Die tödlichen Gedanken. Stefan Bouxsein

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Название Die tödlichen Gedanken
Автор произведения Stefan Bouxsein
Жанр Языкознание
Серия Mordkommission Frankfurt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939362135



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denken Sie eigentlich? Dass wir zwei uns einen Schüler als Liebhaber geteilt haben? Das ist doch lächerlich. Er ist 17.«

      »Lukas ist sitzen geblieben. Nicht zuletzt wegen seiner schlechten Note in Deutsch bei Frau Jürgens. Wie passt das zusammen?«

      »Sie war eine gute Lehrerin. Deswegen hat sie auch erkannt, dass der Leistungsabfall von Lukas einen Grund haben muss. Der Grund lag bei dem Dauerstreit, der bei ihm zuhause zwischen seinen Eltern herrschte. Deswegen hat sie ihm Unterschlupf gewährt. Damit er nicht völlig aus der Bahn gerät und den Anschluss komplett verpasst. Mit der Versetzung hat es nicht mehr geklappt. Aber es ging doch wieder aufwärts mit ihm. Seine Leistungen wurden wieder besser.«

      »Wir bringen ihn jetzt zu seiner Mutter. Sein Vater will sich zunächst in einem Hotel einquartieren.«

      Dagmar Kremer atmete geräuschvoll aus. »Hoffentlich findet die Familie eine dauerhafte Lösung. Im nächsten Schuljahr wird es ernst für ihn.«

      Siebels berichtete Dagmar Kremer von den näheren Umständen, unter denen ihre Kollegin und Freundin zu Tode kam. »Sitzen geblieben, das deutet doch auf einen Schüler hin. Gab es denn gar keine Anzeichen, dass Frau Jürgens in Gefahr war?«

      Dagmar Kremer schaute Siebels mit großen Augen an. »Deswegen sind Sie auf Lukas fixiert. Er hegte keinen Groll auf Verena, das habe ich Ihnen ja gerade erklärt. Und Daniel übrigens auch nicht. Das ist der zweite Kandidat, der es dieses Jahr nicht geschafft hat. Ich kann mir das überhaupt nicht erklären.«

      »Denken Sie noch mal drüber nach. Und wenn Ihnen was einfällt, rufen Sie mich an.« Siebels gab der Lehrerin seine Karte.

      5

       Mein Lehrerinnenbuch

       Ich saß wieder am Badesee und schaute dem Treiben um mich herum zu. Insgeheim hoffte ich, dass auch meine Lehrerin wiederkommen würde. Ich hatte mich schon richtig an sie gewöhnt. Vielleicht würde ich sie heute sogar ins Wasser begleiten. Ich war richtig aufgekratzt. Schaute mich immer wieder nach ihr um, aber sie war nirgendwo zu sehen. Dann bekam ich Angst. Was wäre, wenn sie mit jemand anderem käme? Mit ihrem Freund oder einem anderen Schüler. Wenn sie sich gemeinsam mit einem anderen ganz in meiner Nähe niederlassen würde. Wenn sie sich mit einem anderen unterhalten würde, während ich hier ganz allein vor mich hin grübelte. Wenn sie mit einem anderen zusammen Schwimmen gehen würde und ich das beobachten müsste. Mein Magen zog sich bei der Vorstellung zusammen. Ich schloss die Augen. Es gab weniger böse Überraschungen in der Welt, wenn man die Augen geschlossen hielt.

       »Schläfst du?«, hörte ich ihre Stimme hinter mir. Ich traute mich nicht, meine Augen zu öffnen. War sie es wirklich? War sie alleine? Wollte sie sich zu mir legen? Mein Herz schlug schneller.

       »Nein, ich bin wach«, sagte ich, hielt die Augen aber weiter geschlossen.

       »Ich habe mir schon fast gedacht, dass ich dich hier wieder treffe.«

       Ich öffnete meine Augen und richtete mich auf. Sie lächelte mich an. Ich lächelte sie auch an. Sie trug heute einen feuerroten Bikini. »Ich habe schon auf Sie gewartet«, sagte ich schüchtern.

       »Das ist schön«, freute sie sich. Sie breitete ihr Handtuch direkt neben meinem aus. Unsere Handtücher berührten sich, überlappten sich. Es blieb kein Freiraum zwischen uns.

       »Ich ziehe meinen Bikini auch gleich aus, das magst du doch. Oder kommt deine Mutter noch?«

       »Nein, nein, Mutter kommt nie an den Badesee«, beeilte ich mich, ihr zu versichern.

