Название | Ich habe sieben Leben |
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Автор произведения | Frederik Hetmann |
Жанр | Книги для детей: прочее |
Серия | |
Издательство | Книги для детей: прочее |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870677 |
Um die einsamen Häuser haben die Menschen Wäldchen von Eukalyptusbäumen gepflanzt, damit etwas Schatten die Wucht des Himmels, der so unerhört hoch und leer wirkt, dämpft.
Ernesto verdient sein Reisegeld als Gelegenheitsarbeiter. Er kommt auf die Estancias, deren Produkte den Reichtum der Oligarquia in diesem Land begründen: Rinderherden, Weizen, Mais. Er sieht Güter, auf denen es noch kein elektrisches Licht gibt, die kein Telefonkabel mit der Außenweit verbindet. Kleine Staaten für sich! Die Verwalter sind Vizekönige. Die Könige wohnen in Buenos Aires und lassen sich hier draußen höchstens einmal im Jahr sehen, wenn die Erträge gar zu augenfällig zurückgehen.
Ernesto sitzt mit den Peones, den Landarbeitern, zusammen, die in winzigen Schuppen untergebracht sind und siebzig Euro im Monat verdienen. Ihre Familien dürfen nicht mit ihnen zusammen wohnen. Sie bleiben im Baldio der nächsten Stadt, hausen in Wellblechhütten und Erdlöchern, in denen es manchmal noch schlimmer aussieht, als in den Quartieren der Peones zur Erntezeit.
Er hört von den Zuständen in den Kohlengruben der Provinz Jujury. Dort zieht man den Arbeitern die Zeit vom Lohn ab, die sie auf der Latrine verbringen. Keine Luftfilter in den Schächten. Mit 30, 35 Jahren hat der Staub den Männern die Lungen zerfressen. Sie schuften, bis sie tot zusammenbrechen. Sie wissen, wenn sie nicht mehr sind, erhalten ihre Angehörigen noch den Lohn für die laufende Woche, aber keinen Peso mehr. Bettelnd ziehen die Frauen und Kinder dann durchs Land.
Die Zuckerrohrplantagen beschäftigen hauptsächlich Indios. Jeder dritte von ihnen hat Tuberkulose und kaum einer kann lesen oder schreiben. Der Plantagenverwalter hat erklärt: »Um ein guter Zuckerrohrschneider zu sein, braucht man nicht lesen zu können.«
Ernesto müht sich damit ab, einer Gruppe von Indios, die als Wanderarbeiter herumziehen, Zahlen beizubringen, damit sie bei der Lohnabrechnung nicht übers Ohr gehauen werden. Als er am nächsten Morgen aufwacht, liegt er unter freiem Himmel. Sie haben ihm sein Zelt gestohlen und sind auf und davon. Er ist enttäuscht. Wenn sie mich darum gebeten hätten, ich hätte es ihnen geschenkt! Gleich darauf entschuldigt er sie: »Für sie bin ich jemand aus einer anderen Welt.«
Als er von seiner Reise zurückkehrt, sitzt der Onkel nicht mehr im Café »Bolo« beim Mate, vor sich einen Stoß Blätter, die er mit einem Aschenbecher zu beschweren pflegte. Jemand aus der Verwandtschaft hat ihm eine Anstellung als Korrespondent bei einer großen Export-Import-Firma in Buenos Aires verschafft.
Man hat ihn versorgt. Wer wird jetzt die Geschichten aus dem Spanischen Bürgerkrieg aufschreiben?
Die Lehrer in der Oberschule urteilen über Ernesto:
»Er nutzt jede Gelegenheit, um die katholische Kirche anzugreifen, hat marxistische Ideen und ist der Anführer der Linken in der Klasse.«
»Er ist ein hervorragender Schüler. Er sieht älter aus, benimmt sich älter, als er ist. Eine ausgeprägte Persönlichkeit, aber launisch und undiszipliniert: Ernesto setzt sich Ziele, die seine Möglichkeiten weit übersteigen.« Als sich die Mutter wegen einer krebsartigen Wucherung an der Brust einer Operation unterziehen muss, richtet er sich ein Amateurlaboratorium ein und beginnt mit Experimenten an Meerschweinchen in der verrückten Hoffnung, dem Geheimnis dieser Krankheit auf die Spur zu kommen. Eine Zeitlang trägt er sich mit dem Gedanken, ein Lexikon der Philosophie zu verfassen.
Und er verliebt sich. In Chichina Ferreyra. Sie stammt aus einer der reichsten Familien Cordobas. Ihre Eltern besitzen eine große Ranch, zu der Polofelder, Schwimmbäder, ein Gestüt mit arabischen Pferden und ein Musterdorf für die Peones, die in den Kalkbrüchen der Familie arbeiten, gehören.
Chichinas Eltern sind von dem schäbig gekleideten, manchmal schüchternen, dann wieder beißend arroganten Jungen irritiert.
Er selbst fühlt sich bei den Ferreyra unbehaglich. Ein paar Stunden imitiert, ja parodiert er den Konversationston und die Gesten der jungen Leute aus der Oligarquia, dann wird ihm das zu mühsam, und er löscht das vorgetäuschte Image mit einer boshaften Bemerkung wieder aus. Er weiß, er wird einen schlechten Eindruck hinterlassen. Er kann es nicht ändern. Sie sind, wie er nie sein wird.
