Название | Tannenfall. Das andere Licht |
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Автор произведения | Bernhard Hofer |
Жанр | Языкознание |
Серия | Tannenfall |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783960415732 |
Im Zentrum der Heilstätte lag die Schlosskirche, vor der das Herrenhaus thronte. Zwei Seitenflügel umfassten den Schlosshof. Dahinter befand sich der Kirchhof mit mehreren Grabdenkmälern, die ich von der Dusche aus sehen konnte.
Carlotta war jünger als ich. Ich hatte mich nie getraut, sie zu fragen, aber ich vermutete, dass uns etwa zehn Jahre trennten. Ich war ihre erste Patientin gewesen. Sie war damals noch jung. Vielleicht siebzehn. In ihren dunklen Augen lag noch immer eine Stille, die mich nach all den Jahren nach wie vor wärmte. Sie hatte mir beigebracht, den Vögeln zuzuhören, mit der Hand das Gras zu berühren und zu spüren, wie es wächst. Sie hatte mich aber auch angehalten, mich an die Regeln des Hauses zu gewöhnen, und – wenn mir das nicht gelang – vom Mond erzählt. Und dass man zu ihm singen konnte, damit die Träume einmal wahr würden. Denn der Mond, der würde einen eines Tages auf die andere Seite bringen, hatte sie mir einmal gesagt, und ich stellte mir dann vor, dass wir beide in Italien saßen, irgendwo unter einem warmen Himmel.
Als ich das Gelände zum ersten Mal betreten hatte, rieb ich meine Schuhe vor dem Tor sauber, aus Angst, diese adeligen Gebäude mit meinen schmutzigen Füßen zu verunreinigen. Die Wohntrakte säumten die beiden Seiten vor dem Schloss und waren die eigentlichen Heilstätten. Carlotta wartete damals an der Tür und fragte mich, ob sie mir mit meinem Gepäck helfen sollte. Als ich ihr sagte, dass die blassgelbe Bluse und die Cordhose, die ich am Leib trug, das Einzige waren, was ich besaß, beschloss sie, mich vorher in der Anstalt herumzuführen, um mir den neuen Abschnitt in meinem Leben einfacher zu machen. Carlotta war trotz ihrer jungen Jahre souverän in ihren Handlungen und strahlte schon damals diesen sicheren Stolz aus, der mich sie bald fest in mein Herz schließen ließ.
»Ich zeige Ihnen jetzt Ihr neues Zuhause. Die Formalitäten wie die Übergabe des Schreibens des Amtsrichters können wir auch später erledigen.«
»Ich sehe, Sie sind in guten Händen«, sagte die Leiterin der Heilstätte, als sie mich mit Carlotta auf dem Schlosspark antraf. Sie trug ein langes blaues Kleid mit vielen Schmetterlingen. Ich machte einen kleinen Knicks, da ich irgendwo gelesen hatte, dass man das in diesen Kreisen so machte. Die Leiterin war hübsch und jung, vielleicht Mitte dreißig, und sah aus wie eine wohlhabende Frau, die sich den ganzen Tag um den Garten ihres Hauses am See kümmern konnte.
»Ich leite die Heilstätten und bin mir sicher, dass Sie sich hier wohlfühlen werden. Freilich wird es ein wenig dauern. Ich weiß natürlich auch, was die Menschen im Dorf über die Anstalt sagen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass es hier kaum anders ist als in einem anderen Institut. Hier tanzen sogar manche Patienten – wie Frau Marie. Oder Walter: Er trägt immer einen Wollumhang, auch im Sommer, wenn es hier sehr warm ist. Sie dürfen sich nicht wundern, wenn er Ihnen von seiner österreichischen Mutter erzählt und dass er selbst aus Italien kommt und dass sein Großvater im Krieg gegen die Deutschen gekämpft hat. Wenn Sie ihm keine Beachtung schenken, wird er rufen: ›Hilfe, ich brauche Hilfe!‹ Oder Frau Klara: eine reizende Frau. Sie steht immer oben am Gartenhaus. Gleich neben der Tür. Sobald Sie diese aber öffnen, versucht sie, sich vorzudrängen, und beschimpft Sie, wenn Sie ihr nicht den Vortritt lassen. Dennoch ist sie eine reizende Dame. Alle sind reizend. Aggressive Patienten haben wir nur wenige. Das liegt auch an unserem geschulten Personal, das auf jedes einzelne Bedürfnis unserer Gäste eingeht.«
Ich war sofort vom Charme der Leiterin betört, denn sie verstand es, mit ihrer Gestik jedes einzelne Wort so zu betonen, als würde man einem leichten, unterhaltsamen Film folgen. Sie verdrehte die Augen, wenn sie von den Leuten im Dorf sprach, sie ahmte das Lachen einer Comicfigur nach, wenn sie von einem Patienten sprach, der immerfort lachte, und sie bewegte sich im Stechschritt, wenn sie von amtlichen Vorgaben sprach. Kurz: Sie gab mir das Gefühl, nicht krank zu sein, sondern Teil einer anderen Welt, die voller Gesten, verstellter Stimmen und verschiedener Grimassen war. Und wenn der Wind in das lange, wellige brünette Haar der Leiterin fasste, so hatte ich das Gefühl, dass alles halb so schlimm war.
