Engadiner Hochjagd. Gian Maria Calonder

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Название Engadiner Hochjagd
Автор произведения Gian Maria Calonder
Жанр Языкознание
Серия Ein Mord für Massimo Capaul
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783311701781



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>Gian Maria Calonder

      Engadiner Hochjagd

      Ein Mord für Massimo Capaul

      Roman

      Kampa

      I

      Als Capaul am Mittwochmorgen um halb acht in Uniform die Mansarde im Gasthof Zum Wassermann verließ und in die Gaststube kam, saß seine Wirtin Bernhild kopfschüttelnd an ihrem kleinen mausgrauen Laptop, den sie mit einem Abziehbild des Eishockeyclubs St. Moritz verziert hatte. Sie trug das übliche Putzkleid und eine Schürze mit kleinen Fliegenpilzen. Ihr spärliches Haar war frisch getönt, karottenrot diesmal, dazwischen schimmerte die rosige Kopfhaut durch. Der zärtliche Blick, den sie ihm schenkte, als er sich zu ihr setzte, mahnte ihn, sich bald nach einer eigenen Wohnung umzuschauen. Nur war das im Oberengadin nicht einfach, umso mehr, als sein Lohn als Polizeidebütant noch mager war und er ziemlich hohe Schulden hatte.

      »Hast du gehört?«, fragte sie und latschte in ihren grasgrünen Crocs hinter die Theke, um ihm Kaffee zu machen. »Am Linard Pitschen war gestern Abend ein Bergsturz. Wie aus dem Nichts kam plötzlich eine dicke graue Staubwolke aus der Val Lavinuoz und ist über Lavin gerollt.«

      »Ach deshalb! Ich hatte mich schon gewundert, wieso die Fenster so verstaubt sind. Sie sehen aus wie gepudert.«

      Die Brotscheiben im Körbchen waren in Plastik gewickelt gewesen. Er strich sich ein Marmeladenbrot und versuchte abzubeißen, es ließ sich aber nur reißen.

      »Hallo? Ich sagte ›grau‹«, erklärte Bernhild inzwischen. »Das an den Fenstern ist Saharastaub, roter Saharastaub. Der ist zwar auch erstaunlich, hat aber nichts mit dem Bergsturz zu tun.«

      »Wer weiß«, sagte Capaul, um sich zu retten, »im Grunde hat alles mit allem zu tun.«

      Sie stellte ihm seufzend den Kaffee hin.

      »Du elender Besserwisser. Genauso gut kann man sagen, es ist eine Krankheit gewisser Leute, dass sie überall krampfhaft Zusammenhänge suchen.« Sie stellte sich hinter seinen Stuhl und ordnete notdürftig Capauls dunkles verstrubbeltes Haar. »Du hast doch heute dein Gespräch. Etwas frisieren hättest du dich schon können.«

      »Wieso krampfhaft? Zusammenhänge sind doch schön! Und ja, ich habe das Gespräch. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass Gisler sich um meine Frisur schert. Er ist mein Offizier, nicht mein Zuhälter.« Er grinste.

      »Sag mal, bist du überhaupt nicht nervös?«, fragte sie, wartete die Antwort aber gar nicht ab. »Wenn ich recht verstanden habe, geht es um nichts weniger als deine Zukunft. Suspendiert bist du schon, dabei hast du die Stelle nicht mal richtig angetreten. Heute heißt es Top oder Flop, oder nicht?« Sie sah zu, wie Capaul schweigend Schlieren von geronnenem Rahm aus seinem Kaffee fischte, dann fuhr sie fort: »Und was deine Frisur angeht: Doch, deinen Gisler wird das hoffentlich kümmern. Ein Polizist muss Vertrauen erwecken. Und dazu gehört eine ordentliche Frisur.«

      »Oh, gewissen Leuten gefalle ich auch unfrisiert ganz gut.«

      »Das weiß ich. Ich rede aber nicht von Verführung, sondern von Vertrauen. Das sind Gegensätze.«

      Capaul lachte, dabei verschluckte er sich.

      »Du redest heute einen Unsinn nach dem anderen«, stellte er fest, als er sich erholt hatte. »Was ist los mit dir?«

      Sie setzte sich wieder an den Laptop. »Mir egal, ob du es für Unsinn hältst, ich weiß, wovon ich rede. Außerdem verdreht der Saharawind die Gedanken, das weiß jedes Kind. Oder besser gesagt der Föhn. Bei uns weht der Saharawind ja als Föhn, und Föhn verdreht die Gedanken.«

      »Schon wieder so ein Blödsinn! Ich denke, du glaubst nicht an Zusammenhänge?«

      Er wischte sich den Mund ab und erhob sich.

