Kunst und Handwerk des Schauspielers. William Esper

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Название Kunst und Handwerk des Schauspielers
Автор произведения William Esper
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895815546



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– die Eckpfeiler guter Schauspielkunst seien. Robert (Bobby) Lewis pflegte zu sagen: ›Wenn Schauspielen Weinen bedeutete, wäre meine Tante Tessie eine großartige Schauspielerin.‹«

      Die Klasse lacht.

      »Versuchen wir es noch einmal. Ihr kennt die Geschichte von Hamlet. Also lasst uns das Stück wie Schauspieler betrachten. Da gibt es diesen Prinzen in Dänemark. Was tut er in dem Stück?«

      Kenny ruft: »Er sieht den Geist seines Vaters und hört das Geheimnis, das der Geist ihm mitteilt.«

      »Richtig«, sagt Bill. »Was noch?«

      Amber: »Er gibt vor, wahnsinnig zu sein.«

      Kenny: »Er trennt sich von Ophelia.«

      Reg: »Er stellt die Schauspieler ein, schreibt eigens ein Stück für sie und schult sie, es genau so zu spielen, wie er es möchte.«

      »Sehr gut«, sagt Bill. »Weiter.«

      Mimi, Fernsehstar einer Sitcom aus den Achtzigern: »Er denkt über Selbstmord nach. ›Sein oder Nichtsein!‹«

      Trevor: »Er tötet Polonius.«

      Kenny: »Oh! Und er legt die beiden anderen Typen rein, Rosenkranz und Güldenstern.«

      »Das ist richtig«, sagt Bill. »Und so weiter und so fort. Also, Hamlet tut all diese Dinge. Deshalb muss der Schauspieler, der den Hamlet spielt, auch diese Dinge tun. Er muss wirklich unter den imaginären Gegebenheiten des Stücks handeln. Und wenn der Schauspieler all diese Dinge tut – wirklich handelt –, was passiert dann?«

      »Er wird zu Hamlet«, sagt Dom leise.

      »Noch nicht«, sagt Bill. »Aber es ist ein verdammt guter Anfang.«

      ***

      Das Gespräch geht weiter. Sehr bald wird allen klar, dass, wenn Schauspielen mit der Realität des Handelns beginnt, sie alle ihr Leben lang bereits gehandelt haben.

      Sie haben sich wirklich jeden Morgen ihre Schuhe zugebunden. Sie haben sich wirklich eine Tasse Kaffee gemacht. Wirklich ihre Rechnungen bezahlt. Wirklich Sex gehabt. Wirklich Filme angeschaut. Sich wirklich gefragt, wohin sie ihr Leben führen wird. Wirklich gearbeitet, um zu überleben. Wirklich das Bett gemacht, Wäsche gewaschen, und sie sind wirklich mit dem Hund spazieren gegangen.

      Von dem Moment an, in dem wir den Mutterleib verlassen, verpflichten wir uns alle zu Handlungen. Wir handeln. Schauspieler handeln.5 Ja, es ist noch weit entfernt von Hamlet, vor allem weil keine dieser Handlungen unter imaginären Gegebenheiten ausgeführt wurde. Aber es waren nichtsdestotrotz Handlungen und daher – wie Bill gesagt hat – ein verdammt guter Anfang.

      ***

      Bill erläutert seine Ansichten über das Schauspielen als Kunst: »Diese Arbeit hat ein Credo, ein Glaubensbekenntnis, wenn ihr so wollt. Ich glaube, dass Schauspielen in den besten Händen eine kreative Kunst wird, und dass wahre Spitzenleistung in der Praxis nur durch die Gesamtbeherrschung des technischen Handwerks erreicht werden kann. Das braucht leider Zeit, und Amerika ist ein Ort der Hast und Eile. In Amerika glauben wir, dass wir etwas dadurch gewinnen, wie schnell sich alles um uns bewegt. Jeden Tag, schneller und schneller. Aber was übersehen wir dabei?

      In Japan gibt es eine wunderbare, uralte Form des Puppentheaters, das Bunraku. Diese Puppen kann man nicht mit europäischen Marionetten vergleichen. Bunraku-Puppen sind lebensgroße Nachbildungen von Menschen. Jede Puppe wird von drei Puppenspielern geführt, die – anders als europäische Puppenspieler – auf der Bühne für die Zuschauer zu sehen sind.

      Eine Bunraku-Aufführung zu erleben ist eine unheimliche Erfahrung. Diese Puppen sind so lebensecht! Sie bewegen sich wie Menschen; sie haben sogar einen Gesichtsausdruck. Hinter ihnen stehen die schwarz gekleideten Puppenspieler – deutlich sichtbar. Sie bewegen sich um die Puppe wie griechische Schicksalsgöttinnen. Ein Puppenspieler bewegt Beine und Füße. Ein anderer bewegt Torso und Arme der Puppe. Der dritte kontrolliert den Kopf. Mit all diesen Händen am gleichen Instrument ist es leicht vorstellbar, dass es eine Menge Missverständnisse, Verwirrung und Disharmonie gibt. Aber weit gefehlt! Die Bewegungen der Bunraku-Künstler sind so synchron, dass man sofort vergisst, dass man einer Puppe zusieht. Bunraku verwandelt die hölzerne Puppe in weiches, lebendiges menschliches Fleisch. Eine unglaubliche Kunst.

