Gesammelte Erzählungen. Charles Dickens

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Название Gesammelte Erzählungen
Автор произведения Charles Dickens
Жанр Сказки
Серия
Издательство Сказки
Год выпуска 0
isbn 9783958555167



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aber Sie scheinen ein offener, ehrlicher Mensch zu sein“, sprach der Richter, den Meister dabei durch seine Brillengläser flüchtig anguckend. Wäre er nicht halb blind und beinahe schon kindisch gewesen, so hätte ihm die Brutalität in Gamfields Gesicht auffallen müssen.

      „Ich denke das zu sein“, entgegnete der Meister mit einem häßlichen Blick.

      „Daran zweifle ich nicht, mein Freund“, fuhr der alte Herr fort und suchte nach dem Tintenfaß.

      Es war für Olivers Schicksal ein kritischer Augenblick. Hätte das Tintenfaß da gestanden, wo es der alte Herr vermutete, so hätte er seine Feder eingetaucht und den Lehrbrief unterzeichnet. Gamfield hätte dann Oliver gleich mitgenommen. Aber da es unmittelbar vor seiner Nase stand, so suchte er natürlich vergebens nach ihm auf dem Pulte herum. Er begegnete dabei dem verstörten Blicke Olivers, der trotz aller ermahnenden Winke und Püffe Bumbles seinen künftigen Lehrherrn mit Furcht und Schrecken betrachtete. Halb blind wie er war, fiel es doch dem Friedensrichter auf. Er hielt daher inne, legte die Feder hin und schaute von Oliver zu Herrn Limbkins hinüber, der unbefangen zu erscheinen versuchte und lächelnd eine Prise nahm.

      „Mein Junge“, sagte der alte Herr und beugte sich über das Pult. Oliver fuhr bei diesem Tone zusammen, denn er war einer freundlichen Anrede nicht gewohnt. „Mein Kind, du siehst blaß und verstört aus. Was ist dir?“

      „Tretet ein wenig auf die Seite, Bumble“, sagte der andere Ratsherr, die Zeitung weglegend. Er sah Oliver teilnahmsvoll an und sprach: „Junge, sag uns, was dir ist, habe keine Angst!“

      Oliver fiel auf die Knie und bat mit gefalteten Händen, man möge ihn lieber in die finstere Kammer sperren, ihm nichts zu essen geben, ihn prügeln, ja totschlagen, nur solle man ihn nicht mit diesem schrecklichen Manne fortschicken.

      „Nun“, sagte Herr Bumble, indem er feierlich Augen und Hände gen Himmel hob, „von allen lügnerischen, hinterlistigen Waisenkindern, die mir je vorgekommen sind, bist du der frechste.“

      „Haltet den Mund, Gemeindediener!“ sagte der zweite alte Herr, als sich Herr Bumble in dieser Weise Luft gemacht hatte.

      „Verzeihung, Euer Gnaden!“ entgegnete Bumble, der seinen Ohren nicht traute, „haben Euer Gnaden mich gemeint?“

      „Jawohl. Sie sollen den Mund halten!“

      Herr Bumble war starr. Einem Gemeindediener den Mund zu verbieten Das war ja Revolution.

      Der Friedensrichter guckte seinen Kollegen bedeutungsvoll an und sagte dann:

      „Wir versagen dem Lehrbriefe unsere Genehmigung“; damit schob er das Pergament beiseite.

      „Ich hoffe“, stotterte Herr Limbkins, „Sie werden nicht glauben, daß die Behörde fahrlässig gehandelt hat, noch dazu auf das unhaltbare Zeugnis eines Kindes hin.“

      „Wir sind nicht berufen, darüber eine Meinung auszusprechen“, versetzte der alte Herr ziemlich scharf. „Nehmen Sie den Jungen wieder mit und behandeln Sie ihn anständig. Er scheint’s nötig zu haben.“

      Am nächsten Morgen wurde Oliver wieder für fünf Pfund ausgeboten.

      Viertes Kapitel

      Oliver findet eine Stelle und macht den ersten Schritt ins Leben

      Angesehene Familien schicken die jüngeren Söhne, die sonst keine Aussicht haben vorwärtszukommen, gern auf die See. Der Armenhausvorstand beschloß dieses weise Beispiel nachzuahmen. Er glaubte, es wäre das Beste für Oliver. Vielleicht würde ihn ein Schiffer in der Trunkenheit zu Tode prügeln oder sonst wie um die Ecke bringen. Herr Bumble erhielt also den Auftrag, einen Schiffer ausfindig zu machen, der Oliver nehmen würde. Als er von dieser Mission zurückkehrte, traf er in der Haustür den Leichenbestatter Herrn Sowerberry. Dieser war trotz seines ernsten Berufes keinem Scherze abgeneigt. Er schüttelte Herrn Bumble die Hand und sagte:

      „Ich habe den beiden Weibern, die gestern abend starben, eben Maß genommen.“

      „Sie werden noch reich werden, Herr Sower­berry.“

      „Glauben Sie? Aber die von der Gemeinde bewilligten Preise sind zu gering, Herr Bumble.“

      „Die Särge sind auch dementsprechend klein“, erwiderte der Gemeindediener würdevoll lächelnd.

