Känguruherz. Doris Herrmann

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Название Känguruherz
Автор произведения Doris Herrmann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783347041769



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Die Beziehung zwischen Simon und mir schlug erste kleine Funken. Zunehmend unabhängiger und fast befreit von der mütterlichen Kontrolle schrieb ich ihm von meinen Plänen, mich künftig in Israel niederzulassen. Zuerst jedoch wollte ich ein halbes Jahr in einer sozialen Heimstätte in England arbeiten, um meine Englischkenntnisse zu vervollständigen. Ich schrieb, dass ich natürlich neugierig auf die erste Begegnung mit ihm sei, worauf er zurück schrieb, ich solle zuerst zu ihm nach Israel kommen, denn auch er sei neugierig auf mich! Darauf sandte ich ihm die Nachricht, dass ich zunächst auf eine Haushaltsschule in die Ostschweiz ginge, um mit den erworbenen Fertigkeiten auch in einem Kibbuz künftig einsatzbereit zu sein. In diesem Brief erwähnte ich auch die Kängurus etwas ausführlicher, in der Hoffnung, Simon werde sich ein wenig bewegen, um mir auf dieser Ebene entgegenzukommen.

      In der Haushaltschule, in der ich als einzige Gehörlose sechs Sommermonate verbrachte, erreichte mich eines Morgens ein Brief Simons, den Mama mir nachgeschickt hatte. Rasch öffnete ich das Kuvert und las: „…Du hast eine Krankheit, es ist eine Sucht nach Kängurus, sie heisst… (hier folgte eine von Simon erfundene medizinische Verballhornung, an die ich mich nicht mehr erinnere.) Versuche langsam davon wegzukommen, um geheilt in der Zukunft mit mir zusammen leben zu können. Ich will dir das Beste wünschen…“

      Alles begann sich zu drehen, mir wurde schwindlig. Rasch steckte ich den Brief unter mein Kissen. Den anderen gegenüber hatte ich grosse Mühe, meine Niedergeschlagenheit zu unterdrücken und zu verbergen. Die Worte Simons hatten mich so tief verletzt wie nichts in meinem ganzen Leben bis dato. Doch war ich zugleich erleichtert, jetzt nicht zu Hause zu sein, denn mich plagte die Angst vor eventuellen Umstimmungsversuchen seitens meiner Eltern.

      Am folgenden Tag schrieb ich ausführlich darüber an Tante, meiner einzigen Vertrauensperson in persönlichen und intimen Dingen, die mich daraufhin beruhigte, dass ich mir unter diesen Umständen keine Sorgen wegen irgendwelcher Heiratspläne machen müsse. Ausserdem sei ein lediger Mensch frei und könne glücklicher leben. (Sie selber war nicht verheiratet.) Das beruhigte mich ein wenig, doch blieb meine Furcht, von den Eltern nach Simon befragt zu werden.

      Von mir und meinen Kängurus wusste schon sehr bald jede Schülerin, sogar die Schulleitung und die Lehrkräfte. Sie freuten sich mit mir darüber. Einmal in der Woche durfte eine Schülerin einen Vortrag zu ihrer eigenen Person halten. Als ich in der Lage war, mit fast allen lautsprachlich gut zu kommunizieren, kam auch ich an die Reihe. Voller Begeisterung erzählte ich von meinen Erlebnissen mit den Kängurus im Basler Zoo, worauf mir alle applaudierten! Ich konnte mein Glück kaum fassen, zählte es für mich doch zum Allerschönsten, zum ersten Mal meine starken Empfindungen offenbaren zu dürfen.

      Auf Kurzurlaub fuhr ich allein mit Bus und Zug nach Hause. Am Basler Bahnhof gab es einen herzlichen Empfang durch meine Eltern. Meine Ängste bezüglich Simons waren wie weggeblasen. Daheim aber, beim Vieruhr-Tee, sass ich plötzlich wie versteinert am Tisch: Ein Brief von Simon lag auf meinem Teller! Wortlos blickte ich zu Mama, die mir zulächelte und fragte, was zwischen mir und Simon sei. Ich brauchte eine gehörige Portion Überwindung um ihr zu beichten, schon etliche Monate nicht mehr an ihn geschrieben zu haben. Bedächtig öffnete ich den Brief und las die spitzen Worte:

      „Liebe Doris,… ich glaube, Du bist jetzt gesünder und ganz geheilt von Deinen krankhaften Gefühlen… Hast Du inzwischen Pläne für Israel und unser erstes Treffen gemacht? … Schreib mir bitte bald wieder…“

      Mit einem bedrückten Lächeln, aber gefasst gab ich Mama den Brief zu lesen. Um vom Thema abzulenken, bat ich sie darauf, mein Gesicht anzuschauen und zu prüfen, ob es von den Windpocken, die ich vor nicht allzu langer Zeit gehabt hatte, inzwischen geheilt sei. Sie untersuchte es genau und antwortete schmunzelnd, nun sei es wieder schön und die wenigen Pickel kämen sicher von zuviel Käse oder Nüssen. Sofort begann ich mit meinen Erzählungen auf sie einzustürmen, ohne sie zu Wort kommen zu lassen. Atemlos berichtete ich von Erlebnissen auf der Haushaltsschule, davon, wie man Kuchen und Brot backt, wie man Hafer röstet… und natürlich von meinem ersten „Känguruvortrag!“ Gebannt und begeistert hörten meine Eltern zu. Und ohne mich auch nur eine Sekunde zu unterbrechen, teilte ich ihnen zuletzt mit, dass ich mich entschieden hätte, nicht nach Israel auszuwandern! Durch das rasante Erzählen hatte sich in mir so viel Mut angesammelt, dass mir die Bekanntmachung dieses Entschlusses relativ leicht über die Lippen ging.

