Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3). Claire McFall

Читать онлайн.
Название Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)
Автор произведения Claire McFall
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783038801375



Скачать книгу

dieser Enge unvermeidlich war –, konnten sie sich nicht ausweichen. Ein einziger Schritt über die Türschwelle hätte Höllenqualen für Susanna bedeutet, denn die allgegenwärtigen Dämonen wären sofort über sie hergefallen.

      Ganz zu schweigen von Jack, auf den etwas weitaus Schlimmeres als der Tod gewartet hätte.

      Es war ein jämmerliches Leben, das sie hier führten, seit … sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit der Inquisitor sie ins Niemandsland zurückverbannt hatte. In das wahre, ungeschönte Niemandsland, das in blutiges Rot getaucht war und wo die Dämonen auch bei Tageslicht jeden Eindringling verschlingen konnten, der so dumm war, sich hineinzuwagen.

      Die Rückwand des Schutzhauses war von oben bis unten mit eingeritzten Strichen bedeckt. Jeder einzelne davon markierte einen weiteren Tag, den sie in ihrem Niemandsland-Gefängnis überstanden hatten. Susanna hatte inzwischen den Überblick verloren und es waren zu viele Striche, um sie auf einen Blick erfassen zu können, obwohl seit Tagen keine neuen dazugekommen waren.

      »Jack, mach die Tür zu«, wiederholte sie.

      Jack verzog nur den Mund – noch immer sträubte sich alles in ihm dagegen, Befehle von ihr entgegenzunehmen – und beugte sich weiter vor. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, er würde es tatsächlich durchziehen – würde aus der Tür treten, um dieser ausweglosen Lage ein Ende zu bereiten. Aber er wartete nur ab, bis die Dämonen ihn spürten und gierig loskreischten, dann sprang er zurück und knallte die Tür mit dem Fuß zu.

      »Mach das nicht noch mal«, herrschte sie ihn an, als er zu ihr herüberstolzierte und sich neben sie setzte. »Du bringst sie nur noch mehr in Rage.«

      »Viel wütender können sie nicht mehr werden«, gab Jack zurück. Das wilde Zischen und Fauchen, das durch die Tür drang, bestätigte seine Worte. »Und es lenkt mich wenigstens mal ab.«

      Sie seufzte. Jack hatte ja recht: Die Langeweile war das Schlimmste.

      Sie brauchten keine Nahrung, kein Wasser, aber irgendwann mussten sie hier raus, wenn sie nicht vor Langeweile den Verstand verlieren wollten.

      Wie viele Tage konnte es noch dauern, bis Jack seine Drohung wahr machte und tatsächlich über die Schwelle trat?

      Susanna holte tief Luft. Es war Zeit, Klartext zu reden, aber Jack kam ihr zuvor.

      »Ich habe nachgedacht«, sagte er und starrte auf den Boden. Susanna klappte ihren Mund wieder zu. Jack war ihrem Blick noch nie ausgewichen, hatte noch nie so unsicher, so zögerlich gewirkt.

      »Worüber?«, fragte sie, als er verlegen am Saum seines T-Shirts herumzupfte.

      »Ich glaube …« Er nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft wieder aus. »Ich glaube, wir sollten es einfach probieren.«

      »Was? Du meinst …«

      Jacks Blick schnellte zu ihr hoch und sie konnte sehen, was er zu verbergen versuchte. Er kämpfte darum, sein übliches Pokerface aufrechtzuerhalten – und verlor. Um Haaresbreite.

      »Wir können nicht ewig hierbleiben«, sagte er.

      »Doch, können wir«, widersprach sie.

      »Nein, können wir nicht.« Er funkelte sie an, gab ihr zu verstehen, dass er keinen Widerspruch duldete, und sie hielt den Mund. »Wir ziehen es einfach durch. Irgendwie werden wir’s schon schaffen. Und wenn nicht …« Er zuckte mit den Schultern.

      »Wenn nicht, wirst du einer von denen da«, erinnerte sie ihn und nickte zum Fenster, vor dem noch immer die Dämonen herumschwärmten.

      »Du auch«, schoss Jack zurück.

      »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich muss in meinen alten Job zurück und werde zur nächsten Seele weitergeschickt. Die Dämonen können mich verwunden, aber nicht töten. Mich können sie nicht hinunterziehen und zu einem der Ihren machen. So wie dich.«

      Jack zuckte wieder mit den Schultern, wie um ihre Worte abzuschütteln. Er schnaubte verächtlich, presste seine Kiefer zusammen und richtete sich kerzengerade auf. Plötzlich war es wieder voll da, sein altes Machogehabe, das ihm in den langen Tagen und Nächten im Schutzhaus abhandengekommen war.