      Herr Sowerberry fand diesen Witz furchtbar komisch und lachte anhaltend. Endlich sagte er:

      „Größere sind bei dem neuen Verpflegungssystem auch nicht nötig.“

      „Übrigens, Herr Sowerberry, wissen Sie keinen, der einen Lehrjungen gebrauchen kann?“ fragte Herr Bumble, der das Gespräch ablenken wollte. „Sehr günstige Bedingungen, sehr günstig.“

      Währenddessen zeigte er mit seinem Stock nach dem Anschlag an der Tür und schlug dreimal bedeutungsvoll auf die großgedruckten Worte „fünf Pfund“.

      „Nun, wie wär’s?“

      „Ach, Sie wissen, Herr Bumble, daß ich viel Armensteuer bezahle.“

      „Nun?“

      „Da dachte ich, wenn ich soviel bezahle, hätte ich auch ein Recht, wieder etwas davon rauszukriegen. Ich möchte deshalb schon den Jungen nehmen.“

      Herr Bumble faßte den Leichenbestatter am Arme und führte ihn ins Haus. Dort hatte Herr Sowerberry eine Unterredung von fünf Minuten mit dem Vorstand, und man kam überein, daß Oliver ihm noch am selben Abend auf Probe übergeben werden solle. Dies wurde Oliver von den Herren mitgeteilt und ihm gleichzeitig angedroht, daß man ihn auf die See schicken würde, wenn er es in der Lehre nicht aushielte und der Gemeinde nochmal lästig fiele. Oliver hörte das schweigend an, dann führte ihn der würdige Herr Bumble an den neuen Schauplatz von Leiden. Als sie dem Orte ihrer Bestimmung näher kamen, sagte Herr Bumble:

      „Schiebe dir die Mütze aus dem Gesicht, und halte den Kopf hoch.“

      Der Leichenbesorger hatte eben die Fensterladen seiner Werkstätte geschlossen und trug beim Schein einer Kerze einige Posten in sein Buch ein, als Herr Bumble eintrat.

      „Sind Sie es, Bumble?“ sagte Sowerberry und blickte von seinem Buche auf.

      „Niemand anders“ versetzte der Gemeindediener, „und da ist der Junge.“

      Oliver machte einen Diener.

      „Also das ist der Junge“, sagte der Leichenbesorger und hob die Kerze hoch, um ihn besser betrachten zu können. „Liebe Frau, komm doch mal herein.“

      Frau Sowerberry kam aus einem kleinen Zimmer hinter der Werkstätte, sie war eine kleine, magere Person mit einem Gesicht wie eine Xanthippe.

      „Das ist der Junge aus dem Armenhause, von dem ich dir gesprochen habe.“

      „,Mein Gott“, sagte sie, der ist aber doch zu klein.“

      „Klein ist er freilich“, bemerkte Herr Bumble, „aber er wird wachsen, sicher, er wird wachsen.“

      „Das glaub’ ich wohl“, sagte Frau Sowerberry, „aber von unserer Kost. – Da, geh die Treppe herunter, kleines Gerippe! Charlotte, gib dem Jungen etwas von dem, was für den Hund zurückgestellt war, der kriegt nichts mehr, da er heute morgen nicht nach Hause gekommen ist“, rief sie dem Dienstmädchen zu.

      Oliver verschlang mit Gier den Hundefraß.

      „Nun“ sagte Frau Sowerberry, „bist du fertig?“ Sie hatte mit Entsetzen und düsterer Ahnungen voll zugesehen, wie ein solcher Appetit in Zukunft zu befriedigen sei. Oliver bejahte.

      „So komm mit. Dein Bett ist unter dem Ladentisch. Ich denke, es macht dir nichts aus, unter den Särgen zu schlafen. Doch gleichviel, eine andere Schlafstelle können wir dir nicht geben.“

      Fünftes Kapitel

      Oliver lernt seine neue Umgebung kennen und nimmt zum erstenmal an einem Leichenbegängnis teil. Er faßt eine ungünstige Meinung vom Geschäfte seines Meisters

      Am