Название | Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays |
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Автор произведения | Odo Marquard |
Жанр | Документальная литература |
Серия | Reclam Taschenbuch |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783159617145 |
H. Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes (1935/59), Frankfurt a. M. 1974, S. 163; vgl. O. Marquard, »Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie«, in: H. Lübbe (Hrsg.), Wozu Philosophie?, Berlin / New York 1978, bes. S. 70–74.
Vgl. H. Cohen, Ethik des reinen Willens, Berlin 1904, S. 502: »Die Bescheidenheit ist daher die Tugend der Skepsis.«
Vgl. M. Heidegger, Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, S. 235–237.
J.-P. Sartre, L’être et le néant, Paris 1943, S. 638: »le choix que je suis«.
Im Anschluss zunächst an M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, Berlin 1967; N. Luhmann, »Status quo als Argument«, in: H. Baier (Hrsg.), Studenten in Opposition. Beiträge zur Soziologie der Hochschule, Bielefeld 1968 (S. 78: »unfreiwilliger Konservativismus aus Komplexität«); H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel/Stuttgart 1977, S. 329–331.
D. Hume, An Enquiry Concerning Human Understanding (1748), Sect. V: »custom or habit«.
Vgl. O. Marquard, »Über die Unvermeidlichkeit von Üblichkeiten«, in: W. Oelmüller (Hrsg.), Normen und Geschichte, Paderborn 1979 (Materialien zur Normendiskussion, Bd. 3), S. 332–342.
Vgl. M. Hossenfelder, Einleitung zu: Sextus Empiricus. Grundzüge der pyrrhonischen Skepsis, Frankfurt a. M. 1968, bes. S. 42–44.
H. Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M. 1979; vgl. O. Marquard, »Laudatio auf Hans Blumenberg«, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1980/11, Heidelberg 1981, S. 53–56.
Vgl. O. Marquard, »Einleitung zur Diskussion von H. Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos«, in: M. Fuhrmann (Hrsg.), Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption, München 1971 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 4), S. 527–530.
Inkompetenzkompensationskompetenz?
Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie
Bei einem chinesischen Henkerwettstreit – so wird erzählt – geriet der zweite Finalist in die Verlegenheit, eine schier unüberbietbar präzise Enthauptung durch seinen Konkurrenten, der vor ihm dran war, überbieten zu müssen. Es herrschte Spannung. Mit scharfer Klinge führte er seinen Streich. Jedoch der Kopf des zu Enthauptenden fiel nicht, und der also scheinbar noch nicht enthauptete Delinquent blickte den Henker erstaunt und fragend an. Drauf dieser zu ihm: Nicken Sie mal.
Mich interessiert, was dieser Kopf denkt, bevor er nickt; denn das müsste doch Ähnlichkeit haben mit Gedanken der Philosophie über sich selber.
Es mag unangebracht erscheinen, einen festlichen Anlass – und nun gar einen zu Ehren von Herrn Krings – mit der Assoziation eines Henkerwettstreits zu belasten. Indes: hier sind schließlich Philosophen versammelt, und die, im Zweifelsfall, wissen, wovon ich rede. Zwar ist es – denn das ist immerhin das Handwerkszeug von Philosophen – unbestreitbar, dass sie Köpfe haben und, wenn ich mich selber einmal ausnehme, unbestreitbar, dass sie Köpfe sind. Aber wie fest sitzen diese Köpfe? –: Das ist – real oder wenigstens, und vielleicht dringlicher noch, metaphorisch – die Frage dort, wo über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie auf Geheiß der Ausrichter gesprochen werden soll und wo dabei – und dies dann ganz zwangsläufig – von dem Schicksal der Decapitatio der Philosophie durch radikale Reduktionen ihrer Kompetenz die Rede sein muss in Verbindung mit der Tatsache, dass die Philosophie ihren Kopf offenbar immer noch oben trägt. Ich möchte meine einschlägigen Erwägungen in zwei Abschnitten vorbringen: der erste Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Kompetenzreduktion; der zweite Abschnitt handelt im Blick auf die Philosophie von ihrer Reduktionskompensation.
1. Zunächst also – in einigen pauschalen Andeutungen – über die Reduktion der Kompetenz der Philosophie. Was bedeutet dabei Kompetenz? Ich verhalte mich – ohne philologischen Kontakt zum Thesaurus, der das Wort im Wortfeld der Rivalität ansiedeln mag, ohne juristischen Kontakt zu terminologiegeschichtlich arbeitenden Rechtsgelehrten, ohne biologischen Kontakt zu Blastemforschern, ohne linguistischen Kontakt zu Chomsky, ohne kommunikativen Kontakt zu Habermas – zum Begriff der Kompetenz vorerst möglichst vage: Kompetenz hat offenbar irgendwie zu tun mit Zuständigkeit und mit Fähigkeit und mit Bereitschaft und damit, dass Zuständigkeit, Fähigkeit und Bereitschaft sich in Deckung befinden, womit gerade bei der Philosophie von Anfang an nicht unbedingt gerechnet werden kann; denn schon immer hat es Philosophien gegeben, die für nichts zuständig, zu manchem fähig und zu allem bereit waren: Ob dieser Befund für die Philosophie total und schlechthin zutreffend sei: vor zweitausend Jahren wäre das keine diskutable Frage gewesen; heute ist es eine; und so kommt in diese Überlegung gleich zu Anfang die Geschichte hinein in Bezug auf die Philosophie und ihre Kompetenz. Was ihre Kompetenz sei, sagt ihr nur ihre Geschichte; die aber sagt der Philosophie, dass es einen Fortschritt gegeben habe in der Abnahme ihrer Kompetenz: die Philosophiegeschichte ist die Geschichte der Reduktion der Kompetenz der Philosophie.
Und hier ist sie, diese Reduktionsgeschichte, und zwar eiligkeitshalber formuliert als spekulative Kurzgeschichte: Erst war die Philosophie kompetent für alles; dann war die Philosophie kompetent für einiges; schließlich ist die Philosophie kompetent nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz. Und das lief so: Die Philosophie wurde im Laufe ihres beschwerlichen Lebens mindestens dreimal aufs äußerste herausgefordert, dabei überfordert und so schließlich erschöpft, ausgezehrt und – von Kompetenten, also Mitbewerbern: und zwar hier in Dingen Kompetenz – aus dem Rennen geworfen. Da war – früh: nämlich von der Bibel her – die soteriologische Herausforderung, und da waren – spät: nämlich bürgerlich und pseudonachbürgerlich – die technologische und die politische Herausforderung. Die soteriologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, zum Heil der Menschen zu führen, aber das – und dies zeigte sich, als das Christentum die Philosophie überbot – konnte sie nicht: so war es um ihre Heilskompetenz geschehen, und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang kam sie unter als ancilla theologiae. Die technologische Herausforderung verlangte von der Philosophie, sie solle zum Nutzenwissen der Menschen führen; aber das – und dies zeigte sich, als die exakten Wissenschaften die Philosophie überboten – konnte sie nicht: so war es um ihre technologische Kompetenz geschehen und die Philosophie wurde zum Fürsorgefall; eine Zeitlang