      Beleidigt sah sie von ihrer Lektüre auf. »Ich sage nicht, dass es keine gibt. Es hängt nur nicht alles mit allem zusammen.«

      »Was war denn der Grund für den Bergsturz?«

      Sie überflog den Bildschirmtext. »Die Hitze offenbar. Es ist auch nicht normal, dass wir hier oben im November noch zwanzig Grad haben.«

      Capaul triumphierte. »Also doch der Saharawind!«

      »Klugscheißer.« Sie warf eine Papierserviette nach ihm, doch die flog nicht sehr weit. »Ich sage nur, der Staub am Fenster … Ach! Wären alle Polizisten so wie du, würde die ganze Bevölkerung im Knast landen.«

      »Unlogisch.«

      »Was soll daran unlogisch sein?«

      »Die Polizisten können die anderen nur einlochen, wenn sie selbst nicht eingesperrt sind. Also sitzt nicht die ganze Bevölkerung.«

      Diesmal warf Bernhild einen Löffel, aber Capaul entwischte gerade noch durch den speckigen, vergilbten Plastikvorhang am Eingang.

      Doch, er war nervös. Und wenn Capaul nervös war, wurde er albern. Er trat nach draußen und stieg die enge Gasse in den Dorfkern von Samedan empor, in dem das Polizeirevier lag. Obwohl die hohen Häuser sicherlich den Wind bremsten, fühlte es sich an, als durchschreite er die Luftschleuse in ein Kaufhaus. Er wollte tief durchatmen, um sich zu entspannen, doch die Luft war heiß und trocken, schon beim ersten Einatmen pappten ihm Nase und Mund zusammen, außerdem schmerzte der Staub in den Augen.

      Als er den Polizeiposten erreichte, musste er klingeln, er hatte wegen seiner Suspendierung noch nicht einmal einen Schlüssel. Sein Kollege Linard öffnete, die beiden verband keine Liebe. Linard hatte ihn wegen Falschparkens in den letzten Tagen schon zweimal gebüßt. Er telefonierte gerade und winkte nur lässig, dann zeigte er den Flur hinab.

      Gisler erwartete Capaul im hinteren Sitzungszimmer. Auch er hatte offenbar mit dem Staub zu kämpfen. Als Capaul eintrat, saß er halb abgewandt und schnäuzte sich erst ausgiebig und sonor in ein Tempotaschentuch, dann reinigte er die Nasenlöcher aus jedem erdenklichen Winkel, indem er das Taschentuch immer von Neuem um den kleinen Finger drapierte. Nachdem er das Taschentuch im Papierkorb versenkt hatte, stöhnte er leise und fuhr noch zwei-, dreimal mechanisch über den buschigen Schnurrbart. Dann endlich streckte er Capaul die Hand hin.

      »Ganz schön staubig draußen«, bemerkte Capaul.

      Doch Gisler schien das Thema abgeschlossen zu haben. Er betrachtete Capaul mit bemüht wohlwollendem Blick, dann wies er auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Sitzungstischs.

      »Sie sind ja noch in der Probezeit«, stellte er fest, »genauer gesagt zu Beginn Ihrer Probezeit. Trotzdem waren Sie bereits fünf Tage wegen Reglementsverstößen freigestellt und zehn Tage krankgeschrieben.«

      Capaul schaffte es, diplomatisch zu bleiben. »Ich freue mich darauf, endlich den ordentlichen Dienst zu beginnen.«

      »Glauben Sie denn überhaupt noch, dass Sie für die Polizei taugen?«

      Capaul versuchte, Lockerheit auszustrahlen. »Vor nicht zehn Minuten hat man mir gesagt: ›Wären alle Polizisten wie du, säße das ganze Land hinter Gittern.‹ Abgesehen vom logischen Fehlschluss halte ich das für ein Kompliment.«

      Gisler legte den Kopf schief. »Welchem Fehlschluss?«

      »Nun, die Polizisten sitzen selbstverständlich nicht und gehören doch auch zur Bevölkerung.«

      »Was macht Sie da so sicher?«

      Capaul stutzte. »Was? Dass wir Teil der Bevölkerung sind?«

      »Quatsch, dass ein Polizist wie Sie nicht hinter Gittern landet.«

      Capaul war sich keiner konkreten Schuld bewusst, trotzdem wurden seine Hände sofort schwitzig, und er hielt sich unwillkürlich an der Tischplatte fest.

      Gisler wartete noch immer auf Antwort, sein Blick war nicht grimmig, eher freundlich neugierig.

      Capaul war erleichtert, er lachte verlegen. »Ich glaube an unser Rechtssystem«, antwortete er schließlich. Das war hochtrabend, aber ihm fiel nichts Besseres ein. »Ich vertraue darauf, dass jeder bekommt, was er verdient. Selbst wir Polizisten.«

      »Und was haben Sie verdient?«

      Capaul