Rossi. Ulf Kramer

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Название Rossi
Автор произведения Ulf Kramer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783895338670



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      KAPITEL 1

      »Mich kann heute

      keiner schlagen«

      Europameisterschaften 1992 in Stuttgart

       Ein angenehmer Sommertag im Juli 2011, der Marktplatz in Darmstadt ist um neun Uhr morgens noch kaum belebt. Einige wenige Passanten tummeln sich um den alten Brunnen, an dem ich mit Jörg Roßkopf verabredet bin. Nicht weit entfernt von hier liegt die Heimat des Mannes, der das deutsche Tischtennis verändert hat wie kein Profi vor oder nach ihm.

       Ich war noch nie zuvor in dieser hessischen Stadt, und genauso wenig habe ich Roßkopf bis heute persönlich getroffen. Als Kind hat er mir einst ein Autogramm gegeben, doch das ist fast 20 Jahre her. Dennoch erkenne ich ihn sofort. Pünktlich steht er im Schatten der alten Häuserfront gegenüber.

       Vor einigen Wochen ist Jörg Roßkopf 42 Jahre geworden. Seine aktive Karriere ist beendet, als Bundestrainer spielt er aber nach wie vor eine entscheidende Rolle im DTTB. Ich freue mich, ihn zu sehen, und auf das bevorstehende Gespräch. Man hat mir in der Vorbereitung viel Positives über ihn erzählt, wie sympathisch und entspannt er doch sei. Ich möchte mir lieber selbst ein Bild machen, versuche, unvoreingenommen zu sein. So will ich auch schreiben, es dem Leser überlassen, sich eine Meinung zu bilden. Doch ich merke schon nach wenigen Minuten: Das wird nicht einfach.

       Wir gehen frühstücken. Das Buchprojekt habe ich am Tag zuvor mit Michael Bachtler und meinem Bruder Achim als Ansprechpartner der Firma JOOLA besprochen. Ich stelle unsere Vorstellungen und mein Konzept vor. Dann beginnt Roßkopf zu erzählen. Er ist locker, gut gelaunt und dabei sehr fokussiert. Er weiß ganz genau, was er will und sagt. Ein Markenzeichen seiner Karriere macht sich auch in diesem ersten Gespräch bemerkbar. Jörg Roßkopf ist bei allem, was er anpackt, konzentriert und zielstrebig. Ich bin erleichtert und zugleich von den Worten gebannt. Mag für viele Menschen Tischtennis eine langweilige Randsportart sein, ein Waisenknabe im Vergleich zu Fußball oder Formel 1. Doch was Roßkopf in seiner Karriere geleistet und erlebt hat, ist überragend, und seine Erfahrungen heben sich weit von denen ab, die andere ihr Eigen nennen dürfen. Er ist bereit, sie mit uns zu teilen. Seine Erinnerungen beginnen in Stuttgart, einem der Meilensteine seiner Karriere.

      Die Stimmung in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle könnte an diesem 20. April 1992 nicht besser sein, schwankt irgendwo zwischen Vorfreude und Enthusiasmus. Doch die Zuschauer warten nicht etwa auf einen Auftritt des damals populärsten deutschen Sportlers, Boris Becker. Hier tritt gleich ein junger Mann aus Hessen gegen einen Belgier an. Die Bälle sind kleiner, aber schneller und vor allem werden sie mit viel Rotation gespielt – was es für Laien immer wieder schwer macht, Tischtennis zu verstehen. Heute ist der letzte Tag der Europameisterschaften, nur noch ein Spiel steht auf dem Programm. Traditionell endet die EM mit dem Endspiel im Herreneinzel. Zum ersten Mal nach Erich Arndt 1962 in Berlin steht wieder ein Deutscher im Finale. Arndt musste sich damals Hans Alser aus Schweden geschlagen geben. Nun hat Jörg Roßkopf die Chance, es besser zu machen. Dabei hat alles recht durchwachsen begonnen.

      Nachdem Jörg Roßkopfs drei Jahre zuvor in Dortmund an der Seite von Steffen Fetzner Weltmeister im Doppel geworden war, sind 1992 in Stuttgart alle Augen auf den neuen Vorzeigesportler in Tischtennis-Deutschland gerichtet. Mit einem solchen Erfolg im Rücken steigen die Erwartungen: sowohl beim Publikum, das zum zweiten Mal in kürzester Zeit ein Großevent vor der Haustür hat, als auch bei den Sponsoren und vor allem dem Verband. Natürlich sind auch die Ansprüche von Roßkopf selbst sowie bei seinen Vertrauten gestiegen. Jedes Jahr zu Saisonbeginn trifft er sich mit Michael Bachtler und dem Teamcoach der Nationalmannschaft Zlatko Cordas, um die Aussichten für das kommende Jahr zu formulieren. In einem Protokoll des Gesprächs von 1991 steht als Ziel für 1992 unter anderem der Gewinn der Europameisterschaft im Einzel sowie im Doppel vermerkt. In der Mannschaft ist mindestens das Finale anvisiert. Ehrgeiziger geht es nicht, denn gegen die Topfavoriten aus Schweden – angetreten mit dem Superstar der Szene Jan-Ove Waldner, dem aktuellen Weltmeister Jörgen Persson und Einzel-Titelverteidiger Mikael Appelgren – muss wirklich alles zusammenkommen, um überhaupt eine Chance zu haben.