In vierzig endlosen Liebesbriefen versucht Ernesto, Chichina klar zu machen, was er denkt, was er empfindet.
Da heißt es:
»Die Summe des Elends durch Ausbeutung ist zu groß, die Schuld dieser Klasse, in die Du hineingeboren bist, ist zu groß, als dass ich sein möchte, sein könnte wie sie. Ich verspüre diese Schuld manchmal nachts als einen Albdruck, und selbst Dein Bild, meine Liebste, meine Schöne, vermag nichts dagegen. Der schwankende Knochenturm, der Bottich der Tränen ... verdammt, was sollen diese poetischen Vergleiche! Komm einmal in die Calle de Chile heraus, und wir werden hinuntersteigen in die stinkende Senke. Man muss etwas dagegen tun. Ich kann nicht die Augen davor verschließen. Genauer: ich verschließe die Augen, und ich sehe es trotzdem. Deine Fingerspitzen können meine Lider nicht derart behexen, dass ich diese Bilder vergesse, der Duft Deines Körpers kann nicht aus meiner Phantasie die Anklage verdrängen, die von dem Elendsgestank ausgeht, der aus den Baldios herauf dampft. Reichtum ... nein, ich will keinen Teil daran haben. Ich will keinen Teil daran haben, dass diese Ungerechtigkeit fortbesteht, und wenn ich all das schon nicht ändern kann, so will ich das Leben dieser Ärmsten teilen. Ich will ihre Qualen wenigstens um ein Geringes lindern helfen. Deshalb werde ich Medizin studieren.«
Der unbedingte Idealismus dieses seltsamen Jungen berührt Chichina. Manchmal kommen ihr diese Briefe auch peinlich vor. Immer diese Bilder des Hässlichen! Andererseits schmeichelt es ihr, dass ein solcher Junge gerade sie liebt. Keine ihrer Freundinnen erhält solche Briefe. Zwischen den Zeilen hängt die Aura des Skandalösen. Eigentum, steht da, ist verdinglichte Unfreiheit. - Was soll sie damit anfangen?
Dass sich diese Liebe, abgesehen von ein paar flüchtigen Blicken aus der Ferne, ausschließlich in Briefen äußert, die in die Villa Victoria, das Haus der Ferreyra, hinein- und hinausgeschmuggelt werden, hat seinen Grund darin, dass für das Mädchen und den Jungen keine Möglichkeit besteht, sich zu treffen, es sei denn unter den Augen von Chichinas Eltern, was Ernesto nach den Erfahrungen des ersten Besuchs bei der Familie strikt abgelehnt hat.
Ein Mädchen in diesem Alter aus der Oligarquia ist gut bewacht. Sie besucht nicht die Schule, sondern wird von einer Hauslehrerin unterrichtet. Wenn sie in die Stadt geht, sind die Mutter oder Tanten dabei. Kirche, Theater, Kino - die Hauslehrerin und die Gouvernante begleiten sie. Ernesto nennt das spöttisch: den Geleitzug. Er schlägt Chichina vor, sie solle sich von ihrer Familie trennen. Ein verrückter Plan, den er mit schöner Selbstverständlichkeit entwickelt.
In zwei Jahren wird er die Oberschule beendet haben und zum Studium nach Buenos Aires gehen.
Warum kann sie nicht mitkommen? Sie werden zusammen ein Zimmer nehmen. Er kann mit Gelegenheitsarbeiten so viel verdienen, dass sie beide ihr Auskommen haben.
Sie gibt sich in ihrem Antwortbrief empört. Er bilde sich doch wohl nicht allen Ernstes ein, sie werde mit ihm in einem Liebesnest leben, wie es der Vater für seine Mätresse in der Hauptstadt unterhält?
Ernesto antwortet:
»... immerhin habe ich mit einiger Genugtuung gelesen, dass Du um das Liebesnest Deines Vaters weißt. Es scheint also, dass Mädchen aus den großen Familien doch nicht so wohlbehütet sind, wie es die Konvention erwartet. Bravo, das ist ein Fortschritt! Vermagst Du Dir vielleicht auch vorzustellen, dass unser Liebesnest nicht mit den Federn der Heimlichkeit und den Feigenblättern des Betrugs getarnt, sondern vom Glanz der Reinheit unserer Liebe erleuchtet sein könnte? Und ist es nicht seltsam, dass offenbar jeder eine Liaison Deines Vaters hinzunehmen bereit ist, während das, was ich vorschlage, als empörend und skandalös verschrien wird?«
Sie reagiert hinhaltend. »Ernesto ... ich habe über Deine schlauen Gedanken nachgedacht. Freilich hast Du recht. Du hast meistens recht. Du bist immer so sicher. Ich hingegen, ich weiß nicht, wie ich Dir das erklären soll. Ich fürchte mich einfach, einen solchen Schritt zu tun.
Je t’embrasse Chichina.«
Er erprobt die innere Macht,