Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper. Agnes Sapper

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Название Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper
Автор произведения Agnes Sapper
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788027208784



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du?« Die beiden Verbündeten sahen sich vergnügt an, worüber Marie große Augen machte, denn sie konnte die Geschwister nicht begreifen. Der Vater sah nachdenklich auf Regine. »Ehrlich ist sie?« wiederholte er wie verwundert, und nach einer Weile: »Ein anständiges Gewand soll sie bekommen zu ihrer Einsegnung; daran darf’s nicht fehlen.«

      Die Wochen vergingen; schon war ein Monat verflossen, seitdem die Mutter das Haus verlassen hatte. Ein einziges Mal waren Nachrichten aus dem Gefängnis gekommen; einen Brief voll Heimweh hatte sie geschrieben, voll Sehnsucht nach dem Kleinen vor allem. Und dieser entbehrte auch am meisten die Mutter. Wenn die Großen morgens alle das Haus verließen, legten sie wohl mancherlei zu essen hin, oder sie brachten ihn zu einer mitleidigen Nachbarin: aber doch trieb sich der Kleine viele Stunden auf der Straße herum; sehnsüchtig ausschauend, ob nicht die Mutter endlich wieder die Straße herunterkäme, in der sie vor seinen Augen verschwunden war. Sie trösteten das Kind manchmal, Regine komme jetzt bald ganz aus der Schule und bleibe dann immer bei ihm wie früher die Mutter. Nur noch vier Wochen mußte sie die Schule besuchen, das war nicht mehr lang.

      Nein, nicht lang, und doch zu lang für das mutterlose Kind. Einmal fand Regine es ganz durchkältet, die Schuhe und Strümpfe vollständig durchnäßt, die Füße eiskalt von dem geschmolzenen Schneewasser, in dem es herumgestiegen war. Weinend saß der Kleine auf der steinernen Hausstaffel und zitterte am ganzen Körper. Nun wurde er freilich zu Bette gebracht, und als er nachts fieberte, holten sie den Arzt zu ihm. Marie blieb nun von der Fabrik daheim und pflegte mit Liebe den kleinen Bruder; aber die Fürsorge kam doch zu spät, und ehe sie nur recht gewußt hatten, daß das Kind in Lebensgefahr schwebte, war es schon einer Lungenentzündung erlegen.

      In großer Bestürzung standen sie alle an dem Bett des Kleinen, und ein Gedanke beherrschte die ganze Familie: der Gedanke an die Mutter. Wie würde sie die Nachricht ertragen! Was mußte das einst für ein Heimkommen sein, wenn sie ihren Liebling nicht mehr fände! Und welche Vorwürfe würde sie ihnen machen! Hätte man das Kind nicht unter Tags in Kost geben können, oder in eine Kinderschule schicken? Aber all diese Gedanken kamen zu spät.

      Die kleine Leiche war schon zur Erde bestattet, und noch hatte niemand sich entschließen können, der Mutter die Trauerbotschaft zu schreiben. Der Vater tat es endlich mit wenigen kurzen Worten, das Briefschreiben war ihm ungewohnt.

      Es kam darauf keine Antwort von der Mutter. Durfte sie nicht schreiben, oder war sie krank geworden vor Kummer? Zürnte sie ihnen, daß sie das Kind nicht besser behütet hatten? Sie hörten nichts von ihr.

      Der Pfarrer, Reginens Pfarrer, hatte das Kind beerdigt und bei diesem Anlaß Einblick in die Familie getan; auch war ihm so manches über sie bekannt geworden, was ihn für seine Konfirmandin besorgt machte. Er hatte das Gute, das in ihr schlummerte, geweckt. Es lebte jetzt in ihr, aber es mußte gepflegt werden. So hätte er dies Mädchen gern in andere Verhältnisse versetzt, wo es unter ehrlichen Menschen sich in der Ehrlichkeit befestigen konnte. So manches Mal beriet er mit seiner Frau darüber; aber wo sollte man ein so kleines Mädchen unterbringen, von dem man nicht einmal rühmen konnte: es ist aus gutem Haus!

      Endlich fand sich doch Rat, und eines Tages wurde Regine wieder von dem Pfarrer aufgefordert, nach der Stunde in das Pfarrhaus zu gehen. Dort wurde sie freundlich empfangen von der Pfarrfrau, die eine lebhafte, eifrige Frau war. Man merkte ihr wohl an, wie sie sich freute, daß sie für Regine ein gutes Plätzchen gefunden hatte. »Es ist bei meiner Schwester,« erzählte sie ihr, »bei einer Pfarrfrau auf dem Lande. Sie hat kleine Kinder, herzig nette Kinderchen; und ein ehrliches treues Dienstmädchen, das aber nicht mehr allein mit der Arbeit fertig wird. Dort kannst du helfen, wirst immer unter guten Menschen sein und selbst ein solcher werden, und das möchtest du doch gewiß?« Regine bejahte aus aufrichtigem Herzen.