      Doch schon in der Gruppenphase verliert das deutsche Team überraschend deutlich gegen Frankreich. Auch Roßkopf muss beide Spiele abgeben. So trifft man als Gruppenzweiter bereits im Halbfinale auf die großen Schweden, denen man sich erst im Finale hatte stellen wollen. Trotz der klaren Außenseiterrolle hat Roßkopf mit seinen Teamkollegen Steffen Fetzner, Peter Franz, Torben Wosik und Georg Böhm die Sensation im Hinterkopf. Doch der Brocken ist zu groß. Bis auf das Doppel gehen die Spiele ziemlich klar an die Schweden. Immerhin gelingt im Spiel um Platz drei die Revanche gegen ersatzgeschwächte Franzosen. Dass man das Finale verpasste, ist dennoch eine kleine Enttäuschung, der bald die nächste und wesentlich größere folgen sollte.

      Natürlich ruhen die Hoffnungen vor allem auf dem Weltmeister-Doppel von 1989, Roßkopf und Fetzner. Nach Dortmund könnte in Stuttgart ein weiterer Titel vor heimischem Publikum gewonnen werden. Die Ernüchterung kommt bereits im Viertelfinale, in dem die beiden überraschend deutlich mit 12:21 und 18:21 den Jugoslawen Slobodan Grujic und Ilja Lupulesku unterliegen. Der Titel geht am Ende mit den Siegern Jörgen Persson und Erik Lindh erneut an Schweden. Das Scheitern der beiden deutschen WM-Helden ist eine herbe Enttäuschung. Zumindest der Einzug ins Halbfinale war von den meisten erwartet worden. Die Veranstaltung scheint nicht mehr zu retten, denn die letzte Chance ist nun das Einzel. Doch dort sind andere die Favoriten.

      Um das junge deutsche Team vor dem Trubel in Stuttgart zu schützen, ist die Mannschaft außerhalb der Stadt einquartiert. In die Schleyerhalle fährt man nur für die Spiele oder zum Training. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist groß in diesen Tagen, die Fans reisen aus ganz Deutschland an, um das europäische Tischtennis auf dem Zenit seiner Leistungsstärke zu bewundern. Jörg Roßkopf empfindet es heute als Privileg, dass er solche Spiele in Deutschland erleben konnte – an einem Tisch vor 8.000 oder 10.000 gefesselten Zuschauern, die ihre Emotionen, positive wie negative, lautstark kundtun. Roßkopf weiß um seine damalige Stärke zuhause. Er hat in Deutschland immer gut gespielt. Vor allem die Gegner kennen das. Die immer wiederkehrende Anfeuerung: »Auf geht’s, Rossi, auf geht’s«, nervte, wie ihm einige hinter den Kulissen verrieten. Viele Spieler sind vor eigenem Publikum nervös und lassen sich zusätzlich unter Druck setzen, doch Roßkopf fühlt sich zuhause besonders motiviert. »Er hat immer viel von seinen Fans profitiert und in Deutschland oft gut gespielt«, erinnert sich Jörgen Persson.

      Auch außerhalb der Heimat wird Roßkopf längst als einer der besten Tischtennisspieler der Welt geschätzt. Wegen seiner Heimstärke haben ihn gerade bei einer Europameisterschaft im eigenen Land viele auf dem Zettel. Es hat sich herumgesprochen, dass er in Deutschland nur schwer zu schlagen ist. Dennoch spricht nach der Auslosung nicht viel für ihn. Favoritensiege vorausgesetzt, wartet im Achtelfinale der Tscheche Petr Korbel, gegen den Roßkopf während seiner gesamten Karriere nie gern gespielt und nur selten gewonnen hat. Im Viertelfinale würde er auf einen weiteren Angstgegner treffen, Mikael Appelgren, und im Halbfinale auf niemand anderen als Topfavorit Jan-Ove Waldner. Schlechter hätte es kaum kommen können. Doch bevor er sich mit den Schweden messen kann, muss erst einmal Petr Korbel bezwungen werden, und das ist schwer genug.

      Die ersten beiden Sätze gehen mit 10:21 und 15:21 klar verloren, und Roßkopf steht in dem Best-of-five-Match früh mit dem Rücken zur Wand. Mit einem Ausscheiden wäre die Pleite des Teams komplett, denn alle anderen deutschen Akteure haben sich schon vor der Runde der letzten sechzehn verabschiedet. Doch Jörg Roßkopfs Einstellung ist geprägt von Willen und Ehrgeiz. Auch bei einem Rückstand von 0:2-Sätzen weiß er, dass er noch lange nicht geschlagen ist – erst recht nicht in Deutschland. Was beinahe pathetisch klingt, ist ganz nüchtern die Ausgangslage. Auch seine Gegner wissen um die mentale Stärke Roßkopfs, seinen Kampfgeist und seine Beharrlichkeit. Erst muss der Matchball verwandelt werden gegen diesen Mann, vorher ist das Spiel niemals gewonnen. »Das war so ein bisschen wie dieses Zitat von Gary Lineker«, vergleicht Roßkopf heute. »22 Mann verfolgen einen Ball und am Ende gewinnen immer die Deutschen. So hat sich das für einige angefühlt, wenn sie gegen mich gespielt