Seewölfe - Piraten der Weltmeere 687. Jan J. Moreno

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Название Seewölfe - Piraten der Weltmeere 687
Автор произведения Jan J. Moreno
Жанр Языкознание
Серия Seewölfe - Piraten der Weltmeere
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966881012



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zählte inzwischen elf Sommer. Gern hätte Phoolan wenigstens ihn wiedergesehen, doch das war seit Jahren unmöglich, die Umstände waren dagegen.

      Mit einer unwilligen Kopfbewegung schüttelte sie alle Erinnerungen ab. Die Geister der Vergangenheit, die sie in unregelmäßigen Abständen zu quälen begannen, ließen sich nicht leicht vertreiben.

      „Gib unsere jungen Männer heraus!“ forderte die Alte.

      Phoolan Devi lachte hell. „Willst du mir drohen? Siehst du nicht, wie sehr ich vor dir zittere?“

      Die Mistgabel zuckte hoch. Mit aller Kraft, deren sie fähig war, stieß Ramkali zu, doch die Dacoit reagierte schneller. Sie wirbelte zur Seite, umklammerte den hölzernen Stiel unmittelbar hinter den Zinken und zerrte die Waffe herum, so daß die Angreiferin mitgerissen wurde und den Halt verlor. Ramkali stürzte vor Phoolans Füße, ein schmerzhafter Tritt traf sie an der Schulter und ließ sie bleich zusammensinken.

      Die Decoit zerbrach die Mistgabel über dem Knie und warf die Bruchstücke den Männern entgegen, die noch zögerten, anzugreifen. Im nächsten Moment hielt sie ihre Pistole in Händen und zielte auf den mit dem rostigen Schwert.

      „Ihr seid hier, um eure Söhne zu holen“, sagte sie scharf. „Sie liegen unten am Fluß. Meinetwegen nehmt sie mit, aber geht mir schnell aus den Augen. Und noch etwas: Ich verlange, daß mir bis Sonnenaufgang die Gesuchten übergeben werden. Wenn nicht, werdet ihr eure Verstocktheit bereuen.“

      Wehklagen erklang vom Fuß der Böschung und zeugte vom Schmerz und der Hilflosigkeit der Dorfbewohner. In ihrer Verzweiflung waren sie kaum zu überbieten.

      „Das war eine erste Warnung!“ rief Phoolan Devi. „Ich habe noch immer erhalten, was ich haben wollte.“

      Die Nacht gehörte den Verstorbenen.

      Samatrai hallte wider von den Totengesängen, und erst als der Morgen dämmerte, zog Ruhe ein.

      Die Decoits hatten zu dem Zeitpunkt längst Stellung bezogen. Der erste, der das Dorf verlassen wollte, war der Ziegenhirte mit seiner Herde. Dasyu Gujjar wies den Mann schroff zurück.

      „Aber die Tiere brauchen Futter.“

      „Dann schlachtet sie eben. Das spart Arbeit und Mühe.“ Der Unterführer wollte sich schier vor Lachen ausschütten über das dumme Gesicht. Als er dann drei der fettesten Tiere aus der Herde aussonderte, begriff der Mann aber sehr schnell und trieb die anderen ins Dorf zurück.

      „Wenn wir wieder Hunger haben, holen wir uns die nächsten!“ rief ihm Phoolan Devi hinterher.

      Bis zum Mittag brieten die geschlachteten Ziegen über einem großen Feuer. Der Wind trieb den Bratenduft zwischen die Häuser, wo nur hin und wieder jemand zu sehen war – die Dörfler hatten sich furchtsam verkrochen, nachdem mehrere Versuche, Samatrai zu verlassen, vor den Waffen der Dacoits geendet hatten.

      Sinnend blickte Gujjar in die Glut des langsam erlöschenden Feuers. „Warum räuchern wir das Pack nicht aus?“ Er zog einen halb verkohlten Knüppel aus der Asche und schwenkte ihn, bis die Flammen erneut aufloderten.

      Da Phoolan nicht reagierte, lief er bis zur nächsten Hütte und warf das brennende Holz aufs Dach. In dem trockenen Palmblattgeflecht fanden die Flammen ausreichend Nahrung, breiteten sich gierig aus und züngelten fauchend in die Höhe. Innerhalb weniger Augenblicke brannte das Dach lichterloh, erste Glutnester sprangen auf Balken und Bretter über.

      Schreiend stürzten die Bewohner ins Freie. Da das Feuer die anderen Hütten gefährdete, bildete sich im Nu eine Eimerkette. Aus dem Dorfbrunnen wurde Löschwasser geschöpft und weitergereicht. Die Dacoits spornten Männer, Frauen und Kinder mit höhnischen Rufen an.

      Von zusammenbrechenden Stützbalken ausgehend, sprang das Feuer auf die nächste Hütte über. Federvieh stob kreischend ins Freie, einige Tiere wurden aber wie magisch vom Feuer angezogen und verbrannten.

