Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit. Marie Brennan

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Название Der Onyxpalast 4: Schicksalszeit
Автор произведения Marie Brennan
Жанр Языкознание
Серия Der Onyxpalast
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966580762



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29. Januar 1707

      Wie eine Wolke ätherischer Glühwürmchen schwebten die Lichter mitten in der Luft. Die Ecken des Raums lagen im Schatten. Jegliche Beleuchtung hatte sich in die Mitte, zu diesem Fleck vor dem offenen leeren Kamin zusammengezogen und auf die Frau, die dort schweigend stand.

      Ihre rechte Hand bewegte sich mit geistesabwesender Sicherheit und dirigierte die Lichter in Position. Die linke hing steif an ihrer Seite, eine starre Klaue, die von ihrem Handschuh nur unzureichend bedeckt wurde. Ohne Kompass oder Lineal, nur von tief greifendem Instinkt geleitet, formte sie die Lichter zu einer Karte. Hier der Tower von London. Im Westen die St.-Pauls-Kathedrale. Die lange Linie der Themse unter ihnen und der Walbrook, der aus dem Norden herabfloss, um sich mit ihr zu vereinen, und unterwegs am Londonstein vorbeikam. Und um das Ganze herum, mit Berührung des Flusses auf beiden Seiten, der ungleichmäßige Bogen der Stadtmauer.

      Für einen Augenblick schwebte er vor ihr, strahlend und perfekt. Dann griffen ihre Fingerspitzen nach oben zu einem nordöstlichen Punkt an der Mauer und schnippten einige Lichter weg.

      Als sei dies ein Ruf gewesen, öffnete sich die Tür hinter ihr. Nur eine Person an diesem gesamten Ort hatte das Recht, sie unangekündigt zu stören, und so blieb sie, wo sie war, und betrachtete die jetzt mit einem Makel behaftete Karte. Sobald die Tür geschlossen war, sprach sie, wobei ihre Stimme in der Stille des Raums perfekt widerhallte. »Du warst nicht in der Lage, sie aufzuhalten.«

      »Es tut mir leid, Lune.« Joseph Winslow trat vor, an den Rand des kühlen Lichts. Es verlieh seinen gewöhnlichen Gesichtszügen einen seltsamen Schein. Was in der Helligkeit des Tages wie Jugend gewirkt hätte – mehr Jugend, als er für sich beanspruchen sollte –, verwandelte sich unter solcher Beleuchtung zu fremdartiger Alterslosigkeit. »Sie ist zu sehr im Weg. Ein Hindernis für Karren, Reiter, Kutschen, Fußgänger … sie dient keinem Zweck mehr. Keinem, den ich ihnen erklären kann, zumindest.«

      Blau spiegelte sich im Silber ihrer Augen, als sie mit ihnen der Linie der Mauer folgte. Die alte römische und mittelalterliche Befestigung, über die Jahrhunderte oft geflickt und verändert, aber in ihrer Essenz immer noch die Grenze des alten London.

      Und ihres Reichs, das verborgen darunter lag.

      Sie hätte dies kommen sehen sollen. Sobald es unmöglich wurde, noch mehr Menschen in die Grenzen von London hineinzustopfen, fingen sie an, sich außerhalb der Mauern auszubreiten. Flussaufwärts bis Westminster, in riesigen Häusern entlang des Ufers und in seuchengeplagten Mietshäusern dahinter. Flussabwärts zu den Schiffswerften, wo Seeleute unter den Lagerhäusern voller Güter aus fremden Ländern ihren Lohn versoffen. Auf der anderen Seite des Flusses in Southwark und nördlich der Mauer in den Vorstädten – doch im Herzen davon lag immer die Innenstadt von London. Und während die Jahre verstrichen, wurden die sieben großen Tore immer verstopfter, bis sie die endlosen Ströme der Menschheit, die herein- und hinausflossen, nicht mehr durchlassen konnten.

      Im gedämpften Tonfall eines Mannes, der einen Arzt um eine Auskunft bat, die seiner Befürchtung nach eine schlechte Nachricht wäre, fragte Winslow: »Was wird das mit dem Onyxpalast machen?«

      Lune schloss die Augen. Sie brauchte sie nicht, um ihr Reich anzusehen, den Feenpalast, der sich unter der Quadratmeile erstreckte, die von der Mauer eingeschlossen wurde. Jenes schwarze Gestein hätte ihre eigenen Knochen sein können, denn eine Feenkönigin herrschte durch die Verbindung zu ihrem Reich. »Ich weiß es nicht«, gestand sie ein. »Vor fünfzig Jahren, als das Parlament General Monck befahl, die Tore aus ihren Angeln zu reißen, befürchtete ich, dass es dem Palast schaden könnte. Dabei kam nichts heraus. Vor vierzig Jahren, als das Große Feuer die Eingänge zu diesem Ort verbrannte und sogar die St.-Pauls-Kathedrale, befürchtete ich, dass wir uns davon nicht erholen würden. Das wurde wiederaufgebaut. Aber jetzt …«

      Jetzt hatten die Sterblichen von London vor, einen Teil der Mauer einzureißen – ihn einzureißen und nicht zu ersetzen. Weil die Tore ausgebaut waren, konnte sich die Stadt im Krieg nicht länger schützen. In Wirklichkeit hatte sie auch keinen Bedarf mehr, das zu tun. Was die Mauer selbst zu wenig mehr als einer historischen Kuriosität machte und zu einem Hindernis für das Wachstum von London.

