Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart. Kim Kestner

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Название Zeitrausch (3). Spiel der Gegenwart
Автор произведения Kim Kestner
Жанр Учебная литература
Серия Zeitrausch-Trilogie
Издательство Учебная литература
Год выпуска 0
isbn 9783401808017



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erschlafften Muskeln niedergezwungen.

      Doch der Schlag kommt nicht. Stattdessen fällt ein Messer auf den Boden. Mein Messer. Eine Armlänge entfernt liegt es auf der regendurchtränkten Erde. Ich greife danach. Meine Hände umschließen den Hirschhorngriff, noch bevor ich hochblicke.

      Da stehe ich, mein um Stunden jüngeres Ich. Vollkommen entkräftet. Sie nimmt mich nicht wahr. Auch den Stab nicht, der mich treffen sollte. Ihr Körper sackt neben mir in sich zusammen. Der Kopf schlägt wie meiner auf die Erde, aber ihrer kippt willenlos zur Seite.

      Ich sehe ihr Gesicht nicht, nur ihr Haar, dunkel und verfilzt, und aus den Augenwinkeln einen Regenbogen, der sich über das Meer bis zu einem mächtigen Mammutbaum in der Ferne spannt.

      Die Bilder meines Fluchtorts drängen sich geradezu in meinen Geist zurück und dann umfängt mich Wärme.

      Das war verflucht knapp!

      Ich ziehe scharf die Luft ein. Sie riecht nach Kiefern, mein Arm liegt jetzt in heißem Sand, in der Hand jedoch halte ich immer noch das Messer. Wahnsinn! Ich habe mehr Glück als Verstand gehabt.

      Ächzend setze ich mich auf. Der Stoß in meinem Rücken war heftig. Ein stechender Schmerz zieht von meinem Schulterblatt bis in meine Waden und ich unterdrücke ein Stöhnen, während ich umständlich auf die Füße komme.

      Gut 100 Meter entfernt spielt ein Kind am Wasser. Ich weiß, dass ich es bin, im Alter von drei oder vier Jahren. Die Erinnerung an diesen Moment hat mich hierhingetragen. Meine jungen Eltern liegen im Schatten einer Kiefer und beobachten ihr Kind. Wie friedlich es hier ist!

      Einen Augenblick kämpfe ich mit dem heftigen Bedürfnis, zu ihnen zu gehen, sie zu umarmen. Aber was sollte ich ihnen sagen? Hallo, ich bin eure Tochter, 19 Jahre alt und durch die Zeit gesprungen, weil eine Söldnerarmee aus der Zukunft mich umbringen will?

      Nein, es ist besser, sie bemerken mich nicht. Außerdem wird jeden Moment ein weiteres Ich hier auftauchen. Denn erst gestern war ich hier, linear gesehen, um den Ports zu entkommen, Zeit zu schinden. Da waren meine Sprünge noch auf exakt 90 Sekunden begrenzt. Dann hat mich eine unsichtbare Macht zurückgezogen und ich musste weiterkämpfen. Rennen und schreien und kämpfen, bis ich nicht mehr konnte, das Messer fallen ließ und einer der Ports meinen Nacken mit dem Stab berührte, der alle Muskeln erschlaffen lässt. Ich sank auf die Erde, sah den Regenbogen, den Mammutbaum an seinem Ende und schaffte es mit der Kraft der Verzweiflung, mich dahin zu portieren.

      Dass Sam Oscar wirklich dort auf mich gewartet hat, kann nur bedeuten, er muss den Regenbogen aus meiner Warte gesehen haben. Irgendwo zwischen den Hunderten von Ports muss er zumindest einige Sekunden verharrt haben, um meinem um Wochen jüngeren Ich diese Information geben zu können. Er hätte mich auch einfach an der Hand nehmen, mich und Kay vom Schlachtfeld in eine andere Zeit ziehen können. Aber er will, dass ich leide, all diese schrecklichen Erfahrungen mache, damit ich seine Prophezeiung erfülle. Ich soll eine einsame Kämpferin werden, seine Kämpferin, die diesem grausamen Spiel ein Ende setzt.

      Ich beschließe, nicht mehr über Oscar nachzudenken. Ohnehin werde ich ihn nie wiedersehen. Zumindest nicht, wenn mir der nächste Schritt gelingt. Ich muss ein geeignetes Tier erlegen, damit ich mit dessen Blut und Fleisch meinen Tod glaubhaft vortäuschen kann.

      Das Messer und meine mit Matsch verdreckten Hände versuche ich an meiner Hose abzuwischen. Sinnlos. Sie ist genauso dreckig wie der Rest und schon steif von getrocknetem Schlamm. Ich werfe noch einen Blick auf das spielende Kind, dann drehe ich mich um und gehe tiefer in den Kiefernwald hinein. Niemand hat mich bemerkt und so soll es auch bleiben.

      Den nächsten Schritt muss ich besser vorbereiten. Er dürfte nicht weniger gefährlich werden und die Inszenierung meines Selbstmords muss die Ports überzeugen. Ich darf keinen Fehler machen, denn einen zweiten Versuch werden sie mir nicht abnehmen.

