Theaterherz. Stefan Benz

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Название Theaterherz
Автор произведения Stefan Benz
Жанр Контркультура
Серия Herr-Beck-Krimis
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783347069312



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hob die Hände wie ein Dirigent und ließ den Satz unvollendet: „Das heißt also…“

      Wieder verpatzte Darrmann seinen Einsatz, wieder antwortete Ellenbruch, diesmal forscher: „kein Diaphragmalinfarkt!“

      Reinheimer nickte zufrieden, schaute im nächsten Moment aber Darrmann strafend an: „Pathologie?!“

      „Ja, äh, Verschluss der Koronararterien.“

      Das war Reinheimer offenbar nicht genug, er ließ den Kopf ermattet sinken und gab Ellenbruch mit dem linken Handrücken ein Winkzeichen für ihren Einsatz.

      Wie aus der Pistole geschossen, spuckte sie Buchstabenfolgen aus: „RCA RCX RIVP!“

      Reinheimer lächelte sie mit zusammengepressten Lippen an und murmelte dann: „Und hier haben wir RCX.“ Dann zu Beck gewandt, der dem Schauspiel zunehmend verständnislos beigewohnt hatte: „Ramus circumflexus!“ Reinheimer hob die linke Augenbraue, Beck blickte ihn mit gequälter Ungeduld an.

      „Ein Ast Ihrer linken Koronararterie war zu. Wir geben Ihnen einen Gerinnungshemmer. Dazu Betablocker. Das müssen Sie strikt einnehmen. Ihr Herzmuskel ist schon geschädigt.“

      Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Schon vor Jahren war er beim Arzt gewesen, der ihm das Zeug auch schon verschrieben hatte und ihn den ganzen Tag hatte verkabeln wollen. Aber wenn es um seine Gesundheit ging, dann war sich Beck noch stets selbst der beste Apotheker gewesen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, wechselte Reinheimer Haltung und Tonfall, rückte nah an Beck heran und sprach nun von oben herab wie ein Oberstudienrat zum Sextaner, der das ABC nicht drauf hat: „Sie waren ja bei der Erstversorgung nicht recht ansprechbar, aber Ihre Frau Berlepp war so lieb, bei Ihnen daheim nachzuschauen, welche Medikamente Sie nehmen. Sie hat eine Schublade voll mit Schmerztabletten und Vitaminpräparaten, aber auch Blutverdünner und Betablocker gefunden. Keine Packungen, keine Beipackzettel. Und das meiste war längst abgelaufen. Sie wissen, dass das keine Bonbons sind?“

      Auf solche Debatten hatte Beck nun gerade gar keine Lust. „Ich hab das mal verschrieben gekriegt, aber dann hab ich gegoogelt…“

      Reinheimer unterbrach ihn: „Hören Sie bloß nicht auf Dr. Internet. Morbus Wikipedia, das ist die schlimmste Seuche, die wir hier behandeln. Ich fasse zusammen: Sie waren also schon mal beim Kardiologen, aber Sie nehmen nichts regelmäßig.“

      „Naja.“ Beck eierte. „Wie ich mich halt fühle.“

      „Das wird so nichts“, tadelte Reinheimer, trat wieder einen Schritt zurück, machte einen Kunstpause und sprach dann das Urteil mit der Höchststrafe aus: „Und vor allem bewegen Sie sich und lassen Sie die Finger vom Alkohol. Frau Berlepp hat mir erzählt, dass Sie zu viel trinken, keinen Sport treiben und kein Interesse an gesunder Ernährung haben. So werden Sie nicht alt.“

      Das konnte doch nicht wahr sein. Paula, die blöde Petze! Was musste Sie ihn vor diesem Affen im Weißkittel bloßstellen?

      „Ihr Herz pumpt ja ohnehin sehr schwach, deshalb sind Sie auch so oft müde. Und man sieht es auch an Ihren Schwellungen.“ Reinheimer zog Becks Decke von den Beinen, über die sich Netzstrümpfe spannten. „Sie sehen: Lymphödeme. Ihr Körper kriegt das Wasser nicht aus den Füßen. Es langt nicht, Sie wieder auf die Beine zu kriegen, Sie müssen auch laufen. Wir behalten Sie noch bis Ende der Woche hier. Danach Anschlussheilbehandlung. Das können wir ambulant machen. Ich empfehle aber drei Wochen in einer Kurklinik, schön mit Physiotherapie. Das müssen Sie dann noch mit der Kasse abklären. Es ist wichtig, dass Sie Ihre Medikamente wie vorgeschrieben nehmen, aber es ist genauso wichtig, dass Sie ihre Lebensweise umstellen.“

      Reinheimer sah unvermittelt Darrmann an, drückte ihm den linken Zeigefinger auf die Brust, dass er aufschreckte und stotternd loslegte: „Übergewicht reduzieren, Blutfettwerte senken…“

      Reinheimer winkte ab: „Das brauchen wir hier jetzt gerade nicht, oder sieht der Patient übergewichtig aus?“