      Glückliche Fügung

      Zu meiner Verblüffung wirkte sich mein Entschluss nicht negativ auf die Stimmung daheim aus. Ich hatte Vorwürfe erwartet, doch meine Eltern teilten meine Meinung, nicht zuletzt – das spürte ich sofort – weil sie glücklich waren, mich weiterhin bei sich zu wissen. Insbesondere mein Papa war über diese Wendung der Ereignisse offenbar so beglückt, dass er sich zu allerlei albernen Spässen hinreissen liess.

      Während der Zubereitung des Abendessens erzählte ich die ganze Geschichte vom Bruch zwischen Simon und mir. Und wir lachten und amüsierten uns gemeinsam über seine merkwürdigen Ansichten. So wurde mir eine gewaltige Last von den Schultern genommen, und ich fühlte mich befreit. Mama riet mir, ihm in aller Ruhe zu schreiben, was ich auch tat. Eine Antwort bekam ich allerdings nie. Beglückt reiste ich für den letzten Monat zurück in die Schule.

      Ich war gerade dabei, Berge von Geschirr zu spülen, als ich auf einmal ein Rasseln spürte. Erschrocken schaute ich auf und sah eine Schar Schülerinnen fröhlich auf mich zustürzen. Sie umringten mich und teilten mir mit, dass die neue Haushaltslehrerin soeben angekommen sei. Sie sei Schweizerin und habe viele Jahre in Australien gelebt. Australien!! – Als dieses Wort auftauchte, war ich so aus dem Häuschen, dass ich die Teller beinah hätte fallen lassen! Die Begegnung mit unserer neuen Lehrerin konnte ich kaum erwarten. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich jemanden sehen, der in Australien gewesen war. Dank dieser Lehrerin, die ich fortan mit meinen Fragen „ausquetschte“ wie eine Zitrone, rückte der heiss ersehnte Kontinent langsam näher. Ich fing sogar an, mit ihr Reisepläne für eine noch ferne Zukunft zu schmieden! Da machte es mir nichts aus, wenn sie mich wegen manch vernachlässigter Hausarbeit tadelte. Schwer hingegen fiel mir die Vorstellung, sie schon so bald verlassen zu müssen, denn der Sommerkurs neigte sich dem Ende zu. Zum Abschied schenkte sie mir einige australische Münzen mit aufgeprägten Kängurus. Mama liess eine von ihnen vergolden und überraschte mich damit zu meinem 21. Geburtstag.

      Im Herbst 1954 trat ich als Handweberin in mein erstes Arbeitsverhältnis ein. In der Basler Altstadt, beim berühmten Spalentor, gab es einen kleinen Betrieb für Handwebereien in einem hübschen, dreistöckigen Haus aus dem 18.Jahrhundert. Mit Lotti, der Leiterin, stand ich bereits seit Jahren in einem freundschaftlichen Verhältnis. Mit ihr konnte ich perfekt kommunizieren. Den ganzen Tag webte, zettelte, spannte oder spulte ich nun frohen Mutes. Es machte mir auch Spass, vorbeikommende Freunde und Bekannte im Laden selber zu bedienen oder die Schaufenster zu dekorieren. Die Kaffeepausen waren am anregendsten, wenn ich mit Lotti oder den anderen Mitarbeiterinnen plaudern und gelegentlich von „meinen“ Kängurus erzählen durfte.

      Während der Webarbeit am grossen Webstuhl schaute ich einmal vom Fenster des zweiten Stockwerkes hinunter auf den winzigen Innenhof. Da glitt die Spule mit Webgarn aus meiner Hand und fiel hinab. Ich rannte hinunter und holte sie wieder herauf. Kurz darauf kehrte dies Ereignis als Traum zurück. Mit einer gewissen Bangigkeit teilte ich ihn Mama mit:

      „Gerade als ich im Laden am Verkaufen bin, erscheint Simon, der mich mit Vorwürfen überschüttet, mir die Goldkette mit der Kängurumünze abreisst und mich auffordert, mit ihm wegzuziehen. Hilflos flüchte ich die Treppen zum obersten Stockwerk hinauf und stürze mich aus dem Fenster in den Innenhof, um durch den Tod einer unglücklichen Zukunft zu entrinnen. Unten aufgeschlagen, verspüre ich keinerlei Schmerzen und bin offenbar unversehrt. Ich stehe auf und sehe, dass die Tür nicht mehr vorhanden ist. Vergeblich suche ich den Ausgang, bis ich eine winzige Lücke finde und hindurch schlüpfe. Sofort eile ich hinaus in die weiten, herrlich grünen Fluren…“

      Mama fand die ermutigende Deutung, dass mir dieser Traum die Lücke zum Entkommen gezeigt und mir damit den richtigen Weg hinaus in ein freies und glückliches Leben gewiesen habe.

       Dora

      Wunderbare Berührungen

      Ich