»Hat Carlotta Sie schon herumgeführt? Ja? Hat sie bestimmt. Es ist doch wunderschön hier, nicht? Aber, ich muss Ihnen leider sagen …«
Die Leiterin kam zu mir, suchte mit flinken Augen nach etwaigen Menschen, die sie belauschen könnten, und stellte sich wie eine Vertraute zu mir, bevor sie fortfuhr. »Auch, wenn es von außen nicht so aussieht – wer keinen Schlüssel hat, der kommt hier auch nicht mehr weg. Aber ich bin mir sicher, das verstehen Sie. Wir haben hier schon ein paar … sagen wir, Auffällige.«
Wieder schnitt sie eine Grimasse, lachte und drehte sich wie ein junges Mädchen. »Wir müssen auf euch aufpassen. Sie werden sehen: das Besteck, die Messer – alles weggeschlossen, die Fenster ausbruchsicher. Doppeltes Glas. Wir wollen, dass es uns allen gut geht.«
Als sie bemerkte, dass ich ein wenig unsicher wurde, wechselte sie wieder die Farbe ihrer Stimme, die mit einem Mal sachlicher klang. »Die Heilstätte ist wie ein geschützter Rahmen, ohne den die Patienten sich selbst oder andere gefährden würden. Aber sie brauchen keine Angst zu haben. Die Heilstätte gibt es seit fast zehn Jahren. Seit 1990. Wir haben nach der Wende gleich zugegriffen und dieses wunderbare Stück Land hier gekauft. Und seitdem hat es keine Auffälligkeiten gegeben. Auch wenn alle aus unterschiedlichen Gründen hierhergekommen sind, suchen sie im Grunde alle Hilfe. Heilung. Viele kommen mit einer akuten Psychose, andere wegen einer schweren Depression oder wegen massiven Drogenkonsums. Aber auch Manisch-Depressive oder Menschen mit Schizophrenie und Wahnvorstellungen sind unsere Gäste. Manche finden von selbst zu uns, einige bringt die Polizei, andere werden von ihren Familien hier eingewiesen.«
Die Leiterin warf ihre Haare zurück, klatschte in die Hände und salutierte vor Carlotta, die mit ihrem höflichen Lächeln den Ausführungen ihrer Vorgesetzten gefolgt war. »So, aber jetzt: Genug geredet! Carlotta, übernehmen Sie!« Dann verabschiedete sich die Leiterin mit einem »Ciaoiiii« und ging mit fröhlichem Hüftschwung zurück in das Herrenhaus.
»Sie ist sehr … nett«, sagte ich und sah zu Carlotta und dachte in diesem Moment, dass vielleicht alles gut werden würde.
»Dann wollen wir mal«, sagte Carlotta und hakte sich bei mir ein. »Ich will, dass Sie sich hier wohlfühlen. Für mich ist es auch das erste Mal, aber ich denke, wir beide machen das. Ich bin vom Konzept der Heilstätten überzeugt. Es macht uns am Ende alle zu kompetenteren Menschen.«
Ich lächelte Carlotta an oder versuchte es zumindest. Ich hatte außerhalb der Heilstätten noch nie so viel Aufmerksamkeit und Wärme erfahren.
»Ich weiß, dass Sie unter Wahnvorstellungen leiden, die von einer Epilepsie ausgelöst werden, aber ich werde Ihnen helfen und immer für Sie da sein, wenn Sie sich durch etwas bedroht fühlen.«
Ich nickte und sah mich vorsichtig in der neuen Umgebung um.
»Wollen wir einen kurzen Spaziergang machen, bevor wir zurück aufs Zimmer gehen? Wir werden in der nächsten Zeit viele Spaziergänge unternehmen. Aber davon erzähle ich Ihnen später. Oder ›Mensch ärgere Dich nicht‹ spielen. Oder gemeinsam mit den anderen unsere Mahlzeiten einnehmen. Wir haben hier Regeln, die auf drei Säulen aufbauen. Dem Lernen, dem Sehen und dem Siegen. Was es damit auf sich hat, erkläre ich Ihnen später. Aber zuerst zeige ich Ihnen noch alles.«
»Greta. Ich bin Greta.«
»Ich weiß nicht, ob das gut ist, wenn Wirtinnen und wir … Ich meine …«
»Wirtinnen?«
»Carlotta«, rief sie ihren Vornamen aus. »Aber diese Vertraulichkeit bleibt unser Geheimnis«, sagte sie dann und spitzte dabei ihre Lippen, ohne mir zu sagen, warum sie mich eine »Wirtin« genannt hatte.
Ich entschied mich für den angebotenen Spaziergang, und Carlotta begann zu erzählen. Im Jahre 1205 habe an dieser Stelle bereits ein Wasserschloss existiert, das aber um 1265 in ein Jagdschloss umgebaut worden sei, dort seien pompöse Feste gefeiert worden. 1268 habe der damalige Schlossherr seine Residenz und siebzehn weitere Dörfer dem Klarissenorden gestiftet. Mitte des 16. Jahrhunderts sei das Kloster wieder verkauft und zu einem Schloss umgebaut worden. Im Jahre 1722 folgte