      Er wendete sich Ellenbruch zu, und ihre Antwort gefiel ihm offenkundig viel besser: „Der Patient sollte leichten Ausdauersport in seinen Alltag einbauen“, sagte sie, drückte dabei den Rücken durch und streckte den rechten Zeigefinger mahnend in die Luft. „Er sollte Blutdruck und Blutzucker regelmäßig überprüfen und lernen, wie man sich gesund und ballaststoffreich ernährt. Gerade ältere alleinstehende Männer sind hier oft sehr unbeholfen und brauchen Anleitung und Ermunterung. Anders als bei gleichaltrigen Frauen ist die Compliance in dieser Gruppe oft unbefriedigend.“

      Jetzt hatte der ältere alleinstehende Mann aber genug davon, dass ihm Fräulein Rotznase erzählte, wie er sich schnäuzen sollte.

      „Gerade bei Männern ist die Unsicherheit nach einem Infarkt groß, ob der Liebesakt noch ausgeführt werden kann und ob das mit gesundheitlichen Gefahren verbunden ist.“ Ellenbruch musste sich räuspern und ruckelte ihren Kittel fest.

      Reinheimer grinste fett: „Sie sehen, die junge Kollegin kennt sich aus. Sobald Sie zwei Etagen ohne zu schnaufen schaffen, können Sie wieder ran.“

      Hatte dieser Arzt völlig den Verstand verloren? Beck war immer schon nach einer Treppe außer Atem. Und mit wem hätte er den Liebesakt denn ausführen sollen? Genug jetzt! Schluss mit Compliance. Der Patient war bereit, seine Ärzte in die Flucht zu schlagen. Er spähte zur Sicherheit noch einmal nach links. Justin hatte Kopfhörer aufgezogen, man hörte leises Bassbrummeln. Özbak tippte auf einem seiner beiden Mobiltelefone herum. Schabacker lag mit offenem Mund auf dem Rücken und rasselte vor sich hin. Es konnte losgehen.

      „Ich persönlich halte es bei medizinischen Fragen ja mit Jean-Baptiste Poquelin“, sagte Beck zu Ellenbruch und machte eine bedeutungsvolle Pause, die ihren Chef offensichtlich irritierte.

      „Wie, bitte?“ Reinheimer räusperte sich. „Den Kollegen kenne ich nicht. Ein Kardiologe? Haben Sie ihn konsultiert?“

      „Hab viel von ihm gelesen. War aber auch schon oft bei ihm. Sie müssten ihn eigentlich auch kennen. Ist ziemlich berühmt. Vor allem natürlich in Frankreich, aber auch hier.“

      „Tut mir leid, ich muss passen. Aber was sagt der Kollege denn?“

      „Poquelin ist kein Arzt, er schreibt über Ärzte. Naja, jetzt nicht mehr. Kennen Sie den eingebildet Kranken?“

      „Der eingebildete Kranke?“

      „Nein, der Kranke ist nicht eingebildet, die Ärzte sind eingebildet, der Kranke bildet sich nur ein, krank zu sein.“

      „Was? Ich verstehe nicht. Sie reden doch von diesem Theaterstück. Ist doch Molière. Oder nicht?“

      „Sie kennen ihn ja doch.“ Beck blinzelte den Doktor milde verständnisvoll an wie einen hoffnungslos doofen Gymnasiasten, der gerade das kleine Einmaleins aufgesagt hatte. „Ja, und der Mann hieß eigentlich Poquelin, er war gelernter Tapezierer, studierter Jurist und das Gegenteil von einem Hypochonder. Er hatte am Ende seines Lebens Lungentuberkulose, Schwellungen, hustete andauernd und machte sich einen Spaß daraus, über Ärzte zu schreiben, die gesunde Leute mit Einlauf, Aderlass und Schröpfkur gegen unreine Säfte quälten.“

      „Ja, ich denke, ich hab das Stück mal gesehen“, erwiderte Reinheimer, ohne zu bemerken, dass Fusselbart und Struwwelkopf hinter ihm angefangen hatten, sich Notizen zu machen. „Da war Robert Koch auch noch nicht geboren, es gab kein Penicillin, und die Medizin war keine Wissenschaft, sondern ein experimenteller Aberglaube für Scharlatane und Quacksalber. Ich kann Sie also beruhigen, wir behandeln nicht nach der Lehre von den Körpersäften, wir wollen keine Schröpfkur an ihnen vornehmen.“

      Netter Versuch, dachte Beck, nahm sich seinen Molière zu Herzen und erwiderte: „Lieber Herr Doktor, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen. Aber wenn ich Schnupfen habe, kriege ich heute Antibiotika, juckt mich der Rücken, verschreibt mir der Hautarzt Cortison, knackt mein Knie, spritzt der Orthopäde Hyaluronsäure, und wenn die Pumpe schlappmacht, empfiehlt der Kardiologe Betablocker. Wo ist da der Unterschied?“

      „Ich muss doch sehr bitten.“ Mehr fiel Reinheimer nicht ein. So eine Widerrede hatte er noch nie gehört.

      „Mein