Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch. Kirsten Holst

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Название Ganz nah und doch so fern - Jugendbuch
Автор произведения Kirsten Holst
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788726569483



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zu haben schienen. »Wir können übrigens auch Claus aus dem Spiel lassen«, meinte Lisbeth. »Der hat unter dem Flügel gelegen und die ganze Nacht brav gelesen. Noch dazu Gedichte. Aber Claus war ja schon immer ein Fall für sich.«

      Entweder wußte sie mehr über Die Flucht des Hirsches, als sie zugeben wollte, oder das mit den Gedichten war einfach nur gut geraten.

      »Stimmt das, Claus?« rief Hetty überrascht. »Ja, aber warum denn bloß?«

      »Warum nicht?« fragte ich genervt. Ich hatte gedacht, ich hätte sie endlich zum Mundhalten gebracht, aber sie glotzte mich schon wieder aus ihren leeren Spiegeleiaugen an. Sie war abscheulich, und ich war wütend auf Fotto. Wenn diese fette Fuhre nicht abgehauen wäre, dann säße ich jetzt nicht Hetty gegenüber.

      »Ich mein’ ja nur, hier sind so viele süße Mädchen, da hättest du doch sicher eine spannendere Beschäftigung finden können.« Sie ließ ihren Blick um den Tisch wandern und lächelte.

      Ehe ich antworten konnte, sagte Mini leise und vertraulich zu ihr: »Ja, verstehst du denn nicht, Hetty, Claus interessiert sich nicht für Mädchen.«

      »Nicht?« fragte Hetty unsicher und sah ihn verwirrt an.

      »Nein. Bist du noch nie auf die Idee gekommen?«

      »Nein ... nein, eigentlich nicht.« Sie lächelte entschuldigend. Sie fand wohl, daß das ihrer Aufmerksamkeit einfach nicht hätte entgehen dürfen. Wo sie doch immer damit protzte, daß sie einen »Ganzheitsüberblick« über ihre Schüler hätte. Eine richtige Pädagogin mußte alles, einfach alles über ihre Schüler wissen, das war ihre Grundüberzeugung.

      Sie sah mich fragend an. »Stimmt das, Claus?«

      Ich warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Mit ihr konnte ich jedenfalls nichts anfangen, mit ihren fettigen Haaren, ihrem Hängebusen, ihrem schlappen Jeansrock und ihren blassen Spargelbeinen in den flachen braunen Sandalen. Sie sah aus, als ob sie in der heißesten Zeit der Frauenbewegung verlegt und durch einen Irrtum erst zehn Jahre später wiedergefunden worden wäre.

      Ich konnte auch mit Agathe nichts anfangen, mit dieser sauren Gurke, oder mit Lisbeth, die mir das alles mit ihrer blöden Bemerkung eingebrockt hatte, oder mit meiner nervigen kleinen Schwester. Mini hatte schon recht – ich konnte mit Mädchen überhaupt nichts anfangen.

      »Natürlich stimmt das«, sagte ich. »Was haben Mädchen schon, was wir nicht haben?«

      Das war nun keine intelligente Bemerkung, und Søren brach gleich in aasiges Lachen aus. »Ich könnte durchaus zwei Dinge nennen«, sagte er und stupste Lisbeths eine Brust an.

      Mini senkte die Stimme. »Du kannst es schließlich auch gleich erfahren, Hetty. Claus zieht Knaben vor.«

      »Ja, aber immer«, sagte ich für einen Moment voller Überzeugung, und dachte an die Wichtel, die ich im Fußball trainierte. Natürlich waren die mir lieber als ein Haufen flennender kleiner Mädels. Davon war damals im Verein auch die Rede gewesen, aber ich hatte abgelehnt.

      Uns war klar, daß unsere Bemerkungen mißverstanden werden konnten; darauf hatte Mini es schließlich angelegt, aber ich glaube nicht, daß wir wirklich dachten, Hetty könnte uns auf den Leim gehen. Aber genau das tat sie, und sie genoß jede Sekunde davon. Ihre Pekinesenaugen strahlten vor Sensationslust, sie bekam wieder rote Flecken am Hals, und sie befeuchtete sich mit der Zunge die Lippen, als sie sich zu mir vorbeugte und ihren Blick über mein Gesicht gleiten ließ, klebrig wie eine Schnecke auf Wanderschaft: »Weißt du, was ich finde, Claus?« fragte sie und stierte mich an.

      Ich schüttelte den Kopf, ich hatte keine Ahnung, was sie fand, und es war mir auch völlig egal.

      »Ich finde es ganz toll, daß du das so einfach zugibst. Ganz toll.« Ich zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Es ist doch so.« Mini bebte vor unterdrücktem Lachen, und Lisbeth gab ein paar seltsame Hustentöne von sich, aber zum Glück stand Hetty auf, ehe alle losprusteten: sie wollte nämlich packen.

