Die E-Zigarette. Bernd Mayer

Читать онлайн.
Название Die E-Zigarette
Автор произведения Bernd Mayer
Жанр Здоровье
Серия
Издательство Здоровье
Год выпуска 0
isbn 9783903229242



Скачать книгу

[45]. Demnach hatten die Versuchspersonen bereits nach Aufnahme von 4 mg Nikotin, was der Menge in einem Nikotin-Kaugummi entspricht, schwerwiegende Symptome bis hin zu Krampfanfällen und Bewusstlosigkeit. Welcher Fehler den damaligen Experimentatoren unterlaufen ist, lässt sich heute nicht mehr eruieren, aber geringe Mengen an Nikotin verursachen definitiv nicht derart schwerwiegende Symptome. Die Kobert‘sche Schätzung der letalen Dosis beruhte also auf einem offensichtlich fehlerhaften Bericht, wurde aber über 100 Jahre lang von Lehrbuchautoren unreflektiert abgeschrieben und noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts als allgemein gültig akzeptiert.

      Somit galt es die tatsächliche letale Dosis abzuschätzen. Dazu lieferten in der Fachliteratur beschriebene letale und fast letale Vergiftungsfälle wertvolle Hinweise, in denen die aufgenommene Menge an Nikotin und dessen Konzentration im Blut dokumentiert waren. Mit diesen Informationen konnte ich den Grenzwert für die letale Dosis abschätzen, wobei ich den ursprünglich errechneten Wert von 2 Gramm vorsichtshalber auf 0,5 bis 1 Gramm reduziert hatte. Meine Schätzung wurde im Oktober 2013 online und im Jänner 2014 in Papierversion publiziert und ist mittlerweile allgemein akzeptiert [46]. Ausnahmen sind Gesundheitsorganisationen wie die US Centers for Disease Control (CDC), die einen langjährigen Kampf gegen Nikotin führen und alle Informationen unter den Teppich kehren, die diesen Kampf gefährden könnten. Auf der Webseite der CDC findet man daher noch immer die berühmten 60 mg mit einem Literaturzitat, das ins Nirwana führt [47].

      Ich möchte aber betonen, dass man nikotinhaltige Lösungen dennoch mit Vorsicht handhaben sollte. Auch in deutlich niedrigerer Dosis kann Nikotin schweres Erbrechen und andere unerwünschte Wirkungen auslösen. Das betrifft vor allem Kinder, für die die gefährliche Dosis ihrem geringeren Körpergewicht entsprechend niedriger ist. In einem gewissen Alter tendieren Kleinkinder dazu alles zu schlucken was sie in die Finger bekommen. Es gab auch schon Verwechslungen aufgrund mangelhaft beschrifteter Gefäße. Wenn Papa konzentrierte Nikotinlösung in ein unbeschriftetes Arzneifläschchen abfüllt und Mama später der kleinen Tochter davon zehn Milliliter verabreicht, kann das ein fatales Ende nehmen. Deshalb ist unbedingt dafür Sorge zu tragen, Gefäße mit nikotinhaltigen Liquids sorgfältig zu beschriften und außerhalb der Reichweite kleiner Kinder aufzubewahren. Das gilt allerdings gleichermaßen für viele Dinge unseres Lebens, die für Kinder gefährlich sind, vom WC-Reiniger über Spirituosen bis hin zu Tabakzigaretten.

       3.4 HOHES SUCHTPOTENTIAL?

      Das hohe Suchtpotential von Nikotin ist wohl der am weitesten verbreitete Mythos über das Rauchen. Die Suchtwirkung von Nikotin sei vergleichbar mit – wenn nicht sogar stärker als – jene von Heroin, hört und liest man regelmäßig. Wenn ich in Vorträgen die diversen Mythen rund um Nikotin sachlich und evidenzbasiert als Schauermärchen entlarve, rufen meine Ausführungen zur „Nikotinsucht“ regelmäßig Zweifel an meiner Glaubwürdigkeit hervor. Von kopfschüttelndem Lächeln bis hin zu offener Feindseligkeit reichen die Reaktionen des Publikums. Die starke Abhängigkeit der meisten Raucherinnen und Raucher sei ja wohl offenkundig. Wie bereits im Abschnitt über die gesundheitlichen Aspekte geschildert, wird auch bei der Diskussion über Sucht und Abhängigkeit Nikotinkonsum mit dem Rauchen gleichgesetzt. Und es erweist sich als schwierig bis fast unmöglich, diese Gleichsetzung ohne Verlust von Glaubwürdigkeit sachlich und unaufgeregt zu hinterfragen.