      Das erzähle ich euch, weil ihr wissen sollt – um Bunraku-Puppenspieler zu werden, müsst ihr zwanzig Jahre in die Lehre gehen!

      Das Erste, was ein junger Lehrling lernt, ist, wie die Füße der Puppe bewegt werden. Dann – nach acht oder neun Jahren – geht er zu Torso, Armen und Händen über. Endlich, nach sehr, sehr langer Zeit, lernt er, den Kopf und das Gesicht der Puppe zu kontrollieren. Zu diesem Zeitpunkt ist er mit jeder Angewohnheit und Bewegung der Puppe bestens vertraut.«

      Bill hält inne und richtet seinen Blick auf die Klasse: »Zwanzig Jahre, um eine Kunst zu lernen. Mein Gott! In unserem Land gehen wir davon aus, dass jemand in zwanzig Jahren vier bis fünf Mal den Beruf gewechselt hat. Wo liegt unser Fokus? Natürlich sind wir eine vergängliche Kultur. Aber nichts, was sich zu lernen lohnt, geht schnell. Das hat Sandy gesagt, und ich habe mich immer daran gehalten: Es dauert zwanzig Jahre, um ein Meister des Schauspiels zu werden.

      Bevor wir mit dem Unterricht anfangen, muss ich euch diese Frage stellen: Seid ihr hierhergekommen, um Schauspielen zu lernen? Oder seid ihr mit dem Hirngespinst des kommerziellen Erfolgs hergekommen? Ich frage deshalb, weil ich euch warnen muss – denn, was ich hier unterrichte, ist ein Handwerk, das euch hoffentlich ermöglicht, Kunst zu schaffen. Es stimmt, viele meiner Schüler und Schülerinnen haben sich im Schauspielgeschäft ziemlich gut geschlagen. Und wenn ihr kommerziellen Erfolg habt, gut. Dann könnt ihr euch glücklich schätzen. Aber das ist nicht der Grund, warum wir schauspielen! Der einzig wahre Grund, sich einer Kunst zu widmen, ist, dass sie eure Leidenschaft ist.

      Es ist kein Geheimnis, dass Schauspieler aus falschen Gründen Schauspieler werden. Sie wollen bewundert werden, sie wollen berühmt sein, sie wollen beim Film einen Haufen Geld verdienen. Es ist die perfekte Flucht aus der Realität, und Schauspielen ist schließlich ein Fluchtberuf. Die Leute denken, es sei so viel einfacher, Schauspieler zu werden als beispielsweise Arzt, Anwalt oder Ingenieur. Was für eine kolossale Illusion.

      Vor ein paar Monaten kam ein junger Mann, Mitte zwanzig, zum Vorstellungsgespräch für meinen Kurs. Er gab zu, so gut wie nichts über das Schauspielen zu wissen – er sagte, bei einem Theaterstück in der High School mitgemacht zu haben. Seitdem habe er seinen Lebensunterhalt als Model verdient, fand aber die Arbeit, das muss zu seiner Ehrenrettung gesagt werden, emotional nicht befriedigend.

      Dieser junge Mann war sehr gutaussehend. Er sagte, er wolle es mit dem Schauspielen ernsthaft versuchen, und ich habe ihm geglaubt. Und obwohl er keine Erfahrung oder Ausbildung hatte, habe ich ihn auf meine Warteliste gesetzt. Ein paar Wochen später hat ihn mein Assistent angerufen, um ihm mitzuteilen, dass ein Platz frei sei. Als der junge Mann zurückrief, entschuldigte er sich. Er sagte, er könne nicht zusagen. Sein Agent wie auch sein Manager waren beide der Meinung, dass er keine Zeit habe, um an den Schauspielkursen teilzunehmen; er habe zu viele Castingtermine.«

      Bill runzelt die Stirn: »Wisst ihr, was das Traurigste an dieser Geschichte ist? Ihr kennt die Antwort schon. Fragt mich, wo dieser Schauspieler in fünf Jahren sein wird. Sicher – vielleicht hat er ja Glück. Ich nehme an, er hat seine Eins-zu-einer-Million-Chance, wie jeder andere auch. Aber er lebt eine Willy-Loman-Version des amerikanischen Traums. In seinem Traum geht es nicht darum, was du kannst, sondern wen du kennst. Soweit es um das Was-du-kannst geht, kann dieser junge Mann nichts. Und alle Wen-du-kennst-auf-der-Welt werden aus ihm keinen guten Schauspieler machen.«

      Bill trommelt auf seinen Tisch. »Was diese Leute nicht verstehen: gutes Schauspielen – wirkliches Schauspielen – ist unmöglich zu erkennen. Habt ihr jemals Talente wie Robert Duvall oder Kathy Bates beim Schauspielen erwischt? Nein. Wenn ja, sagt mir wo! Deswegen leiden manche Leute wie dieser arme Junge unter dem furchtbaren Irrtum, dass Schauspielen einfach ist. Große Talente lassen die Kunst