Skriptorium. Stephanie Hauschild

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Название Skriptorium
Автор произведения Stephanie Hauschild
Жанр История
Серия
Издательство История
Год выпуска 0
isbn 9783805346979



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zusammen. Die Buchrollen aber hatten die Katastrophe überstanden. Insgesamt zählte Winckelmann über 1000 Buchrollen. Einige rotuli fand man sogar noch zusammengebunden, vermutlich als Teile mehrbändiger Werke. Verstaut hatte ihr ehemaliger Besitzer die Rollen in den Regalfächern der Schränke liegend, etwa so, wie man heute Flaschen in einem Weinregal unterbringt. Andernorts steckte man Rollen in eimerartige Behältnisse mit oder ohne Deckel, in denen sie auch transportiert wurden. Die Buchrollen in der Bibliothek der Villa dei Papiri waren stark verkohlt und verklebt, konnten aber zu einem großen Teil geborgen werden. Sie werden heute im Archäologischen Nationalmuseum von Neapel gehütet. Es handelt sich überwiegend um Fragmente von Schriften griechischer Philosophen aus dem Umkreis Epikurs.

      Wie die Buchrollen ausgesehen haben und wie sie benutzt wurden, verrät uns ein Bücherstillleben auf einem Wandbild aus Herculaneum. Dargestellt ist ein an beiden Enden eingerollter rotulus mit pseudogriechischer Phantasieschrift in der Mitte. Daneben ist ein calamus aus Schilfrohr zu erkennen, ein doppeltes Fass mit Deckel für die Tinte, ein mehrteiliges Wachstäfelchen für Notizen und ganz am linken Bildrand ein dreieckiges Blatt, der sillabus. Der sillabus wurde an den aufgerollten rotulus geheftet, um die Buchrolle im Regal oder Behälter wiederzufinden. Auf ihm waren der Name des Autors und Hinweise auf den Inhalt der Schrift verzeichnet. Um die Rolle zu lesen, nahm man den Anfang der Rolle in die linke Hand und den noch unausgerollten Teil in die andere. Während des Lesens wurde der bereits gelesene Teil um einen Stab zusammengerollt, sodass idealerweise immer nur die Kolumne mit dem zu lesenden Text sichtbar war. Doch Wandmalereien zeigen auch undisziplinierte Leser, die es versäumt haben, rechtzeitig den gelesenen Teil wieder zusammenzurollen, sodass sie mit einem langen Papyrusband dastehen. Das Lesen solcher Rollen erforderte offenbar ein gewisses Maß an Ordnungswillen und auf jeden Fall zwei Hände. Auch das Auffinden bestimmter Textstellen in einem langen Epos, in einer wissenschaftlichen Abhandlung oder in einem Katalog ist in einer Buchrolle nicht ganz einfach. Immerhin hatten die meisten Texte Überschriften zur Orientierung und häufig auch Zeilennummerierungen. Aber im schlimmsten Fall musste der rotulus dennoch bis ganz zum Ende aufgerollt werden, um die entsprechende Textstelle zu finden. Die Länge der Rollen war zudem begrenzt. Längere zusammenhängende Texte, wie etwa Vergils zwölf Bücher der Aeneis bestanden aus zwölf Einzelrollen, was das Auffinden der gesuchten Passagen gewiss nicht einfacher machte.

      Rotulus, Kalamus, Tintenfass, Wachstäfelchen und Sillabus auf einer Wandmalerei aus Herculaneum, abgebildet in: Le antichità di Ercolano eposte, Bd 2, Neapel 1760, S. 55, Heidelberg Universitätsbibliothek

      Von der Buchrolle zum Kodex

      Neben dem kostengünstigen und leicht zu beschaffenden Papyrus wurde in der Antike zu besonderen Anlässen auch Pergament zum Schreiben verwendet. In der Rollenform jedoch hätte das sperrige und steife Pergament allein den Papyrus wohl nicht verdrängen können. Erst mit der Einführung des Blätterbuchs oder Kodexes gewann das Pergament als Grundmaterial für Bücher an Bedeutung. Nachrichten über erste Kodizes haben wir bereits aus dem 1. nachchristlichen Jahrhundert. Im 2. Jahrhundert verwendeten die frühen Christen Kodizes für ihre Andachten und gingen so von der Buchrolle zum „modernen“ Buch über. Die meisten dieser Bücher wurden damals noch aus dem preiswerteren Papyrus hergestellt, wie etwa die Bücher aus dem berühmten Fund von Nag Hamadi in Ägypten. 1945 hatte dort ein einheimischer Bauer in einer Höhle 52 Papyrusbücher in einem Tonkrug gefunden. Die Bücher stammten aus dem 3. Jahrhundert und enthielten religiöse Schriften in koptischer Sprache. Die Bücher wurden offenbar von Angehörigen einer christlichen Gemeinde genutzt und wohl auch dort versteckt.