      Bevor ich den Versuch wage, das hier zu tun, möchte ich daran erinnern, dass Raucherinnen und Raucher nicht an ihrer Abhängigkeit sterben, sondern an den schädlichen Wirkungen der Inhaltsstoffe von Tabakrauch. Man würde eine Sucht gegen eine andere tauschen, wird häufig angeführt. Selbst wenn dieses Argument gegen den Umstieg auf E-Zigaretten gerechtfertigt wäre, sollte man das tatsächliche Problem nicht aus den Augen verlieren. Es stellt sich allenfalls die Frage, ob Abhängigkeit ohne Schädigung von sich selbst oder anderen eine Einschränkung der persönlichen Entscheidungsfreiheit darstellt, die zu vermeiden und gegebenenfalls medizinisch zu behandeln wäre. Diese ethisch/moralische Frage lässt sich nicht sachlich beantworten.

      Die Abgrenzung von Sucht (englisch: addiction) und Abhängigkeit (englisch: dependence) ist ebenso schwierig wie eine allgemein akzeptierte Definition dieser Begriffe. Als Mitglied eines internationalen Netzwerks zu tobacco harm reduction hatte ich Gelegenheit, Diskussionen zur Definition dieser Begriffe von weltweit anerkannten Suchtexperten zu verfolgen, die letztendlich kein Ergebnis erbrachten. Auch die WHO kämpft seit Jahrzehnten mit der Terminologie und wird demnächst (ICD-11) auf die Verwendung dieser Begriffe gänzlich verzichten und stattdessen von substance use disorder (Substanzmissbrauch) sprechen. Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet und fühle mich nicht dazu berufen, zu dieser Diskussion substantiell beizutragen.

      Die WHO hat in ihrer Klassifikation von Krankheiten in der derzeit gültigen Fassung (ICD-10) Kriterien für die Abhängigkeit von Suchtmitteln erstellt (substance use disorder). Demnach ist die Diagnose „Abhängigkeit“ gerechtfertigt, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sind (deutsche Übersetzung gemäß drug.com.de):

      1 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.

      2 Verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.

      3 Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.

      4 Nachweis einer Toleranz gegenüber der Substanz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.

      5 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.

      6 Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

      Ob bei einem Großteil der Raucher drei dieser Kriterien erfüllt sind, weiß ich nicht. Mit Sicherheit fehlt aber das Kardinalsymptom substanzspezifischer Sucht, wonach Toleranz gegenüber dem Suchtstoff eine zunehmende Steigerung der zur Befriedigung erforderlichen Dosis zur Folge hat. Jedenfalls wäre ein beträchtlicher Anteil der Raucherinnen und Raucher gemäß WHO-Kriterien nicht abhängig, was aber Umfragen widerspricht, wonach 80 Prozent gerne aufhören würden, das aber nicht schaffen. Die WHO-Kriterien mögen für Heroinsucht anwendbar sein, sind aber offenbar nur sehr begrenzt für die Erfassung von Zigarettenabhängigkeit geeignet.

      Der Fagerström-Test (auf Seite 32) wurde in unzähligen Studien zum Abhängigkeitspotential des Rauchens eingesetzt. Die erzielte Punktezahl variiert mit Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Sozialstatus und anderen Faktoren, sodass die Angabe eines Mittelwerts weder möglich noch sinnvoll ist. Der Fragebogen wurde auch vielfach kritisiert und modifiziert. Besonders augenscheinlich ist, dass man selbst bei einer Punktezahl von 0 als „gering abhängig“ eingestuft wird, die Möglichkeit völliger Unabhängigkeit also nicht besteht. Zudem wurde gezeigt, dass die im Fagerström-Test ermittelte Punktezahl mit der Anzahl der täglich gerauchten Zigaretten korreliert [49], der komplexe Fragebogen demnach schlichtweg überflüssig wäre. Unabhängig von den teilweise kontroversen Zahlen aufgrund der WHO-Kriterien und des Fagerström-Tests ist das starke Abhängigkeitspotential des Rauchens wohl augenscheinlich. Im Folgenden werde ich kurz die Mechanismen beschreiben, die dieser Abhängigkeit zugrunde liegen.

      Ein gemeinsames Merkmal aller suchterzeugenden Substanzen ist die Freisetzung von Botenstoffen im Gehirn, sogenannten Neurotransmittern, die das Belohnungs- und Belohnungserwartungssystem aktivieren. Durch die Aussendung positiver Reize signalisieren diese Systeme Lust und Freude und motivieren uns durch diese „Belohnung“ zur Wiederholung