      »Und ein Taschengeld sollst du auch bekommen,« fuhr die Pfarrfrau fort, »fünf Mark im Monat, und nach einem Jahr, wenn du dich bewährst, erhältst du das Doppelte. Bis dahin wirst du in der frischen Landluft und bei der guten Kost groß und stark geworden sein. Nun geh nur heim und erzähle es deinem Vater; der wird sich freuen, und deine Schwester bittest du, daß sie dir die nötige Wäsche und Kleider richtet. Gleich nach der Konfirmation müßtest du abreisen, denn meine Schwester möchte am liebsten schon heute eine Hilfe.«

      Regine eilte, ganz erfüllt von diesem Lebensplan, nach Hause. Sie fühlte sich so stolz und glücklich, wie wenn sie sich schon als treue Pfarrmagd bewährt hätte. Wie würden sie sich daheim alle wundern über das Vertrauen, »Respekt!« würde Thomas wieder sagen. Und sie träumte sich hinein unter die guten, feinen Menschen, zu den herzigen Kindern.

      Zu Hause saßen der Vater und Marie schon am Mittagstisch, Thomas fehlte noch. Sie wollte mit ihrer Erzählung warten, bis er käme; aber als es eine Weile gedauert hatte, konnte sie nicht mehr zurückhalten, was ihr ganzes Herz erfüllte. »Die Frau Pfarrer weiß mir ein gutes Plätzchen,« begann sie und wiederholte alles, was sie darüber gehört hatte. Und nun erlebte sie eine schmerzliche Enttäuschung. Mit Hohn und Geringschätzung wurde von diesem »Plätzchen« gesprochen und dieses so heruntergemacht, daß nichts, aber auch gar nichts Gutes mehr daran blieb. Als Kummer und Scham ihr eben Tränen in die Augen trieben, kam Thomas heim, und beim Anblick dieses ihres Verbündeten faßte Regine wieder Mut. Ehe sie aber ein Wort an ihn richten konnte, rief ihm schon Marie entgegen: »Du, als Magd will die Regine fortgehen, aufs Land, und fünf Mark Monatslohn bekommt sie; was sagst du dazu?« Und sie lachte laut.

      »Unsinn,« entgegnete Thomas und schien gar nichts weiter wissen zu wollen, sondern machte sich daran, seine Suppe zu essen. Und die andern sprachen auch nichts mehr darüber. Regine verstand sie alle nicht. Warum wollten sie ihr denn das schöne Plätzchen nicht gönnen? Sie brachte kein Wort mehr heraus während des Essens, so bitter und schmerzlich war ihr zumute. Als aber der Vater sich anschickte wegzugehen, rief sie, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten: »Was soll ich denn dann der Frau Pfarrer sagen?«

      Da sah Thomas die kleine Schwester überrascht an; er merkte erst jetzt, daß es sich für sie um eine Lebensfrage handelte. »Was ist’s eigentlich, was will sie denn?« fragte er, und nun gab es ein lebhaftes Hin- und Herreden. »Verdingen will sie sich,« rief Marie, »statt daß sie in die Fabrik geht, wo sie viel mehr verdient.«

      »So viel mehr ist’s zwar auch nicht,« entgegnete jetzt der Vater, »du rechnest immer nicht, wieviel die Kost ausmacht. Im Dienst hat sie alles frei, Kost und Wäsche, das macht ein paar hundert Mark im Jahr; und dabei wird sie vielleicht nicht so liederlich, wie eine andere, die ich kenne.«

      Marie lachte. »So soll sie gehen; aber die Mutter tät’s nicht leiden, wenn sie da wäre.«

      »Ja, das ist’s,« sagte der Vater, »sie will immer hoch hinaus mit ihren Töchtern.«

      »Ja, die Mutter, das ist wahr,« meinte auch Thomas, »wenn sie heimkommt – das eine Kind ist tot, das andere fort; – Regine, sei gescheit, höre auf zu weinen. Sag dem Pfarrer, es lasse sich nicht machen, weil die Mutter fort sei; er weiß ja schon davon und wird’s verstehen.«

      Er sagte das freundlich; aber Regine war doch nicht zufrieden mit ihrem Bundesgenossen. Er hatte nicht zu ihr gehalten, und nun war es aus und vorbei mit ihrem schönen Plan. Der Vater und Marie gingen weg; nur Thomas blieb an dem Tisch sitzen und las den Tagesanzeiger. Regine holte ihren Katechismus und setzte sich an das andere Ende des Tisches, um zu lernen. Sie schlug das Buch auf; da fiel ihr ein Blatt Papier entgegen, groß und deutlich standen darauf von einer ihr unbekannten Handschrift geschrieben einige Worte. Unwillkürlich sagte sie laut: »Wie kommt denn das in mein Buch?« Thomas blickte von seiner Zeitung auf. »Was steht denn darauf?«

      »Nur ein Sprichwort; ich weiß nicht, wie das Papier in mein Buch kommt.« Gleichgültig schob sie es beiseite.

      »Zeig doch her, was ist’s für ein Sprichwort?« rief Thomas, griff nach dem Blatt und las laut: »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!« Er behielt das Papier in der Hand und starrte darauf; während Regine wieder in ihren Katechismus sah und ganz erstaunt aufblickte, als nach einiger Zeit ihr Bruder rief: »Wer hat dir denn die Bosheit angetan? Gewiß wieder die Emilie Forbes! Weißt du nicht, was das heißen soll: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm?« Und als Regine ihn immer noch verständnislos ansah, sagte er: