Nichts bleibt wie es ist. Angelika Kutsch

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Название Nichts bleibt wie es ist
Автор произведения Angelika Kutsch
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711447475



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Was treibst du denn so?« Wenn er betrunken war, duzte er alle Leute.

      Armin erzählte ihm in dürren Worten, wie es war.

      »Arbeitslos! Dann können wir uns ja die Hand geben«, sagte Herr Kapsreiter. »Wenn ich noch so jung wäre wie du –!«

      »Was würdest du dann tun?« fragte Silke.

      »Als ich so alt war wie er«, sagte Herr Kapsreiter, »war Krieg. Mich haben sie auch noch eingezogen.«

      Die Geschichten kannte Silke zur Genüge. »Ich möchte wissen, was du tun würdest, wenn du jetzt jung wärst!« sagte sie ungeduldig.

      Herr Kapsreiter drehte die Bierflasche zwischen den Händen und starrte vor sich hin. »Mein Vater«, sagte er, »hat Ähnliches erlebt. Krisen, Arbeitslosigkeit ... Er hat mir oft davon erzählt. Aber heute ist es unheimlicher, schleichender. Damals ging’s deinem Nachbarn genauso dreckig wie dir. Aber heute bist du plötzlich draußen, wenn es dich erwischt hat, und wenn du dich beklagst, dann heißt es, was willst du denn, dir geht’s doch blendend. Du kriegst ein Bombengeld fürs Nichtstun. Mann, in deiner Haut möcht ich stecken – das hat eben noch einer zu mir gesagt, und ich hätt ihm am liebsten eine reingehauen.«

      Herr Kapsreiter erhob sich schwankend. »Am liebsten eine reingehauen«, wiederholte er. Und ging. Er mußte ziemlich viel getrunken haben, denn sonst sagte er kaum zwei vollständige Sätze hintereinander.

      Sie warteten, bis er sich ausrumort hatte in der Wohnung. Silke ging noch einmal nach Silvio schauen, der fest und rotbackig in seinem Gitterbett schlief. Dann blies sie die Kerzen aus.

      Später in der Nacht schreckten Gisela und Robert sie auf aus der schlafwarmen Geborgenheit. Sie mußten hinaus in die Kälte.

      Es war eine sternklare kalte Nacht, in der sie ihren Atem wie festgewachsene weiße Wolken vor sich hertrugen. Aus den Augenwinkeln sah Silke an der dunklen Hausfront empor. Oben im Kinderzimmer leuchtete es gedämpft.

      Noch nie hatte sie sich so »draußen« gefühlt.

      III

      Im April wurde die Großmutter fünfundsiebzig. Es kamen Blumentöpfe von den Nachbarn mit vergoldeten, verschnörkelten Ziffern, und abends gingen sie »ganz groß« aus. Onkel Sepp bestand darauf, italienisch essen zu gehen, obwohl die Großmutter viel lieber Bratkartoffeln und Milchsuppe an ihrem wachstuchbedeckten Küchentisch aß.

      Sie trug das schwarze Kleid, das sie zuletzt zur Beerdigung von Frau Kapsreiter getragen hatte. Unglücklich saß sie auf der schmalen und harten Bank, die für kleine Italiener geeignet sein mochte, nicht aber für die fast eineinhalb Zentner der Großmutter.

      Herr Kapsreiter mußte statt Bier Wein trinken, und Dagmar, die Jüngste, die bei Onkel Sepp und Tante Gertrud lebte, hatte eine Verabredung mit ihrer besten Freundin absagen müssen. Gisela und Robert saßen wie auf Kohlen, weil sie ihren Sohn einem Babysitter überlassen mußten, zu dem sie kein Vertrauen hatten, und eigentlich war nur Onkel Sepp geburtstagsheiter. Er hatte gerade einen »ganz dicken Fisch« an Land gezogen und sah die Zukunft in rosigstem Licht.

      Die Gesichter färbten sich zwar rosig vom Wein, aber sonst blieb die Stimmung gedrückt. Unlustig stocherte die Großmutter in der Lasagne herum. Herr Kapsreiter verzog bei jedem Schluck Wein das Gesicht, und als er endlich in Stimmung kam und in »Hoch soll sie leben« ausbrach, traten sie ihm von allen Seiten auf die Füße.

      »Geburtstagsfeste sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren«, murmelte er.

      Onkel Sepp war großzügig an diesem Abend. Dagmar bekam ein Eis mit heißen Himbeeren, Tante Gertrud und Gisela teilten sich eine Weincreme, und für die Männer ließ er noch einen Birnenschnaps kommen.

      Silke wollte nichts.