      Phoolan Devi übertönte mühelos den entstandenen Lärm, als sie lauthals schrie: „Das ist nur der Anfang! Ihr werdet uns erst los, wenn wir haben, was wir wollen!“

      Mit untergeschlagenen Beinen hockte sie im Gras, kaute genußvoll auf einer schon kalt werdenden Keule und verfolgte fasziniert die verzweifelten Versuche der Bauern, ihr Dorf vor dem Feuer zu retten. Dabei schweiften ihre Gedanken immer mehr ab, und schon kurz darauf nahm sie das Geschehen ringsum nur noch unbewußt wahr.

      Wie sooft in letzter Zeit sehnte sie sich nach einem Heim und nach etwas mehr Ruhe, als ihr das Räuberdasein zu bieten hatte. Aber das einzige, was sie tatsächlich noch mit früher verband, war die Erinnerung an ihren Bruder Shivnarain.

      Mit elf war sie mit Mustaqueem, einem fünfzigjährigen Witwer, verheiratet worden. Doch sie war zu jung gewesen, ihm das geben zu können, wonach er sich sehnte, und war deshalb schon nach wenigen Tagen nach Hause zurückgekehrt.

      Ein Jahr später hatten sie die Eltern wieder zu ihrem Mann geschickt. Diesmal hielt sie es nahezu ein halbes Jahr lang aus, fühlte sich dabei aber nicht glücklich, und irgendwann stahl sie sich heimlich davon, fest entschlossen, nie wieder zu Mustaqueem zurückzukehren.

      Die Eltern waren über Phoolans Handlungsweise empört, weil ein Mädchen, das einen Mann verließ, große Schande über die Familie brachte. Ihre Mutter forderte sie nahezu täglich auf, in einen Brunnen zu springen oder sich anderswo zu ertränken, denn eine verheiratete Tochter könnte nicht bei ihren Eltern geduldet werden.

      Vielleicht hätte sie sich sogar überreden lassen, Mustaqueem um Verzeihung zu bitten, wäre er nicht eines Tages erschienen, um allen geschenkten Silberschmuck zurückzufordern. Er hatte eine andere Frau geheiratet.

      Von da an ging Phoolan ihre eigenen Wege. Liebschaften mit dem Sohn des Dorfvorstehers und anderen Burschen, mit denen sie sich in den Zuckerrohrfeldern vergnügte, stempelten sie in aller Öffentlichkeit zur Dirne ab. Die Familie war bloßgestellt und hatte keine andere Wahl, als Phoolan endgültig zu verbannen. Sie wurde nach Tirupati zu ihrer älteren Schwester geschickt, lernte dort aber Babu kennen, einen entfernten Vetter väterlicherseits, der verheiratet und Vater von drei Kindern war.

      Sie hütete die Büffel ihrer Schwester und traf sich mit Babu – am Fluß, in den Feldern, am Waldrand. Es war eine schöne Zeit, in der Phoolan Devi Vergangenes vergaß. Sie gab Babu all das, was sie ihrem ersten Mann aus Scheu und Unkenntnis verweigert und von den Burschen in den Zuckerrohrfeldern gelernt hatte, aber nach Monaten des Glücks und der Zufriedenheit sträubte sie sich plötzlich. Babu sollte sie heiraten oder sie nie wieder berühren, mit ihrer Rolle als Geliebte wollte sie sich nicht länger zufriedengeben.

      Tatsächlich ging er mit ihr nach Kanchipuram zu einem Schreiber, der für zwanzig Rupien ein Dokument aufsetzte und versicherte, daß sie nun Mann und Frau seien. Eine Woche lang lebten sie in Kanchipuram, dann beschloß Babu, wieder zu seiner Frau und den Kindern zurückzukehren. Für Phoolan brach eine Welt zusammen. Sie schwor, ihren Vetter umzubringen, doch seitdem hatte sie ihn nie wiedergesehen.

      Gerade siebzehn Jahre alt, war sie doch schon von allen verstoßen. Ihre Eltern verabscheuten sie, ihr erster Mann hatte eine andere zur Frau genommen, und die zweite Ehe war von Anfang an ungültig und nur auf Lug und Trug aufgebaut gewesen.

      In der Situation, verzweifelt und zu allem entschlossen, traf sie Dasyu Gujjar, Mitglied einer Bande von Räubern und Mördern. Er war kräftig, groß und sah gut aus. Seine Zuneigung zu Phoolan hatte er von Anfang an nicht verhehlt. Sie ging mit ihm.

      Dasyus Stimme schreckte sie aus ihren Gedanken auf.

      „Die Bauern wissen nichts“, sagte er, „sonst würden sie uns die Verräter ausliefern. Shankar und Nain jagen ihnen bestimmt nicht mehr Furcht ein als wir.“

      Das Feuer war gelöscht, aber gerade deshalb schüttelte Phoolan Devi energisch den Kopf.

      „Wir bleiben, solange ich das für nötig halte!“ entgegnete sie. „Wer anderer Meinung ist, soll es mir sagen.“

      Eigenartigerweise mauserte sich die alte Ramkali zur Wortführerin der kleinen Dorfgemeinschaft. Auf die Weise gelang es ihr,