Drei fahren in den Sommer. Lise Gast

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Название Drei fahren in den Sommer
Автор произведения Lise Gast
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711509180



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der anderen Seite her.

      Ich brachte ihnen zu essen und sagte dann, wenn sie heute ihre Schularbeiten nicht ordentlich machten — ich soll sie immer nachsehen, und sie unterschlagen mir mit Vorliebe das, was ihnen nicht paßt —, dann würde es wohl das letzte Mal sein, daß ich mich vor sie stellte. Und ich ginge jetzt zu Grulich und bäte um gut Wetter. Verdient hätten sie es nicht. Es sei wegen Mutter. Die liege oben und sei halb krank. Punkt. Alles Weitere werde sich finden.

      Sie waren ganz still, auch Roland. Er wagte nicht einmal einen frechen Blick. Uli sah überhaupt nicht hoch.

      Ich ging. Mein Herz war zentnerschwer. Und zu aller Sorge kam auch noch die Empörung: wieso ich? Wieso hatte gerade ich dauernd Ärger mit meinen Brüdern? Andere Mädchen hatten doch auch Brüder! Aber daß sie solche Dinge für sie ausbaden mußten, das hatte ich noch nie gehört.

      3

      Manche Sachen im Leben sind leichter, als man sie sich vorher ausmalt. Diesen Trost hat man immer im Hintergrund, wenn einem Schweres bevorsteht. Manche sind aber auch schwerer. Das hatte ich bisher noch nie erlebt, und es war eine recht unangenehme Überraschung.

      Ich sehe mich noch in Grulichs Werkstatt kommen. Er bediente gerade. Ich stand und wartete, es war quälend. Als die Dame, die ewig nach einem ihr passenden Küchenwecker gesucht hatte, endlich gegangen war, wandte er sich mir zu.

      Sein Gesicht war tiefernst. Ich hatte ein winziges Schmunzeln in seinen Mundwinkeln erwartet, eine kleine, freundliche Hilfe, ein Lächeln in den alten, sonst so gütigen Augen. Nichts davon. Sein Gesicht war ernst und sehr traurig. Er bat mich in das Zimmer hinter dem Verkaufsraum, machte eine Bewegung nach dem Stuhl hin und setzte sich, als ich saß, auf einen zweiten.

      „Sie kommen wegen Ihrer Brüder“, sagte er.

      Ich nickte. Während ich sprach — ich stotterte, es war peinlich und gräßlich blamabel —, saß er da und sah seine Hände an. Und schwieg. Er schwieg auch noch, als ich fertig war. Ich hatte versucht, ihm den Gang der Handlung zu schildern. Wie die Jungen ohne ihren Fußball sozusagen in ein Loch in ihrem Tag gefallen waren und nicht wußten, was sie anfangen sollten, und wie eins zum andern kam. Ihre Zerstörungssucht konnte ich nicht erklären und nicht bemänteln. Es war erniedrigend.

      Grulich ließ eine lange Pause entstehen. Dann hob er den Blick und sah mich an.

      „Liebes Fräulein Silke“, sagte er, und sein Brustkasten hob sich dabei, als müsse er erst einmal Luft einpumpen, „ich finde es lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind. Aber ich glaube, es war umsonst; jedenfalls in dem Sinne, in dem ich Sie verstehe. Sie möchten doch, daß ich die Geschichte totschweige, oder? Deshalb kommen Sie doch her?“

      Ich nickte.

      „Hm. Ich kann das verstehen. Aber ich — nun, ich will Ihnen etwas erzählen, was nicht zur Sache gehört, oder doch. Sie haben doch ein bißchen Zeit?“

      Ich nickte wieder.

      „Sehen Sie, ich habe keine Kinder mehr. Meine Kinder —“ er machte eine kleine Bewegung ringsum — „sind diese hier, die gefiederten. Aber ich habe einmal Kinder gehabt. Sie sind groß und weit weg. Reden wir nicht von ihnen, sondern von etwas anderem.

      Ich interessiere mich für junge Menschen, obwohl ich alt und allein bin, oder vielleicht gerade deshalb. Es wurde wohl keine Straftat Jugendlicher in den letzten fünf oder sieben Jahren verhandelt, die ich nicht genau verfolgte und über die ich mir nicht Gedanken machte. Wenn man allein ist, hat man viel Zeit nachzudenken.

      Von einer solchen Gerichtsverhandlung möchte ich Ihnen erzählen: Ein junger Mann — etwa zweiundzwanzig Jahre alt — wurde verurteilt wegen nicht nur einem, sondern dem soundsovielten Betrug. Er stammt nicht von hier, die Sache wurde aber in unserer Kreisstadt verhandelt; warum, ist Nebensache. Ich bin hingefahren und habe im Zuhörerraum gesessen. Ich weiß nicht, ob Sie schon einmal eine Verhandlung miterlebt haben? Nein, nur im Film? Nun, aber vorstellen können Sie es sich.

