Letzter Weckruf für Europa. Helmut Brandstätter

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Название Letzter Weckruf für Europa
Автор произведения Helmut Brandstätter
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783218012201



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gefeuert wurde, einer der letzten Kritiker Orbáns? Die Pressefreiheit ist in mehreren Staaten in Gefahr, und damit die Demokratie. Auch das gehört zur Analyse Europas im Jahr 2020.

      Die EU hat schon beim Zerfall Jugoslawiens wenig Verständnis für die besonderen historischen Bedingungen des Balkan gezeigt, diese Fehler dürfen nicht noch einmal gemacht werden. Albanien und die noch nicht in der EU angekommenen Staaten Ex-Jugoslawiens gehören zu Europa, ihre Führungsschicht muss aber die Regeln und Werte anerkennen, wenn sie ihre Länder in die Union führen will. Das Europäische Parlament wird hier hoffentlich noch ein kräftiges Wort mitreden, auch bei der Verteilung des Wiederaufbaufonds, die an die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gebunden werden muss. Die Europäische Union wird mit ihren Werten von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten überleben, oder sie wird nicht überleben.

      Und wir werden die massiven Veränderungen der Weltordnung nur gemeinsam, als wirtschaftlich starker und militärisch sicherer Kontinent überstehen. Die USA sind auf dem Rückzug aus Europa, eine Entwicklung, die ein Präsident Biden höchstens verlangsamen würde. Daraus ergibt sich, dass sich Europa selbst mehr um seine Sicherheit kümmern muss. China ist auf dem Weg zur Nummer eins, und zwar mit allen wirtschaftlichen, politischen und militärischen zur Verfügung stehenden Mitteln. Diese wirken oft freundlich, wie das Projekt der „Neuen Seidenstraße“, aber die Führung in Peking will damit auch Europa spalten. Russland soll unser Partner werden, aber nur zu klaren Bedingungen der Einhaltung des Völkerrechts, dazu gehört auch das Respektieren von Staatsgrenzen.

      Die Briten sind aus der EU ausgetreten, weil sie wieder souverän sein wollen. Wie wenig sie das wirklich sind, zeigt uns das Verhalten Pekings in Hongkong und die Hilflosigkeit Londons. Premierminister Boris Johnson kann die Faust ballen und böse Briefe schicken, aber die Chinesen nehmen ihn, den Chef eines großen Landes mit Atomwaffen, nicht ernst. Ein vereintes Europa, das wirtschaftlich, politisch und militärisch wie eine Großmacht agiert, müssten sie akzeptieren.

      Leider ist das eine Erkenntnis der Gespräche für dieses Buch. Krieg wird wieder möglich sein, und er wird wohl nicht mit einem Ansturm von Panzern oder Flugzeugen beginnen, sondern als hybrider Krieg mit Nadelstichen gegen demokratische Einrichtungen oder wichtige Infrastruktur. Dagegen können wir uns nur gemeinsam rüsten. Die Souveränität eines Nationalstaates ist pure Illusion, wahre Souveränität gibt es nur in einem starken, also einigen Europa.

      Deshalb dieser Weckruf: 75 Jahre nach dem Ende des Zeiten Weltkriegs haben allzu viele Menschen in Europa, auch einige in den Staatskanzleien, nicht verstanden, dass alles auf dem Spiel steht: Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat.

      Meine Kinder sind 15, 30 und 31 Jahre alt, ihnen und ihrer Generation ist dieses Buch gewidmet. Sie sollen in Frieden und Freiheit leben, so wie wir das durften. Und es ist gerade auch den jungen Leuten in den Staaten des Balkan gewidmet, deren Eltern und Großeltern noch das Trauma der grausamen Kriege der 1990er Jahre verarbeiten müssen, wo aber viele Jugendliche bereits über die Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten. Dabei brauchen sie mehr Unterstützung durch die EU. Das Bewusstsein dafür, dass wir auch eine gesunde Natur erhalten müssen, hat diese Generation viel stärker, als wir das hatten. Das EU-Programm ERASMUS hat viel geleistet, seit über 30 Jahren wurden über 4 Millionen Stipendien vergeben. Seit sieben Jahren gibt es auch ERASMUS+ für Lehrlinge, das leider noch zu wenig genutzt wird. Im Herbst 2019 wurden etwa 150 von rund 110.000 Lehrlingen ins Ausland geschickt. Vier Wochen Inter-Rail für alle 18-Jährigen würden viel zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Immerhin finanziert die EU auf Initiative des Parlaments seit 2018 20.000 kostenlose Interrail-Tickets, die nach einer Ausschreibung vergeben werden.

      Die Jugend Europas wird viel für den Zusammenhalt tun müssen, weil die Gefahren und Herausforderungen größer geworden sind. Die Populisten predigen Hass und Spaltung, weil sie davon profitieren, und nicht von funktionierenden Strukturen und wachsendem Wohlstand. Der Blick zurück zeigt ein Europa der Konflikte und Kriege, diese Geschichte müssen wir kennen. Dann wird der Blick nach vorne umso reizvoller, in ein Europa, in dem eine gemeinsame Identität immer selbstverständlicher wird.

