"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer

Читать онлайн.
Название "Ich habe neun Leben gelebt"
Автор произведения Joseph Melzer
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783864898211



Скачать книгу

Den Zionismus mochte ich nicht, und die Deutschen mochten mich nicht.

      Tatsächlich waren auch die Gründer der zionistischen Bewegung säkulare und zum Teil antireligiöse Juden. Man darf auch nicht vergessen, dass Herzl zwar einen Staat für die Juden forderte – keinen jüdischen Staat –, aber grundsätzlich war es ihm egal, wo dieser Staat liegt. Er war sogar bereit, die britische Kolonie Uganda als Staat der Juden zu akzeptieren. Das Angebot wurde 1903 vom britischen Kolonialsekretär Joseph Chamberlain an Theodor Herzl ausgesprochen. Der Vorschlag war eine Reaktion auf die Pogrome gegen die Juden in Russland und auf die aussichtslose Situation für jüdische Besiedelungspläne im damals noch osmanischen Palästina. Herzl besaß sogar die Naivität, diesen Plan auf dem sechsten Zionistenkongress von 1903 in Basel zu präsentieren. Es löste unter den Delegierten eine heftige Debatte aus. Nach Uganda in Zentralafrika wollte kein Jude auswandern. Zwar wurde der Plan sehr bald auf Druck der traditionellen Ostjuden annulliert, die sich nur »Eretz Jisroel« vorstellen konnten, aber ein Misstrauen blieb, und der Judenstaat blieb das Steckenpferd einer Minderheit von Idealisten und Träumer. Selbst als die britische Regierung durch ihren Außenminister Lord Balfour ankündigte, dass sie bereit sei, eine »Heimstätte« für die Juden in Palästina zu gewähren, hat das keine Masseneinwanderung ins Heilige Land verursacht. Und wenn am Ende der Zionismus stark und stärker wurde, dann ist es nicht zuletzt der antijüdischen Propaganda zu verdanken, und insofern hatten auch die Zionisten nichts dagegen, dass der Antisemitismus wuchs, denn er zwang die Juden, sich mit den zionistischen Ideen zu identifizieren. So zum Beispiel auch mich. Ganz besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Katastrophe des europäischen Judentums bekannt wurde. Viele Juden, besonders in Amerika, fühlten sich schuldig und verantwortlich für das Schicksal ihrer Schwestern und Brüder und verpflichteten sich, den Überlebenden zu helfen, und diese Hilfe konzentrierte sich auf den Staat Israel. Es war aber weniger eine Identifikation mit dem Zionismus als eine Beruhigung des schlechten Gewissens, weil sie die Shoah nicht verhindert haben, nicht verhindern konnten. Nichtdestotrotz war es eine gewaltige Unterstützung der Zionisten, die schließlich zur Gründung des Staates Israel führte.

      Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, muss ich feststellen, dass es immer vom Schicksal, aber nicht von mir bestimmt war. Wie es verlief, war kaum je meine eigene Entscheidung gewesen. So aber ist das Leben anderer Juden auch gewesen. Sie waren nicht, wie Joseph Roth es in seinem Roman beschrieb, auf der Wanderschaft, sondern waren Getriebene und Vertriebene. Wer Geld und Wertsachen hatte, nahm sie mit, und wer wie ich nichts hatte, nahm dieses Nichts mit, das bei mir aus der Liebe zum Buch bestand. So konnte ich diese Liebe, die in Berlin begann, auch nach Jerusalem mitnehmen, von dort dann nach Paris und sodann wieder »Jerusalem« und schließlich zurück nach Deutschland.

      Aber ich möchte dem Leser meine Geschichte von Anfang an erzählen.

      Galizien, die östlichste Provinz der österreichischen K.-u.-k.-Monarchie, war unterteilt in einen östlichen und einen westlichen Teil. Nach dem Ersten Weltkrieg war diese Bezeichnung verschwunden und mit ihr ein Großteil der dort seit Jahrhunderten ansässigen Bevölkerung. Der eine unter der polnischen Herrschaft befindliche Teil wurde Małopolska (Kleinpolen) genannt, der andere Wielkopolska (Großpolen). Nach 1945 fiel der östliche Teil an Russland und hieß fortan Zapadnie. Heute gehört er zur Ukraine. Uns interessiert aber nicht die Gegenwart, sondern die »gute, alte Zeit«.

      Ost- und Westgalizien – so die Bezeichnung im Habsburger Reich – waren in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung und ihrer Mentalität durchaus verschieden voneinander. Während der östliche Teil von fünf unterschiedlichen Minderheiten bevölkert war – Ruthenen, Ukrainern, Huzulen, Polen und Juden –, bewohnten den westlichen Teil zwei homogene: Polen und Juden. Im Osten bildeten die griechisch-orthodoxen Ruthenen und die Huzulen die Mehrheit der Bewohner, ihnen gegenüber standen die römisch-katholischen Polen.