      Er war hier ins Gymnasium gegangen, war besserer Leute Kind, wie man so sagt. In der Schule tat er nicht gut. Nicht, daß er ein Querulant oder gar Rebell war, aber er blieb sitzen und holte auch dann nicht auf. In der Unterprima ging er ab — die Eltern hatten ihm Nachhilfestunden geben lassen, aber auch das half nichts. Der Klassenlehrer könne ihn nicht leiden, hieß es. Dann kam er in eine kaufmännische Lehre. Hier war es der Meister, der ihn schlecht und ungerecht behandelte. Er wechselte die Stellung. Dann noch einmal. Diesmal war es ein Kollege, der ihm das Leben schwer machte. Das nächstemal der Bürovorsteher, so wurde erzählt. Die Eltern schickten ihn nach Hannover in das Geschäft eines Bekannten. Eine Weile ging es, dann nicht mehr. Er kam zurück, tat eine Zeitlang nichts. ‚Ihr hättet mich das Abitur machen lassen sollen, dann hätte ich ganz andere Berufsmöglichkeiten‘, erklärte er seinen Eltern.

      Sie gaben ihn in eine Privatschule. Dort flog er nach einem Vierteljahr wegen Aufsässigkeit. ‚Ich brauche die Freiheit‘, sagte er zu seiner Entschuldigung.

      Was später noch kam, will ich nicht aufzählen. Nur dies. Und, Fräulein Silke, deshalb erzähle ich Ihnen das: Das letzte, was er vor Gericht sagte — er erzählte all diese Sachen ruhig, ein wenig zynisch, knapp und trotzdem anschaulich —, das letzte war: ‚Ihr hättet nicht immer vertuschen dürfen, was ich falsch machte. Immer wurde verheimlicht und beschönigt, immer entschuldigt. Damit, daß Mutter nie Zeit für mich hatte — sie mußte in Vaters Geschäft mitarbeiten, uns war es sehr schlecht gegangen, einen gemeinsamen Mittagstisch kannte ich nicht, die Eltern aßen in der Werkskantine —, daß ich keine Geschwister hatte, daß ich schwierig sei. Ich hätte es in der Schule schaffen können. Ich hätte in der Lehre aushalten können. Ich hätte nicht in die Kasse zu greifen brauchen.

      Aber alles wurde entschuldigt. Es war, als habe der Teufel mich in der Fängen: Immer wieder mußte ich probieren, ob es diesmal einschlüge. Es schlug nicht ein, es wurde abgebogen. Nun stehe ich hier.

      Beim allerersten Mal hätte es krachen müssen. Damals, als ich das Geld nahm, das wir für das Kindergenesungsheim sammelten. Es waren ganze dreiundvierzig Mark fünfzig. Ich hatte gesagt, ich hätte die Büchse verloren, hätte sie weggestellt, als wir Fußball spielten, und dann nicht wiedergefunden. Ich wollte mir gar nichts Bestimmtes kaufen, ich wollte nur einmal sehen, was passierte, wenn ich das Geld unterschlüge. Es passierte nichts. Vater ging zu der zuständigen Stelle, ersetzte es und bat um gut Wetter!‘ — so wie Sie heute für Ihre Brüder, Fräulein Silke. — ‚Ich kam davon‘, sagte der junge Mann weiter, ‚ich wurde noch getröstet. Für das Geld habe ich mir dann Zigaretten gekauft und habe mir meinen ersten richtigen Rausch angetrunken, weil ich im Grunde gar nichts damit anzufangen wußte. Das war der Anfang. Heute, das ist das Ende.“

      Grulich schwieg. Ich saß und knetete eine Hand mit der anderen.

      „Aber sie haben — meine Brüder haben ja kein Geld unterschlagen...“

      „Nein, das haben sie nicht. Stimmt. Es ist etwas anderes. Jeder Fall liegt anders“, erklärte Grulich. „Trotzdem sind diese verschiedenen Fälle wahrscheinlich gleichen Ursprungs. Die Jungen wollen etwas erleben, etwas auführen, den Drachen am Schwanz kitzeln — mal sehen, was geschieht. Meinen Sie nicht? Warum geht ein Junge aufs Eis, obwohl er genau weiß, daß es noch zu dünn ist, um ihn zu tragen? Warum klettert er auf einen Baum? Warum fährt er mit seinem Moped schneller, als er darf? Warum legt er dem Lehrer einen Knallfrosch ins Pult? Verstehen Sie, warum, Fräulein Silke?

      Nein, ich würde Ihren Brüdern keinen Gefallen tun, wenn ich jetzt schwiege. Ich habe mir das sehr genau überlegt. Die beiden andern, die dabei waren — und wohl die Anstifter waren, jedenfalls diejenigen, die schon mehrmals solche Dinger drehten —, bei denen ist nichts mehr zu ändern, fürchte ich. Ob die ein Strafgericht trifft oder nicht, das ist gleichgültig. Aber Ihre Brüder.

      Nein, ich schone Ihre Brüder nicht. Ich mag sie gern, die Buben — besonders den Dunklen. Der sieht aus, als würde er mal versuchen, die Welt ein bißchen aus den Angeln zu heben. Da ist was drin, glaube ich. Und der soll einmal nicht so dastehen müssen wie der junge Mann, von dem ich Ihnen eben erzählte, und sagen: „Damals, als ich die Bude vom alten