      »Du wirst genau wie deine Großmutter«, sagte Onkel Sepp. »Nur nichts probieren, was du nicht kennst. Du wirst auch einmal zu denen gehören, die nicht ins Ausland fahren, weil die Würstchen da anders schmecken als du es gewohnt bist.«

      Silke lächelte. Heute konnte er ruhig auf ihr herumhacken. Sie hatte die erste Woche im neuen Zimmer hinter sich, und sie hatte ein gutes Gefühl. Das war auch ein Grund zum Feiern. Onkel Sepp würde sie von ihrer Beförderung erst erzählen, wenn sie ganz sicher war.

      Sie schwieg und ließ die Tür nicht aus den Augen. Die Gänge zwischen den gelben Lichtinseln waren in Dunkelheit getaucht, aus der nur hin und wieder die weißen Hemden der Ober blitzten. Trotzdem hoffte sie, Armin sofort daran zu erkennen, wie er die Tür öffnete. Sie wußte, wie er ein fremdes Lokal betrat, daß er erst einmal vorstürmte, dann stehenblieb, die Schultern zusammenzog, als hätte er Angst vor seinem eigenen Mut bekommen.

      Wenn er kam. Das war noch nicht sicher. Von seinem Erscheinen hing alles ab, dieser Abend, ihre ganze Zukunft. Denn er wollte nur kommen, hatte er gesagt, wenn es heute klappte mit der Stelle, die man ihm vom Arbeitsamt zugewiesen hatte.

      Wenn es nur klappte!

      Die anderen wußten von nichts. Geburtstagsfeier ganz unter uns, hatte Onkel Sepp bestimmt.

      »Was dir deine Großmutter erlaubt, ist mir egal, heute mußt du dich mal nach mir richten!« Schließlich zahlte er ja auch.

      »Daß du immer noch mit diesem Polack herumziehst«, hatte er gesagt. »Als gäb’s nicht genug tüchtige Burschen bei uns.«

      »Armin ist kein Polack«, hatte Silke widersprochen.

      »Nein, nein, er ist Aussiedler. Er ist ›heim ins Reich‹ gekommen und spricht bloß noch ein bißchen Polnisch.« So war Onkel Sepp.

      Seitdem Silke als Lieblingsnichte total versagt hatte – sie wurde nicht das hübsche Mädchen, wie er erwartet hatte, sie war so passiv und ohne Phantasie, sie lehnte es ab, nach Frankreich zu reisen, als er es ihr ermöglichen wollte, und sie wurde nicht einmal Vorzimmerdame bei einem seiner Geschäftsfreunde –, hatte sein Interesse an ihr nachgelassen. Jetzt setzte er auf Dagmar. Dafür würde er sorgen, daß sie nicht vorzeitig vom Gymnasium abging, so wie Silke die Lehre beim Vater abgebrochen hatte. Er würde darauf achten, daß sie an die richtigen Freunde geriet, nicht an Türken, Itacker oder Polacken ...

      Als erstes sah sie einen riesigen Busch Japanischer Kirschblüten, der sich sanft schimmernd in die Dämmerung des Lokales vorschob, langsam, dann stockte er. Ein Ober stellte sich ihm in den Weg. Kurze Diskussion, dann schälte sich ein weißer Hemdkragen aus dem Mantel. Armin hatte sich in Schale geworfen.

      Er hatte es geschafft! Am liebsten wäre sie ihm entgegengelaufen und um den Hals gefallen.

      Sein breites Lächeln verschwand in den Japanischen Kirschblüten, als er sich vor der Großmutter verbeugte, und auch sein gemurmelter Glückwunsch ging in den Blumen unter.

      »Hoffentlich hast du sie nicht in den Schrebergärten geklaut?« flüsterte Silke.

      Die Großmutter wußte gar nicht, was sie sagen sollte vor Freude und Verlegenheit. Die Überraschung teilten alle mit ihr. Sie mußten ein bißchen zusammenrücken auf der schmalen Bank, damit Armin auch noch Platz fand.

      »Was zu trinken?« fragte Onkel Sepp. Ob Armin hungrig war, fragte er lieber nicht. Er setzte wohl voraus, daß der Anblick der leergegessenen Teller, die Peperonischwänze und verkohlten Pizzaränder Armin den Appetit verschlagen müßten.

      Armin bestellte ein Bier, und Onkel Sepp verzog das Gesicht wie sonst nur Herr Kapsreiter, wenn er Wein trinken mußte. Das Bier kam, Armin trank, stöhnte vor Behagen und tauchte mit einem weißen Schaumbart wieder aus dem Glas auf.

      »Prost, Großmutter!« sagte Armin und hob sein Glas ein zweites Mal. Die Großmutter stieß mit ihrem leeren Wasserglas an sein Bierglas. Silke hielt rasch ihr Weinglas dazwischen, und Dagmar wollte unbedingt wissen, wie es klingt, wenn man mit einem Colaglas an ein Bierglas stößt, und bald stießen alle mit den Gläsern an, reihum und kreuz und quer. Klingen, Lachen, aber dann war es wieder still.

      »Und Sie, junger Mann, was machen Sie so?« wandte Onkel Sepp sich an Armin.

      Silke