      Vielleicht würde der Palast dennoch stehen bleiben, wie ein Tisch, dem ein Bein weggebrochen war.

      Vielleicht aber auch nicht.

      »Es tut mir leid«, sagte Winslow erneut und hasste die Unzulänglichkeit der Worte. Er war ihr sterblicher Gefährte, der Prinz vom Stein. Es war sein Privileg und seine Pflicht, jene Punkte zu überwachen, an denen sich Feenlondon und das sterbliche London rieben. Lune hatte ihn gebeten, die Zerstörung der Mauer zu verhindern, und er war gescheitert.

      Lunes Haltung war selten etwas anderes als perfekt, doch irgendwie richtete sie sich noch mehr auf und straffte die Schultern, sodass diese eine Linie bildeten, die zu erkennen er gelernt hatte. »Es war eine unmögliche Aufgabe. Und vielleicht eine unnötige. Der Palast hat schon früher Schwierigkeiten überlebt. Aber wenn sich daraus irgendwelche Probleme ergeben, dann werden wir sie lösen, genau wie wir es immer getan haben.«

      Sie bot ihm ihren Arm an, und er nahm ihn und führte sie mit förmlicher Höflichkeit aus dem Raum. Zurück zu ihrem Hofstaat, einer Welt aus Feen, die sowohl freundlich als auch grausam waren, und den wenigen Sterblichen, die von ihrer Präsenz unter London wussten.

      Hinter ihnen, allein im leeren Raum, schwebten die Lichter wieder frei, und die Karte löste sich zu bedeutungslosem Chaos auf.

      TEIL EINS

      Februar-Mai 1884

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      »Ich erblicke London; ein menschlich schreckliches Wunder Gottes!« WILLIAM BLAKE

      »Jerusalem: The Emanation of the Giant Albion«

      »Oh Stadt! Oh neuester Thron! Wo ich erzogen wurde, um ein Mysterium aus Lieblichkeit für alle Augen zu sein, die Zeit ist fast gekommen, da ich dieses glorreiche Heim aufgeben muss für neue Entdeckungen: Bald werden jene strahlenden Türme sich mit dem Wink ihres Zauberstabs verfinstern. Verfinstern, und schrumpfen und zu Hütten erbeben, schwarze Flecken in einer Wüste aus ödem Sand, niedrig gebaut, mit Lehmwänden, barbarische Siedlung, wie verändert von dieser schönen Stadt!« ALFRED, LORD TENNYSON »Timbuctoo«

      »Eine große Stadt ist wie ein Wald– es ist nicht ihre Gesamtheit, die man über dem Boden sieht.« MR. LOWE, Parlamentsmitglied Ansprache bei der Eröffnung der Metropolitan Railway, abgedruckt in der Times, 10. Januar 1863

      Mit genug Zeit kann alles vertraut genug werden, dass man es ignorieren kann.

      Sogar Schmerz.

      Die sengenden Nägel, die durch ihr Fleisch getrieben wurden, schmerzen so, wie sie es immer getan haben, doch jener Schmerz ist bekannt, gezählt, in ihre Welt aufgenommen. Wenn ihr Körper auf einer Streckbank gefesselt ist, Muskeln und Sehnen zerrissen und von der Folter vernarbt, hat ihn zumindest in letzter Zeit niemand weiter gestreckt. Dies hier ist vertraut. Sie kann es ignorieren.

      Aber das Unvertraute, das Unvorhersehbare, stört diese Missachtung. Dieser neue Schmerz ist unregelmäßig und intensiv, nicht die stetige Qual von zuvor. Er ist ein Messer, das in ihre Schulter getrieben wird, eine plötzliche Pein, die wieder durch sie sticht. Und wieder. Und wieder.

      Sie kriecht immer näher an ihr Herz.

      Jeder neue Stich erweckt all den anderen Schmerz, jeden blutenden Nerv, den sie zu akzeptieren gelernt hat. Nichts kann noch ignoriert werden. Alles, was sie tun kann, ist es zu ertragen. Und das tut sie, weil sie keine Wahl hat. Sie hat sich an diese Qual gebunden, mit Ketten, die von keiner Kraft außer dem Tod gesprengt werden können.

      Oder vielleicht der Erlösung.

      Wie ein Patient, der von einer Seuche niedergestreckt wurde, wartet sie, und in ihren wachen Augenblicken betet