Simon gibt sich nicht geschlagen. Ingeborg Arvola

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Название Simon gibt sich nicht geschlagen
Автор произведения Ingeborg Arvola
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711449745



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überholt. Ich bin mehr auf Nervenkrankheiten spezialisiert.«

      Einen PC kaufen! Das wäre einfach super und beinahe gehe ich ihm in die Falle. Aber im letzten Moment unterdrücke ich mein frohes Lächeln, zucke gleichgültig mit den Schultern und tue so, als ließe mich das ziemlich kalt. Er lächelt hintergründig und nickt. Ekelhaft, dieses Lächeln. Ich ziehe mich zurück und merke, wie sehr ich diesen Typen hasse.

      Ich weiß, dass Jan in irgendeinem Krankenhaus liegt, hoffe aber, dass er bald wieder kommt. Wenn nicht, macht Thomas Hackfleisch aus mir oder sie mobben mich so schlimm, dass dauerhafte Schäden Zurückbleiben. Dann werde ich zum totalen Versager, der nichts auf die Reihe kriegt. Die Penner sind so, hat Mama gesagt, wenn sie mir klar machen wollte, dass ich mich um meine Schularbeiten kümmern sollte.

      Aber in unserem Städtchen gibt es nicht viele Penner. Hier wohnen nur gewöhnliche Familien, abgesehen von Mama und mir (und dem Stiefvater, grrr), ich weiß also nicht so genau, wie Penner sind. Ich glaube, sie sehen verhungert aus, wie die Afrikaner in den Katastrophengebieten mit den Kindern und den geschwollenen Bäuchen, weil sie nie richtige Hamburger oder Würstchen kriegen, sondern nur Mehlsuppe und Grütze wie die Leute hier in Norwegen, bevor sie Erdöl gefunden haben und reich wurden.

      Am schlimmsten ist es, wenn mich Thomas und die anderen damit mobben, dass Jans Vater im Gefängnis sitzt. Das behaupten sie jedenfalls. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Der Lehrer hat weder ja noch nein gesagt, als ich ihn gefragt habe. Aber warum sollte Jans Vater im Gefängnis sein? Bei solchen Fragen fallen mir die dunklen Flecken auf dem Teppich ein und es läuft mir kalt den Rücken hinunter. Aber dann schubst mich Thomas von hinten und kläfft: »Du bist ja so bescheuert, Simon!«

      Heute hat der Stiefvater gekocht und er ruft mich und Mama zum Essen. Meine Laune bessert sich, als ich sehe, dass es Würstchen gibt. Die hat der Schleimer wahrscheinlich gemacht, weil er sich bei mir einschmeicheln will. Er kennt inzwischen meine Schwachstellen: Würstchen und Geld. Mama kommt mit abwesendem Blick aus ihrem Atelier und setzt sich zu uns.

      »Würstchen!«, ruft sie. »Du magst die Dinger offenbar genauso gern wie Simon?«

      »Ich kann mir nichts Besseres vorstellen«, sagt der Schleimer.

      Ich werfe ihm und Mama einen misstrauischen Blick zu. Was treiben sie jetzt wieder für ein Spiel mit mir?

      »Wisst ihr, dass Würstchen aus dem Fleisch bestehen, das man zu nichts anderem mehr gebrauchen kann, also dem Abfall?«, fragt Mama.

      »Das ist nicht wahr«, sage ich.

      »Nein«, sagt der Psychodoktor, »das ist nur eine Erfindung von einigen armen Müttern, damit sie im Geschäft keine Würste kaufen müssen.«

      Ich starre den Stiefvater an und vergesse zu kauen. Hat er das ernst gemeint? Ich schaue prüfend zu Mama.

      »Weißt du, Simon«, sagt Mamas Freund mit lachender Stimme, »dass fünf Packungen Würstchen so viel kosten wie eine Farbtube, von denen deine Mutter Tausende in ihrem Atelier hat?«

      »Keine Partei ergreifen, Liebster!«, sagt Mama.

      »Okay«, gibt er nach. »Erzähl mir dafür, wie es sich eine arme Künstlerin leisten kann, in einem so großen Haus zu wohnen? Ist der eigentliche Besitzer draußen im Garten vergraben worden?«

      »Das ist Großvaters Haus«, rutscht es mir raus, bevor ich darüber nachdenke. Und ich erzähle dem Psychodoktor von meinem Großvater, an den ich mich nicht erinnern kann, weil ich ihm fast nie begegnet bin.

      »Er war ein richtiger Haustyrann«, erklärt Mama.

      »Und als Mama ein Kind war, wurde ihr Vater der Bürgermeister genannt, weil er sich immer in die Angelegenheiten anderer Leute eingemischt hat. Einmal hat der Bürgermeister gesehen, wie eine junge Mutter mit Kinderwagen und einer Zigarette im Mund an seinem Haus vorbeispaziert ist. Da hat er sofort das Jugendamt angerufen! Wenn Mama meint, dass ich besonders stur bin, sagt sie, ich bin wie Großvater.«

      »Und das ist nicht als Kompliment gemeint, Simon«, wirft Mama ein.