      Helmut Brandstätter, im August 2020

      KAPITEL 1

      IDENTITÄT

      AUF DER SUCHE NACH DER EUROPÄISCHEN IDENTITÄT

      „Es geht Deutschland auf Dauer nur gut,

       wenn es Europa gut geht.“

      Angela Merkel, 2020

      Diesen Satz hat Angela Merkel Anfang April 2020, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise, gesagt. Er war die knappe Antwort auf die Frage, ob und wie die reicheren Länder der Europäischen Union den ärmeren beim Aufarbeiten der Wirtschaftskrise helfen würden. Die Langzeitkanzlerin ließ keinen Zweifel daran, dass das Schicksal der Deutschen eng mit dem aller anderen Europäer verbunden ist, ja die Deutschen sogar vom Wohlergehen der anderen europäischen Staaten abhängig sind. Ihre Aussage klang wie ein Appell an die eigene Bevölkerung, jetzt nicht nur an Deutschland zu denken, sondern auch an diejenigen Länder, für die der Weg aus der beginnenden Rezession noch mühsamer werden würde. Der Satz steht auch symbolisch als Antwort auf die schon während der Krise gestellte Frage, ob die EU im Angesicht der großen Herausforderungen eher zusammenwachsen würde oder ob einige nationale „Führer“ die Chance nützen würden, sich und ihre jeweilige Regierung zu stärken und aus der EU wieder eine lose Wirtschaftsgemeinschaft ohne gegenseitige Verantwortung zu machen. Und schließlich wusste Angela Merkel, dass ihre Ansprache nicht irgendeine Sonntagsrede zu Europa sein konnte, weil die anderen Mitgliedstaaten der EU sehr genau darauf achten würden, was und wie viel die Deutschen zum Wohlergehen aller Europäer beizutragen bereit sein würden.

      EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat noch während der Krise geschrieben: „Unsere Europäische Union – davon bin ich überzeugt – kann aus dieser Situation gestärkt hervorgehen, so, wie sie es nach jeder Krise in unserer Geschichte getan hat.“ Ein interessanter Hinweis, der Mut machen sollte, und ein realistischer noch dazu. Die EU hat wahrlich bereits einige bewegte Jahrzehnte hinter sich. Jean-Claude Juncker, der in über 30 Jahren in der Politik, vor allem als luxemburgischer Premierminister und als Präsident der EU-Kommission, viele politische Stürme erlebt hat, gab sich mitten in der Krise optimistisch: „Nach der Krise werden wir bessere Europäer sein.“

      Aber wie definieren wir das Europäer- oder Europäerin-Sein? Wer verspürt eine europäische Identität, und kann diese durch eine Krise gefördert werden? Kann man nur als Staatsbürger eines EU-Landes Europäer sein? Sicher nicht.

      Oft hilft ein Blick von außen. Der britische Banker Stephen Green, geboren 1948, hat im Jahr 2015 ein Buch geschrieben: The European Identity. Green hat unter anderem in Asien gearbeitet und war zwischen 2011 und 2013 Handelsminister in der konservativen Regierung von David Cameron. Ausgerechnet ein Brite hat uns – und seiner Nation – noch vor dem Brexit-Referendum dargelegt, was uns alle in Europa ausmacht: „Europa hat gemeinsame Interessen und wesentliche Werte, die durch die Jahre der Geschichte hart erobert wurden. Diese gemeinsamen Werte sind Teil der europäischen Botschaft. Andere Schichten der Identität, die auf Geschichte, Kultur und Sprache beruhen, werden weiter national, regional oder lokal definiert werden, und sie sind auch fundamental für das Selbstverständnis der Europäer. Diese gemeinsamen Werte der Europäer sind das Erbe von Ideen, die so überragende Persönlichkeiten wie Galileo, Erasmus, Descartes, Locke, Hume, Kant, Hegel, Darwin und viele andere erdacht haben. Aus den unterschiedlichen Perspektiven und ausgehend von vielen schmerzhaften Fehlentwicklungen und falschen Abzweigungen, die wir Europäer über Generationen gemacht und genommen haben, ist etwas grundsätzlich Bedeutendes für die Welt des 21. Jahrhunderts entstanden: eine Verpflichtung zu Rationalismus, Demokratie, individuellen Menschenrechten und Verantwortungsbewusstsein, Rechtsstaat, sozialem Mitgefühl und einem Verständnis für die Geschichte als dynamisch, offen und fortschrittlich. Und das verdient unsere Loyalität, das ist die Basis für einen europäischen Patriotismus.“ (Übersetzung durch den Autor) Wie recht er hat. Seine Definition eines „europäischen Patriotismus“ könnte uns über so manche Streitereien innerhalb der EU hinweghelfen.

      Europa