      Mit jedem Schritt spüre ich meine Erschöpfung ein Stück mehr. Wie lange habe ich schon nicht mehr geschlafen? 30 oder 40 Stunden? Ich weiß es nicht. Der ständige Wechsel zwischen Tag und Nacht bringt meine innere Uhr vollkommen durcheinander. Jetzt müsste es Mittag sein, die Sonne steht im Zenit und wirft ihre wärmenden Strahlen auf den mit Kiefernnadeln übersäten Boden. Wahrscheinlich wäre es vernünftig, einige Stunden zu schlafen. Aber ich bin mir sicher, dazu nicht in der Lage zu sein. Mein Herz schlägt auch jetzt noch viel zu schnell, um Ruhe zu finden.

      Bald höre ich das Meer nicht mehr und kurze Zeit später treffe ich auf einen Schotterparkplatz. Ein Pick-up steht einsam dort. Dads Pick-up. Wie von einem Magneten angezogen, gehe ich darauf zu. Ich kann nicht anders. Ich muss ihn berühren.

      Meine Finger streifen über das warme Blech, den senfgelben Lack, der in der Sonne glitzert. Der Wagen wirkt nagelneu. In einigen Jahren wird er voller Beulen und Rost sein. Ich schätze, Dad hat ihn gerade erst gekauft. Richtig, es war kurz nachdem sein Vater, mein Opa, starb … 1999, also.

      So nah war ich meinem Zuhause seit Wochen nicht mehr und plötzlich wird mir bewusst, dass mein Elternhaus nur wenige Kilometer entfernt steht. Ich bin ganz in der Nähe von Mill Valley! Nur 2, vielleicht 3 Stunden zu Fuß entfernt von meinem Zimmer, den wiegenden Kronen der Mammutbäume, dem Gefühl von Frieden und Geborgenheit, dem Geruch von Sägespänen, der immer in der Luft liegt, wenn Dad in seinem Schuppen arbeitet.

      Diese Erkenntnis raubt mir mehr Kraft als die vergangenen 40 Stunden und auf einmal fühlen sich meine Beine bleischwer an. Ich darf nicht länger hierbleiben. Sonst schaffe ich es nicht mehr, mich von diesem Ort zu lösen.

      Ich reibe mir übers Gesicht, bis bunte Flecken vor meinen Augen tanzen, dann drehe ich mich um und überquere den Parkplatz, ohne nochmals zurückzublicken. Ich will nichts mehr fühlen, mich nicht mehr sehnen, und konzentriere mich ganz auf mein Ziel: die Jagd.

      Nach wenigen Metern trennt eine schnurgerade Asphaltstraße die licht stehenden Kiefern von einem dicht bewachsenen Tannenwald. Ein einsamer Wagen rauscht vorbei, dann husche ich ungesehen auf die andere Seite.

      Zwischen den hohen Tannen ist es merklich kühler. Moos überzieht flache Steine und überall wuchert Farn. Beides spricht für Feuchtigkeit. Es dürfte also nicht schwer sein, eine Wasserquelle zu finden.

      Immer weiter folge ich den Zeichen der Natur: dichter werdenden Gräsern, Sumpfdotterblumen, Schilfgras, Wasserlilien, die mich nach einer gefühlten Stunde tatsächlich zu einem Bach führen. Er ist weder breit noch tief und beinahe ausgetrocknet. Aber wo auch nur ein Rest Wasser ist, sind auch Tiere. Vor allem im Hochsommer.

      Jetzt, da ich es sehe, spüre auch ich meinen Durst. Ich habe schon eine Ewigkeit nichts mehr getrunken und bei meinem Kampf gegen die Ports jede Menge Flüssigkeit verloren. Ich schlucke trocken. In meinem Mund sammelt sich kaum noch Speichel.

      Kurz entschlossen knie ich mich auf das feuchte Moos und schöpfe Wasser aus dem Bach in meinen Mund. Es ist warm und braun und ich weiß, ich sollte es abkochen, aber falls es mich krank macht, werde ich es frühestens in einem Tag merken und dann werde ich entweder frei oder ohnehin tot sein.

      Als ich meine, keinen Tropfen mehr trinken zu können, suche ich mir einen armdicken Ast, schäle mit dem Messer erst die Rinde ab und schnitze danach so lange, bis er fast wie ein Riesenlöffel aussieht. Dann beginne ich zu graben. Ich werde drei Fallen bauen: eine Steinfalle, eine Schlinge und eine Grubenfalle. Vor allem Letztere ist verdammt mühselig und ich fürchte, es wird mich den Rest des Tages kosten. Dann muss ich auch noch Köder finden.

      Also gönne ich mir keine Pause, kratze, scharre und schaufle Erde und Steine aus, bis mein Arm schmerzt. Irgendwann stelle ich fest, dass es kühler geworden ist und die Tannen zunehmend längere Schatten werfen, und als sich das Wasser im Bach rot unter der Abendsonne färbt, bin ich endlich fertig.

      Die Grube ist so lang und tief wie mein Arm, bedeckt mit Schilfgras, ein nützliches Gewächs, aus dessen Fasern ich Seile für die anderen Fallen geflochten habe. Die Arbeit hilft mir, nicht über das Bevorstehende nachzudenken.

      Ich stehe auf, strecke meine Glieder und blicke mich um. Ich weiß, wo ich nach einfachen Ködern suchen muss. Nach kurzer Zeit habe ich unter loser Borke sieben fette Käferlarven gefunden, breche sie auf und spicke zwei meiner