Название | B'tong |
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Автор произведения | Roland Platte |
Жанр | Контркультура |
Серия | B'tong |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347055506 |
Sybille schaut auf zur schwedischen Standuhr. Es ist so ziemlich die einzige Antiquität, die sie im Haus besitzen. Blassgrün, rundlich geformt, in der Taille verengt wie ein Frauenkörper, schlägt diese schon seit Jahrzehnten mit entwaffnender Genauigkeit genau zur vollen Stunde 4 Schläge an. Danach bleibt sie allerdings stumm. Welche volle Stunde sie meint, das muss man dann an den Ziffern ablesen. Sybille hatte diese Uhr als Kind von Ihrer schwedischen Großmutter geschenkt bekommen, als diese, beziehungsweise ihr Mann, Konkurs anmelden musste und riskierte, die Uhr zu verlieren. Sie liebt diese Uhr, das regelmäßige Ticken, eigentlich mehr eine Art Rasseln. Auch die eigenartige Form. Im Grunde genommen, fühlt sich Sybille nirgends auf der Welt richtig zu Hause. Allein da, wo diese schwedische Standuhr steht, hat sie das Gefühl, dass sie dahin gehört. Sie könnte sich von allem trennen, nur von dieser Standuhr nicht. Diese ist wie ihre heimliche Schwester oder wie ein zweites "Ich".
Das Wohnzimmer ist aufgeräumt, die Kinder sind noch in der Schule, und sie ist praktisch fertig mit den Vorbereitungen auf die nächsten Unterrichtsstunden. Inklusive der Überlegungen, wie sie mit dem etwas zu dreisten, pubertierenden Jungen fertig werden würde. Die penisartigen Hinweise, waren eben nicht nur Zufall gewesen, sondern eindeutige Provokation.
Plötzlich fühlt sie sich eingenommen von einer Empfindung der Einsamkeit. Sie will es sich zwar nicht eingestehen, aber insgeheim fühlt sie, dass etwas in ihrem Paarleben nicht mehr stimmt. Etwas ist anders geworden. Ganz leicht ist etwas verrutscht. Vielleicht sollte sie dieses idiotische Machtspiel mit dem Sex oder besser mit Un-Sex aufgeben und sich wieder ihm hingeben. Ist nicht Sex der beste Beziehungskleister überhaupt? Auf jeden Fall steht das so in fast allen Frauenzeitschriften. Aber mehr als von der Sexproblematik, scheint Carsten zurzeit dem starken Druck seiner Erfindung ausgesetzt zu sein.
Sie hat ja nichts dagegen, im Gegenteil, sie liebt es, wenn Carsten so vehement hinter einem Ziel her ist. Allerdings ist es dieses Mal anders. Als ob ein kleiner Junge nicht nur mit Streichhölzern spielt, sondern mit einem Flammenwerfer. Ist Carsten reif genug dafür? Ihr Blick streift aus dem Fenster, ins gegenüber liegende Atelier, welches Carsten jetzt zu seinem neuen Privatlabor gemacht hat. Das Ganze ist Teil einer alten Scheune, die sie vor 10 Jahren zusammen mit dem Haus, dem Hof und dem Garten gekauft haben. Für die Kinder ist es ein Paradies, für sie eigentlich auch, nur fühlt sie sich hier draußen etwas abgeschnitten von Kino, Theater, Geschäften, Freunden und Kollegen.
Sie steht plötzlich auf, packt eine Handvoll Briefe, die für Carsten angekommen waren und läuft hinüber zum Atelier.
Die Tür knirscht leise als sie sie aufdrückt. Sie befindet sich auf einmal in einem Chemielabor: hunderte Reagenzgläser, Kolbenfläschchen, einige Bunsenbrenner, Gas- und Sauerstoffflaschen sowie Magnetmischer und Analysegeräte bilden einen komplexen Aufbau. Unglaublich, dass Carsten das alles hat einrichten können, ohne dass sie das richtig mitbekommen hat.
Auf einem improvisierten Schreibtisch, eine Tür horizontal auf zwei Trägern, entdeckt sie unzählige Briefe, alles ungelesene Post, oder gerade mal kurz angelesen.
Sie verspürt plötzlich Sehnsucht nach Carsten, oder vielleicht eher nach dem Carsten, der ab und zu mal zum Vorschein kommt, wenn alles stimmt. Sie geht langsam durch den Raum, sieht sich seinen improvisierten Labortisch an, nimmt ein Reagenzglas in die Hand, schaut durch die trübe Lösung, als ob sie dort eine Erklärung finden könnte für Ihre Sehnsucht. Sie steckt das Glas wieder in die Vorrichtung, als sie in einem verglasten Wandschrank neben einem ausgehöhlten Betonklotz eine braune Phiole mit der Aufschrift Whiskey sieht.
Sie nimmt das Fläschchen aus dem Schrank und träufelt ein paar Tropfen auf den Betonklotz, es zischt ein wenig und frisst schließlich eine Mulde in den Klotz. Sie wiederholt den Vorgang mehrere Male, bis ein kreisrundes Loch entstanden ist und sie durch den Klotz hindurchsehen kann.