       »Ich mag deine Mutter«, sagte sie und schlüpfte aus ihrem Bikini. Nackt setzte sie sich mit angezogenen Knien mir gegenüber auf ihr Handtuch. »Sie hat es bestimmt sehr schwer gehabt im Leben.«

       »Ich weiß nicht«, gab ich zaghaft zur Antwort. »Entweder ist sie in der Küche und backt oder kocht oder sie sitzt vor dem Fernseher.«

       »Schaust du auch viel Fernsehen?«

       »Nein, eigentlich nie. Ich gucke am liebsten aus dem Fenster.«

       »Mich schaust du auch gerne an«, stellte sie fest.

       Ich richtete meinen Blick etwas beschämt auf das Handtuch, auf dem ich saß.

       »Schau mich ruhig an«, forderte sie mich auf. »Hat dein Vater deine Mutter früher auch so gerne angesehen?«

       »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Sonst wäre er doch bestimmt nicht vor den Zug gesprungen.« Ganz sicher war ich mir aber nicht.

       Sie nahm meine Hand zwischen ihre Hände und drückte sie leicht. »Das muss sehr schlimm für dich gewesen sein. Stellst du dir noch oft vor, wie die letzten Minuten und Sekunden für deinen Vater gewesen sein müssen? Wie er sich gefühlt hat?«

       »Er hat sich ausgezogen, bevor er auf das Gleisbett gegangen ist. Seine Kleidung hat er fein säuberlich zusammengelegt am Waldrand zurückgelassen. Darüber muss ich oft nachdenken.«

       »Er ist nackt vor den Zug gesprungen?«, fragte meine Lehrerin erschrocken.

       »Die Unterwäsche hat er anbehalten«, verbesserte ich mich. »Als die Polizei damals in unsere Wohnung kam und meiner Mutter davon erzählt hat, habe ich heimlich an der Tür gelauscht. Ich fand das komisch. Vor allem, dass er seine Sachen auch noch zusammengelegt hat, so als würde er sie in den Kleiderschrank legen. Die Polizisten hatten seine Kleider dabei und haben sie Mutter genauso übergeben, wie Vater sie hinterlassen hat. Das Bild dieser zusammengelegten Kleidung habe ich oft in meinem Kopf.«

       »Legst du deine Kleidung auch immer ordentlich zusammen, wenn du dich abends ausziehst und zu Bett gehst?«, fragte meine Lehrerin neugierig.

       »Ja. Ich kann sonst nicht einschlafen, wenn meine Kleidung nicht ordentlich untergebracht ist.«

       »Und deine Unterwäsche? Behältst du sie an, wenn du schlafen gehst?«

       Meine Lehrerin war schon ganz schön tief in mich eingedrungen, stellte ich fest. Es fühlte sich aber gut an, nicht mehr so allein in mir zu sein. »Die Unterwäsche behalte ich immer an«, gab ich zu.

       Meine Lehrerin legte sich auf die Seite, stützte den Kopf mit der Hand ab und betrachtete mich nachdenklich. »Manchmal muss man mit alten Gewohnheiten brechen, um neue Erfahrungen sammeln zu können«, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Ich wusste nicht, wie sie das meinte. »Kommst du heute mit mir ins Wasser?«, fragte sie dann.

       »Ja, heute komme ich mit«, gab ich freudig zur Antwort.

       »Aber ziehe deine Badehose vorher aus«, sagte sie mit fester Stimme.

       Ich zögerte erst. Aber sie hatte auch nichts an. Ich konnte mich also schlecht weigern. Zögerlich stieg ich aus meiner Badehose. Als ich sie zusammenfalten und in meiner Tasche verstauen wollte, trat meine Lehrerin ganz dicht an mich heran. »Schmeiß sie einfach hin«, forderte sie mich auf.

       Ich hielt meine Badehose in der Hand und brachte es nicht fertig, sie einfach fallen zu lassen. Hilflos sah ich meine Lehrerin an und krallte mich an meiner Badehose fest.

      Lukas saß schweigend auf der Rückbank von Siebels‹ Wagen. Bis zu der Wohnung seiner Eltern in der Feuerbachstraße waren es nur einige Minuten Fahrzeit. Der Wagen stand noch in der Parklücke und Siebels machte keine Anstalten, loszufahren. Er ließ das Seitenfenster herunter und zündete sich eine Zigarette an. Till saß auf der Beifahrerseite und ließ ebenfalls sein Fenster herunter.

      »Da hast du dich jetzt in eine ziemlich blöde Situation gebracht«,