ich mich noch länger aufhalten lasse, komme ich heute nicht mehr nach Boston. Was würden Sie mir raten … soll ich die alte Straße fahren oder die Chaussee?«

      »Nun, über die alte Straße sind es 117 Meilen, auf der Chaussee aber nur 97.«

      »Das stimmt nicht. Ich weiß genau, es sind nur 40 Meilen von Newburyport nach Boston.«

      »Aber wir sind hier nicht in Newburyport, sondern in Hartford.«

      »Lügen Sie nicht. Dies hier ist Newburyport, und der Fluss, dem ich gefolgt bin, ist der Merrimac.«

      »Keineswegs. Wir sind in Hartford, und der Fluss hier ist der Connecticut.«

      Er sah mich ungläubig an und sagte dann:

      »Nun verändert man auch noch den Lauf der Flüsse. Die Städte stehen schon längst nicht mehr, wo sie einst gestanden haben. Aber sehen Sie doch, im Süden ziehen Wolken auf. Wir werden heute Nacht Regen bekommen. Ach, dieser furchtbare Eid.«

      Es hielt ihn nicht länger. Er trieb das schwarze Pferd an, und im Hui war er davon.

      Es wird verständlich erscheinen, dass mich nun das Geheimnis des Peter Rugg nicht mehr losließ. Bei meinem nächsten Besuch in Boston beschloss ich, weitere Erkundigungen einzuziehen. Mrs. Croft, eine alte Dame, die in der Middle Street wohnt, erzählte mir:

      »Im letzten Sommer hielt gegen Abend vor der Tür der verstorbenen Mrs. Rugg ein Wagen, der von einem schwarzen Pferd gezogen wurde. Auf dem Bock saß ein Fremder, der ein Kind bei sich hatte. Der Fremde fragte mich nach Mrs. Rugg, und ich sagte ihm, diese Dame sei vor zwanzig Jahren gestorben. Der Fremde entgegnete, das sei nicht möglich. Ich solle ihn nicht täuschen und Mrs. Rugg herausrufen. Ich versicherte ihm noch einmal, dass Mrs. Rugg nun an die neunzehn Jahre tot sei und in diesem Haus niemand außer mir selbst lebe. Der Fremde schwieg eine Weile, sah sich um und meinte dann, es habe sich in der Straße manches verändert, aber dies sei das Haus, das er suche. Dann fragte er mich, ob ein gewisser John Foy von See zurückgekommen sei. Das sei ein Verwandter, der vielleicht sagen könne, was aus Mrs. Rugg geworden sei. Ich fragte den Fremden, wo denn dieser Mr. Foy wohne, und er nannte mir den Namen einer Straße, die es überhaupt nicht gibt. Wir redeten dann noch eine Weile und immer wieder nannte der Fremde Namen von Straßen und Plätzen, die ich nie zuvor gehört hatte. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, wurde er ganz verwirrt, dachte einen Augenblick nach und sagte dann, er müsse sich wohl getäuscht haben. Dies sei gar nicht die Stadt Boston. Er murmelte dann noch etwas wie ›wieder keine Ruhe heute Nacht‹ und fuhr davon.«

      Das war alles, was Mrs. Croft wusste, aber sie verwies mich an einen älteren Mann, der Mr. James Feit hieß. Er wohnte nur ein paar Häuser entfernt und war dafür bekannt, sich an alle Ereignisse, die in den letzten fünfzig Jahren in der Nachbarschaft passiert waren, genau erinnern zu können.

      Mr. Feit erzählte mir, er habe Rugg in seiner Jugend gekannt, ja, und sein Verschwinden damals habe einiges Aufsehen erregt, aber schließlich sei es auch wiederum nicht so ungewöhnlich, dass Männer einfach weglaufen. Entweder, weil sie mit sich selbst nicht zu Rande kommen, oder aber, weil sie mit irgendeinem anderen Menschen nicht länger zusammenleben wollen, manchmal auch, weil sie Schulden haben. Aber Rugg habe ja sein Kind mitgenommen, sein eigenes Pferd und einen breiten Stuhl, auch könne nicht die Rede davon sein, dass er etwa von seinen Gläubigern bedrängt worden sei.

      »Ja«, sagte Mr. Feit, »das. ist schon recht sonderbar. Aber wissen Sie, zu meinen Zeiten passierten noch ganz andere Dinge, ohne dass man je in der Zeitung ein Wort darüber gelesen hätte.«

      »Mein Herr«, sagte ich erregt, »Peter Rugg lebt. Ich habe ihn selbst mit Pferd, Stuhl, Kind und Wagen gesehen. Deshalb bitte ich Sie, mir alles zu erzählen,was Sie wissen.«

      »Nun, mein Freund«, sagte James Feit, »dass Peter Rugg noch lebt, will ich nicht leugnen, aber dass Sie Peter Rugg, mit seinem Kind zusammen gesehen haben, halte ich für ausgeschlossen, wenn Sie dabei an ein kleines Kind denken. Denn: Jenny Rugg, lassen Sie mich nachdenken ... nun, sie wird damals etwa zehn Jahre alt gewesen sein. Wenn sie heute noch lebte, wäre sie sechzig. Peter Rugg aber wäre dann neunzig. Er war zehn Jahre jünger als ich.«

      Mehr wusste nun auch der gute Mr. Feit nicht zu sagen. Ich verabschiedete