      Polen und Juden wohnten vorwiegend in Städten. Die Juden waren mehrheitlich kleine Handwerker (mehr als man je hätte brauchen können) und Händler (von denen es mehr gab als Kunden). Weil Geld immer rar war, konnten sich die meisten kaum mehr leisten als gesalzene Heringe, einen Kamm für die Braut und einmal im Jahr ein Paar billige Schuhe. Aber auch fromme oder frömmelnde Thoraschüler und Schnorrer sowie Taugenichtse – »Luftmenschen« oder »Luftexistenzen«, wie sie sich selbst ironisch nannten – gab es zahlreich. Auf solche Selbstironie konnten die Juden kaum verzichten, schon eher auf ihre kärgliche Mahlzeit. Mein Freund Manès Sperber schrieb dazu: »Die Flickschneider und -schuster waren die meistbeschäftigten Handwerker, denn ohne sie hätten viele Kinder unzureichend bekleidet und auch im Winter barfuß gehen müssen. Manche Männer fasteten nicht nur an den zahlreichen Fastentagen, sondern überdies jeden Montag und Donnerstag, damit auch die Kinder oder die Enkel etwas mehr zu essen hatten. Den Frauen ging es nicht viel besser.

      Es gab bei den Juden Bettler aller Art: So zum Beispiel die »Verschämten«, die immer nur eine Anleihe machen wollten, die sie aber nie zurückzahlen konnten. Dann gab es die professionellen Bettler, die eingesessenen und die wandernden, die zumeist in Gruppen auftraten. Es gab die Armen, die still hungerten und froren und auf Wunder warteten, die tatsächlich hin und wieder eintraten, wenn auch meist zu spät. Eine kleine Geldsendung eines Verwandten aus Amerika, eine Erbschaft, die einige Kronen einbrachte. Das größte Wunder war, wenn die Kinder in die Fremde fuhren und den darbenden Eltern gelegentlich einige Dollar schickten.

      Auch wenn so viele an Hunger litten, musste doch niemand verhungern. Man erzählte: Mitglieder der Gemeinde weckten den Rabbi am frühen Morgen: »Es ist etwas Furchtbares geschehen«, klagten sie. »In unserer Mitte ist einer hungers gestorben, man hat ihn soeben tot in seiner Stube aufgefunden«. Darauf der Rabbi: »Das kann nicht sein. Ja, es ist unmöglich. Hättet ihr ihm ein Stück Brot verweigert, wenn er es von euch verlangt hätte?« – »Nein«, antworteten sie, »aber Elieser war zu stolz, um etwas zu bitten.« – »Also sagt nicht, dass mitten unter uns einer hungers gestorben ist, denn er ist an seinem Stolz zugrunde gegangen.«

      Und so arm die Juden auch waren, so glücklich waren sie auch. Und am glücklichsten waren sie, wenn der Schabbat kam und sie am Tisch saßen und vom geflochtenen Weißbrot aßen, von der süßlichen Challa. Ja, es war eine bis zur Absurdität maßlose, groteske Armut, jedoch keine Armseligkeit, weil die Menschen nicht nur innigst glaubten, sondern auch zu wissen glaubten, dass dieser Zustand nur vorübergehend sei und sich bald ändern würde, auch wenn die Not schon seit Jahrhunderten dauerte, denn jeden Augenblick konnte man mit der Ankunft des Messias – der endgültigen Erlösung – rechnen. Es gab zwar vereinzelt Kleinmütige und Zweifler, die befürchteten, dass sie die Erlösung nicht mehr erleben würden, doch kaum einen, der nicht an den Messias und sein nahes Kommen glaubte.

      Die Ostjuden sahen kaum die Schönheit des Landes, in dem sie lebten. Ihr Leben war von Verboten und Einschränkungen bestimmt. Sie gingen zumeist als Bettler und Hausierer über Land und hatten kein Auge und keinen Sinn für die Natur. Die große Mehrheit kannte den Boden nicht, der sie ernährte. Sie fürchteten sich, in fremde Dörfer einzukehren und mit Peitschen vertrieben zu werden. Der Ostjude hatte nur Pflichten, keine Rechte. Einem solchen Schicksal entgeht man schwer, und anstatt davor zu fliehen, fanden sich viele mit ihm ab.

      Deshalb war auch der jüdisch-nationale Gedanke im Osten so lebendig. Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, wurde dort wie ein neuer Messias oder zumindest wie ein zeitgenössischer Moses, der das Volk Israel ins Gelobte Land führen wird, verehrt. Die Idee einer »jüdischen Nation« verbreitete sich im Osten sehr schnell, auch wenn viele orthodoxe Rabbiner den »Zionismus« verfluchten, weil sie darin eine Gefahr für die Juden und das Judentum sahen. Und als der Zionismus sich immer mehr verbreitete und die orthodoxen Rabbiner immer mehr fluchten, da tauchten national-religiöse Rabbiner auf, die im Zionismus ein Zeichen dafür sahen, dass der Messias schon unterwegs sei und jeden Augenblick erscheinen könne. Der Zionismus wurde zum Vorboten des Messias. Damit machten sie den Juden