      »Dann ist der Bürgermeister gestorben und wir sind hierher in dieses Städtchen gezogen. Ich war damals fünf Jahre alt und weiß noch, wie sich Mama gefreut hat. Sie hat gesungen und gelacht und die weißen Zimmer alle gelb, rot und blau gestrichen. Und ich bin mit Farbspritzern auf Hemd und Hose in der Nachbarschaft herumgelaufen, weil ich immer irgendwo an der feuchten Farbe hängen blieb. Mama hat erzählt, dass eine Woche nach unserem Einzug jemand vom Jugendamt vor der Tür stand. Einer der Nachbarn hat mich mit den Farbflecken gesehen und dort angerufen.«

      »Wie früher der Bürgermeister«, kichert Mama. »Kaum war die Tante vom Jugendamt weg, habe ich den Pinsel genommen und auf alle Kleidungsstücke von Simon große Flecken gemalt. Dann habe ich ihn zu einem Rundgang durch das Städtchen losgeschickt. Für jede Straße, durch die er ging, bekam er zehn Kronen.«

      Ich nicke grinsend und stopfe die letzten Würstchen in mich rein. Da begegne ich dem Blick von Mamas Freund und er sieht glücklich aus. Plötzlich wird mir klar, dass ich während des ganzen Essens geredet habe. Ich habe ihm Dinge erzählt wie in einer völlig normalen Familie am Mittagstisch, in bester Stimmung. Ich richte mich auf und mache ein grimmiges Gesicht. Der Psychodoktor lächelt sanft.

      »Nimm’s nicht zu schwer, Simon«, sagt er, »ich werde es keinem erzählen.«

      Später versuche ich den harmonischen Mittagstisch bei Mama ungeschehen zu machen. Ich erkläre ihr immer wieder, dass ihr neuer Freund eben auch ein Mann sei, und sie müsse doch begreifen, was sie für einen fürchterlichen Fehler begehe. Aber Mama schüttelt nur den Kopf und sieht verliebt aus. Einfach hoffnungslos mit den beiden. Kein Wunder, dass ich die meiste Zeit nicht zu Hause bin. Sie turteln miteinander, dass es nicht auszuhalten ist. Sie kichern und küssen und tanzen und finden es so »hübsch« (ihh, was für ein Wort!) mit den Kerzen auf den Fenstersimsen.

      Nach dem harmonischen Abendessen sehe ich nur noch einen Ausweg: die Flucht. Ich hecke den Plan aus, nach Amerika abzuhauen. Und das hätte ich vielleicht auch tun sollen. Aber es gibt da auch noch einen zweiten Plan: diesen Stiefvater loszuwerden. Dieses Vorhaben versuche ich in die Tat umzusetzen. Ich halte einen Arm in die Türöffnung und werfe mit der anderen Hand die Tür mit aller Kraft zu. Das tut höllisch weh. Ich muss mich mit geschlossenen Augen in eine Ecke setzen und bis fünfhundert zählen, damit ich nicht zu heulen anfange. Als ich die Augen wieder öffne, zieht sich ein dunkelblauer Streifen quer über meinen Unterarm. Das müsste reichen, denke ich zufrieden und gehe ins Bett.

      Als Mama kommt, um mir Gute Nacht zu sagen, schluchze ich und sage, dass mich der Stiefvater mit einem Stock geschlagen hat.

      »Was sagst du da, Simon?«

      »Der Stiefvater hat mich geschlagen«, flüstere ich, diesmal etwas lauter.

      »Hör auf mit dem Blödsinn, Simon. So etwas Gemeines sagt man nicht.«

      »Er hat es aber getan!«

      »Ich will nichts mehr davon hören. Manchmal übertreibst du einfach, Simon. Mit so was macht man keine Späße.«

      »Aber schau doch her!«, rufe ich und zeige ihr den Arm.

      »Schluß jetzt! Ich liebe ihn. Und daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

      »Dein Freund ist genauso wie Jans Papa. Manchmal wird er gefährlich böse und schlägt um sich. Obwohl ihn Jans Mama liebt. Kann sein, dass du den Kerl liebst, Mama, aber du weißt ja: Liebe macht blind.«

      »Das ist etwas anderes, Simon. Jans Papa ist gewalttätig. Er sitzt im Gefängnis. Ich dachte übrigens, du wüsstest, was passiert ist. Hat es dir niemand erzählt?«

      »Nein, niemand«, antworte ich. »Keiner weiß etwas, aber alle reden davon. Ist es wahr?«

      »Ja, es ist wahr, aber jetzt denk nicht mehr daran und schlaf! Und hör auf, so gemein über deinen Stiefvater zu reden.«

      Mama gibt mir einen Kuss und verlässt mein Zimmer. Ich höre, wie sie sich halblaut mit dem Psychodoktor unterhält. Gewalttätig? Jans Papa ist gewalttätig.