- Bist du verrückt?
Carsten steht an der offenen Scheunentür; sie hat ihn nicht kommen hören.
- Was machst du denn in meinem Labor? Hey, du hast ja fast meine ganze Reserve verbraucht. Sybille, ehrlich, was soll denn das? Ich brauche diese doch ganz dringend für meine Demonstrationen. Und du kippst das einfach so weg.
Er versucht ihr die Phiole aus der Hand zu nehmen, aber mit einer flinken Seitwärtsbewegung entgeht sie seinem Griff.
- Hast du dir eigentlich mal überlegt, was passiert wäre, wenn ich das getrunken hätte?
- Wieso getrunken?
- Naja, immerhin steht da Whiskey drauf.
- Das ist Tarnung. Und außerdem ist das Mittel völlig ungefährlich.
- Das löst Beton auf und soll völlig ungefährlich sein. Aha! Du spinnst ja. Ich weiß gar nicht, warum du dich wegen der paar Tropfen so aufregst, du kannst doch jederzeit neuen Betonverflüssiger herstellen, oder wie das Zeugs heißt. Ist doch deine Formel!
- Was machst du eigentlich hier, in meinem Labor?
- Ist das jetzt dein Labor? Deine Scheune? Nur für dich? Brauch ich jetzt eine Magnetkarte, um zu dir zu kommen? Soll ich auch deine Sekretärin bitten, mir einen Termin zu geben, damit ich mal mit dir sprechen kann?
- Jetzt übertreib‘ doch nicht, Sybille.
- Nicht übertreiben? Du bist einfach nicht mehr da, Carsten. Seit einer Woche kümmere ich mich alleine um die Kinder, um den Haushalt, um alles und weiß noch nicht einmal, wo du bist. Ich kann noch nicht einmal deinen unzähligen Geschäftspartnern sagen, wo sie dich erreichen können.
Carsten entwendet ihr endlich das Fläschchen und stellt es zurück in den Schrank. Er dreht sich wieder ihr zu, setzt sich auf den Schreibtisch und tut so, als würde er geduldig das Ende der Standpauke abwarten.
- Carsten, das letzte, was wir zusammen gemacht haben, das war der Sonntagsspaziergang. Seither bist du abwesend.
- Es ist zurzeit aber auch besonderes viel los.
- Ja, ich weiß, der Betonverflüssiger. Aber das ist doch kein Grund, alles alleine durchzupowern. Ich bin auch noch da, die Kinder würden dich auch gerne wieder mal zu Gesicht bekommen.
- Ja, aber die Entscheidungen, die ich jetzt treffe, die werden unser ganzes zukünftiges Leben bestimmen. Und dabei geht es diesmal um Millionen, verstehst du das? Ich habe eben manchmal das Gefühl, dass du das nicht begreifst. Dass du nicht an meiner Seite bist, sondern immer nur unangenehme Fragen stellst. Siehst du, auch ich habe das Gefühl, dass ich alleine bin. Und deshalb mache ich auch alles alleine, damit ich in Ruhe nachdenken kann.
- Du bist die ganze Zeit unterwegs und machst mir dann den Vorwurf, ich würde dich allein lassen. Du hast sie nicht mehr alle. Du antwortest nicht auf meine Anrufe, du schleichst dich nachts ins Bett und morgens vor Sonnenaufgang wieder raus, du bist nicht beim Essen, nicht beim Spielen mit den Kindern, abends, nicht beim Gutenachtkuss, du bist nie da und ich bin diejenige, die dich allein lässt?
- Sybille, es geht hier um mehr als nur um uns. Es geht hier um …
- Nein, hier und jetzt geht es um uns, du hast gekündigt, also zurzeit keinen Job mehr, du hast bei der Bank den Hauskredit in Gefahr gebracht, du treibst dich mit Leuten aus der ganzen Welt herum, ohne nachzusehen, ob diese Leute vertrauenswürdig sind oder nicht.
Carsten ist konsterniert. Woher hat Sybille diese Infos über seine Aktivitäten? Und warum sieht sie alles so negativ? Er hat doch die Karten in der Hand. Es ist doch wie ein Pokerspiel, bei dem er schon die 4 Asse in der Hand hält.
Er schaut Sybille lange in die Augen. Sie sieht müde aus, findet er. Irgendwie grau, fahl. Ohne Peps. Sogar ihre Haare erscheinen ihm leicht fettig angeklatscht an ihren Schädel. Er braucht jetzt Farben, ein Leuchten in den Augen, Anerkennung. Aber was er jetzt sieht, sind Zweifel, Mühen, Lästigkeiten.
- Sybille, gib mir einfach ein bisschen Zeit, zwei Wochen. Du weißt doch, wie sehr ich euch liebe, die Kinder, dich, unser Haus. Aber ich brauche jetzt ein bisschen Freiraum und dann wird alles wieder gut. Ich verspreche es dir.
- Ich weiß nicht, ob ich das kann. Mir ist das, was du da treibst