      »Meine Fresse«, lachte Mini, sobald sie außer Hörweite war. »Wie blöd darf jemand eigentlich sein?« Er sagte mit Falsettstimme: »Ich finde das ganz tall, sießer Claus. Echt tall!« Er schüttelte den Kopf. »Die Frau ist doch total schwachsinnig!«

      »Also bitte«, sagte Palle mit Lehrerstimme.

      »Na, entschuldige mal«, sagte Mini. »Ich weiß ja, daß sie eure Kollegin ist und so weiter, aber sogar ihr müßt das doch sehen können. Die Alte ist verrückt, alles kann man ihr einreden.«

      »Eben deshalb weiß ich nicht, ob euer kleines Spielchen eben sehr klug war«, antwortete Palle.

      »Es war total idiotisch!« warf Thomas dazwischen. Er klang gereizt, fast schon wütend. »Und es war blöd von dir, auf den Witz einzugehen, Claus.«

      »Ach, hör doch auf!« sagte Mini abwehrend. »Es war bloß ein Jux. Und sie hätte es schließlich nicht so verstehen müssen. Das war doch ihre eigene schmutzige Phantasie.«

      »Ihr wißt genau, daß sie hört, was sie hören will, und daß sie sich immer für die ›spannendste‹ Interpretation entscheiden wird. Sie ist vielleicht nicht dumm, aber sie ist total eingleisig, und das ist gefährlich.«

      Palle und Niels Ole waren aufgestanden. Sie hatten offenbar keine Lust, sich noch weiter an der Diskussion zu beteiligen, und das konnte ich gut verstehen. Denn dann würden sie Hetty verteidigen müssen, und das war sogar für Lehrer eine hoffnungslose Aufgabe. Das einzig Positive, das sich über sie sagen ließ, war, daß sie ein Superexamen hingelegt hatte. Und an ihr konnte man ja sehen, wie viel, oder besser gesagt, wie wenig das wert war!

      »Keine Panik, Thomas«, sagte Mini. »Sogar Hetty muß doch raffen, daß das bloß ein Jux war, wenn sie es sich gut überlegt.«

      »Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte Thomas. Er klang immer noch nicht nur genervt, sondern sogar besorgt, und dafür konnte ich einfach nicht den geringsten Grund entdecken.

      »Ich hoffe, das Frühstück hat trotzdem geschmeckt«, sagte Hannah, die perfekte Gastgeberin, und beendete damit die Diskussion. Aber natürlich sollte Thomas recht behalten. Es gab jeden Grund zur Besorgnis.

      7

      Der Bus setzte uns schließlich dort ab, wo er uns am Freitag aufgelesen hatte, und ich ging den Rest meines Heimweges zu Fuß.

      Wir wohnen in einem Reihenhaus. Im letzten von zehn total identischen kleinen roten Häusern, Haus – Garage, Haus – Garage, Haus – Garage, in der ganzen Straße. Es ist nicht ganz so öde, wie es sich anhört, auch wenn an diesem Tag alles ungewöhnlich langweilig und sonntäglich trist aussah.

      Wir waren erst vor zehn Monaten dort eingezogen. Vorher hatten wir in einer Wohnung in einem älteren Zweifamilienhaus gelebt, und wir waren gern umgezogen. Wir hatten jetzt mehr Platz, und das Haus war viel besser eingerichtet.

      Auf dem Weg zu unserem Haus überlegte ich, ob ich an den Strand gehen oder ein paar Stunden schlafen sollte. Ich wurde langsam müde, aber es kam mir einfach nicht richtig vor, bei diesem schönen Wetter im Haus herumzuhängen, man wußte ja nicht, wie lange es anhalten würde, und außerdem schlafe ich auch nicht gern tagsüber.

      Das Haus wirkte leer und verlassen, als ich in die Diele kam, und ich nahm an, daß meine Mutter und Rikke am Strand wären. Aber als ich die Tür zu meinem Zimmer aufmachte, rief meine Mutter: »Bist du das, Claus?«

      »Ja, wo steckst du?«

      »In der Küche. Komm, laß dich ansehen!«

      Sie schien zu erwarten, daß ich mich in den beiden Tagen bis zur Unkenntlichkeit verändert hätte.

      Sie saß am Tisch in der Eßecke und nähte.

      »Du nähst?« rief ich überrascht, weil das eigentlich nicht ihre starke Seite ist. »Warum bist du nicht an der frischen Luft? Ich dachte, ihr wärt am Strand!«

      »Rikke ist auch gegangen. Und gestern waren wir fast den ganzen Tag am Strand. Das hat mir gereicht. Ich hab’