      »Na und? Es kommt doch sowieso, wie es kommt.«

      »Jack …«

      »Wenigstens bist du dann frei.«

      Sie blinzelte, glaubte, sich verhört zu haben.

      »Was?«, fragte sie.

      »Du bist dann frei«, wiederholte Jack und sie spürte, wie angespannt er war. »Wenn ich es schaffe, na ja … super. Wenn nicht, bist du wenigstens hier raus, oder?«

      Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Nein«, fing sie langsam an. »Ich bin dann nicht frei. Ich muss wieder als Seelenfahrerin arbeiten, so wie früher.«

      »Aber du kommst hier raus.«

      »Ja«, räumte sie ein. »Das schon.« Heraus aus diesem Käfig, ihrem einzigen sicheren Ort in der Hölle des wahren Niemandslands. Weg von Jack und diesen verdammten Schuldgefühlen, die sie überrollten, sobald sie ihn auch nur ansah.

      Aber dann würde sie in jedem Dämon Jack sehen, ohne zu wissen, ob nicht vielleicht doch noch ein Fünkchen von ihm in der Kreatur weiterlebte, die sie angriff, um an ihre neue Seele heranzukommen. Sie würde sich die ganze Zeit fragen, ob Jack leiden musste, ob er ihretwegen Höllenqualen auszustehen hatte. Und wer weiß, vielleicht würde er seine Chance nutzen, um sich ein bisschen an ihr zu rächen? Susanna unterdrückte ein Kichern bei dieser Vorstellung.

      »Was ist?«, fragte Jack, der sie mit schief gelegtem Kopf anstarrte. »Ich will mitlachen.«

      Es war ein schelmischer Blick, der ihn viel jünger und netter aussehen ließ. Die harten, verkniffenen Linien, die sein Gesicht oft so böse machten, lösten sich. Susanna konnte nicht sagen, wann er sie zum ersten Mal so angesehen hatte, aber er hatte sich unzweifelhaft verändert. In den quälend langen Stunden, die sie zusammen im Niemandsland verbracht hatten, waren sie einander nähergekommen, hatten gelernt, sich zu akzeptieren. Sie hatten angefangen, miteinander zu sprechen – über Gott und die Welt – und sogar zu lachen, hatten ihren ganz eigenen, ungewöhnlichen Rhythmus gefunden. Waren Freunde geworden.

      Aber genau das war der springende Punkt. Wenn die Dämonen Jack erwischten und zu einem der Ihren machten, würde sie nicht nur eine Seele verlieren, die ihr anvertraut worden war, sondern einen Freund. Einen, der sie wirklich wahrnahm. Der sie so sah, wie sie war.

      »Ich hab mir gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn die Dämonen dich erwischen«, gab sie zu. »Dann könntest du dich für alles an mir rächen.«

      Jack grinste, als hätte sie einen guten Witz gemacht. Aber in Wahrheit war es alles andere als komisch.

      »Ich würde dich natürlich stalken, während du das Niemandsland durchquerst«, sagte Jack. »Ich wäre dann dein persönlicher Dämon, der dich auf Schritt und Tritt begleitet.«

      »Danke«, erwiderte sie trocken. »Wie nett von dir.«

      Das Fünkchen Humor, das zwischen ihnen aufgeflackert war, erlosch wieder. Schweigend saßen sie auf dem Sofa und schauten zu, wie der Himmel sich tief burgunderrot färbte, als die Sonne unterging und die Nacht hereinbrach. Bald würde der Lärm draußen anschwellen. Immer mehr Dämonen würden sich sammeln, würden sich dicht gedrängt und unter wildem Gerangel gegen die Wände des Schutzhauses werfen, um so nah wie möglich an sie heranzukommen. Susanna fragte sich wieder einmal, warum die Kreaturen so versessen auf sie waren – es gab schließlich noch andere Schutzhäuser im Niemandsland, die sie terrorisieren konnten. Handelte es sich vielleicht um eine Strafe des Inquisitors? Eine Strafe, die sie Nacht für Nacht daran erinnern sollte, was sie erwartete, wenn sie dumm genug waren, das Schutzhaus zu verlassen?

      »Willst du das wirklich machen?«, murmelte sie, als ein besonders schauriges Heulen die Dämmerung zerriss. »Willst du dich wirklich dem dort …«, sie deutete auf das Fenster, »aussetzen? Schau doch mal raus!«