      Die großen Werke der klassischen Literatur und der Wissenschaft wurden zu dieser Zeit hingegen noch in Rollen aufgeschrieben. Kodex und rotulus existierten also für einige Zeit gleichberechtigt nebeneinander als „Verpackungen“ für verschiedene Textsorten. Auch Archimedes’ und Hyperides’ Werke dürften zu dieser Zeit noch in Rollenform vorgelegen haben. Der Kodex ist daher nicht der direkte Nachfolger der Buchrolle, sondern hat eine eigene, vom rotulus nur teilweise abhängige Entstehungsgeschichte. Gegenüber der Schriftrolle hat der Kodex jedoch eindeutige Vorteile: Erst dessen Form ermöglicht es, den Text auf der gewünschten Seite aufzuschlagen. Gesuchte Passagen lassen sich leichter wiederfinden, und vor allem kann ein Buch in Kodexform wesentlich mehr Informationen aufnehmen als eine Buchrolle. Ein Kodex mit 200 Blättern, die jeweils 15 cm breit sind, hat dieselbe Speicherkapazität wie eine Rolle gleicher Breite von 60 Metern Länge. Wenn wir von einer durchschnittlichen Länge der einzelnen Rolle von ungefähr 9 Metern ausgehen, müsste der gleiche Text auf sechs oder sieben Rollen geschrieben werden.

      Die Annehmlichkeiten der neuen Buchform erkannten neben den christlichen Gemeinden zuerst die Juristen. Die damals entstandene Bezeichnung codex, die sich von dem lateinischen Wort caudex für Holzblock ableitet, bezog sich sowohl auf das in hölzerne Deckel eingebundene Buch als auch auf die darin enthaltene Gesetzessammlung. Bis heute sprechen wir von einem Gesetzeskodex, wenn wir die Gesetzessammlungen meinen. Entstanden ist die Form des Kodexes wohl aus den zu Bündeln zusammengeschnürten Holztafeln, deren Innenseiten mit Wachs bestrichen waren und in die man mit einem Griffel, dem stylus, Notizen schrieb und durch Glattstreichen wieder löschte. Auf dem herkulanischen Wandbild ist ein solches Täfelchen in Form eines Triptychons abgebildet. Bemerkenswert sind die kleinen Abstandshalter auf den Innenflächen, die verhindern sollen, dass sich die Wachsflächen berühren und so das Geschriebene zerstören. Solche Diptychen (zweiflügelige Tafeln), Triptychen (dreiflügelige Tafeln) oder Polyptichen (mehrflügelige Tafeln) waren in leicht abgewandelten Formen auch im Mittelalter im Gebrauch.

      Fragment eines frühchristlichen Kodex, gefunden in Nag Hammadi

      Der Kodex war von Anfang an eng mit der christlichen Kirche, der Verbreitung der Liturgie und deren Glaubensgrundsätzen verbunden. Die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion unter Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert leitete schließlich das Jahrhundert ein, in dem die Kodexform zur Norm für jede Art von Literatur wurde. Der Medienwechsel von der Rolle zum gebundenen Buch hatte weitreichende Folgen auch für die Schriften von Archimedes und Hyperides, die bis zu diesem Zeitpunkt immer noch als Buchrollen existiert haben müssen. Was an sich schon eine erstaunliche Tatsache ist. Denn die Lebensdauer einer Papyrusrolle war auf jeden Fall sehr kurz. Wenn sie 200 Jahre überstand, war das schon viel. Das bedeutet, beide Autoren hatten auch viele Hundert Jahre nach ihrem Tod noch immer eine interessierte Leserschaft, die sich darum bemühte, das Werk der beiden über Abschriften zu erhalten und zu verbreiten. Pergamenthandschriften konnten hingegen, durch robuste Deckel geschützt, allein aufgrund ihrer Machart aus Tierhaut und Holz Jahrhunderte bequem überdauern. Auf jeden Fall müssen die Texte der beiden Griechen in dieser Zeit irgendwann das erste Mal von der Papyrusrolle auf Pergament übertragen worden sein. Selbstverständlich war das nicht. Viele zu ihrer Zeit gern gelesene Autoren schafften den Wechsel in das neue Medium nicht. Nachdem die letzten rotuli unbrauchbar oder zerstört worden waren, verschwand mit ihnen auch das Wissen um den Inhalt und damit um die Existenz dieser Bücher.

      In Konstantinopel wurden nun im 5. und 6. Jahrhundert viele alte Texte vom rotulus in die neue Buchform übertragen. Eine auf eine Vorlage des 6. Jahrhunderts zurückgehende byzantinische Darstellung des Evangelisten Lukas in einem Evangeliar aus dem 10. Jahrhundert zeigt beide Bucharten nebeneinander: Lukas sitzt auf einem Schemel, ein aufgeschlagenes Buch liegt auf seinen Knien. Eine in ihrer ganzen Länge ausgebreitete Rolle hat der Evangelist auf einem Buchpult abgelegt. Offenbar ist Lukas im Begriff den Text der Rolle zu kopieren. Auf dem vor ihm stehenden Tischchen ist ein sillabus zu erkennen, den er vor dem Öffnen der Buchrolle entfernt hat.

      In die neuen Kodizes schrieben die Kopisten in sogenannten Majuskeln, also in Großbuchstaben. Diese Majuskeln erinnern noch sehr deutlich an die antiken Vorbilder, die wir von Inschriften an Gebäuden und Skulpturensockeln her kennen. Die verhältnismäßig großen und breiten Buchstaben setzte man unverbunden nebeneinander. Das Palimpsest in Myronas’