Название | Verschorfungen |
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Автор произведения | Zhaoyang Chen |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347094284 |
Was lernte ich also in der vorschulischen Erziehung zuhause? Mein Großvater hatte mir das Rechnen mit dem Abakus beigebracht, als ich drei Jahre alt war. Das kann als meine vorschulische Erziehung angesehen werden. Der Abakus erleichterte anschaulich Addition und Subtraktion. Auch Multiplikation und Division von abstrakten Zahlen wurden auf einmal kinderleicht. Wenn mein Großvater rechnete, knatterte der Abakus so schnell und laut, als würde er auf dem Klavier ein Allegro spielen. Er lehrte mich Rechenreime und Multiplikationsverse, an denen ich mich heute noch wiederkäuend erfreue. Es ist ein Merkmal der chinesischen Sprache, dass viele Idiome Zahlen enthalten, die sich addieren oder subtrahieren, multiplizieren oder dividieren und komplett neue Redewendungen entstehen lassen. Es war ein so zauberhaftes Kreuzspiel, mit dem ich buchstäblich spielerisch sowohl das Rechnen als auch Hunderte von Idiomen gelernt habe. Ich kann nicht beurteilen, wie Kinder im Westen oder im Osten heutzutage Mathematik lernen. Für mich war das Auswendiglernen der Merkverse und der Rechenreime ein Segen, dessen Bedeutung ich nicht genug betonen kann. Natürlich war es langweilig, einen Vers oder Reim auswendig zu lernen, dessen Sinn man als Kind überhaupt nicht verstand. Erst später sollte ich begreifen, wie wichtig diese Merkverse waren und was für ein Glück ich doch hatte, dieses langweilige Lernen erlitten zu haben. Es war meinem Großvater wichtig, dass ich rechnen lernte, noch bevor ich lesen und schreiben konnte.
Aus Büchern, die zum konfuzianischen Bildungskanon gehörten, durften wir nichts lernen. Zeitgenössische Bildung bedeutete in meiner Kindheit vor allem die Erweckung von Klassenbewusstsein. So lernten wir die „Mao-Bibel“ auswendig. Mein Großvater wusste, dass klassische Bildung gefährlich war und steckte daher in einer Zwickmühle. Denn Mao hatte verboten, was seit Jahrtausenden gegolten hatte: das Ideal der Gelehrsamkeit. Der Sinn und Zweck der Bildung hatte in China seit Jahrtausenden vor allem ein Ziel: Edel sein durch Gelehrsamkeit:
Mein Großvater suchte aus der Not heraus eine neue Zukunftsperspektive für die Familie und fand sie in der Proletarisierung der Enkelgeneration. Ob er aus Resignation oder aus Überzeugung handelte, als er uns den Zugang zu höherer Bildung absichtlich verweigerte, den Schulbesuch latent oder offen diskreditierte und von einem Studium abriet, kann ich ihn heute nicht mehr fragen. Aber es hinterließ tiefe Spuren in meiner Seele, das seit Jahrtausenden angestrebte Bildungsideal und die gesamte Tradition der Familie auf einen Schlag vernichtet zu sehen. Stattdessen ermahnte er uns stets, bescheiden und umsichtig zu sein und warnte uns vor Überheblichkeit und Unbesonnenheit. Nachgiebigkeit war in seinen Augen das beste Verhalten unter der proletarischen Diktatur. Dümmer sein als die Dummen war die beste Verteidigung in einer kommunistischen Gesellschaft.
Diese Logik ergab sich aus dem Hass des „Großen Vorsitzenden“ Mao gegenüber Gelehrten und Gebildeten. Mao, selbst Bauernsohn und Bildungsverlierer, degradierte die Intellektuellen seit 1962 ununterbrochen bis zu seinem Tod zu Feinden des Volkes. Er hasste vor allem die Geisteswissenschaftler, weil sie denken und ihre Meinungen kundtun konnten. Sprüche von Mao wie „Je gebildeter einer ist, desto konterrevolutionärer ist er!“ widerhallen noch heute in meinen Ohren. Der „Große Führer“ war fest davon überzeugt, dass Intellektuelle automatisch Konterrevolutionäre und Revisionisten seien, weil jede Analyse zu Nachdenklichkeit führte, und jede Nachdenklichkeit den revolutionären Enthusiasmus relativierte. Intellektuelle waren seiner Meinung nach Leute, die eine kritische Haltung zu allen politischen Bewegungen einnahmen und die proletarische Revolution argwöhnisch beurteilten. Was heute lächerlich oder gar schwachsinnig erscheint, war für Mao bitterer Ernst. Unter seiner Herrschaft wurden Abermillionen Bücher verbrannt und die allermeisten Intellektuellen zur Umerziehung und schweren körperlichen Arbeit gezwungen. Ihre Würde und Rechte wurden mit Füßen getreten. Unter diesen Umständen wollte mein Großvater uns keineswegs an Bücher und Wissen heranführen. Dank seiner Buchhandlung hatten wir allerdings zuhause sehr viele Bücher. Nachdem die Rotgardisten mehr als 16 600 Bücher aus seiner Sammlung, darunter viele seltene Ausgaben, Einzelausgaben und Sonderausgaben der Klassik von unschätzbarem Wert konfisziert und teilweise vor seinen Augen verbrannt hatten, wiederholte er zu Hause uns gegenüber ständig seine neu gewonnene Erkenntnis: Wissen und Denken seien gleichbedeutend mit Strafe und Arbeitslager. Er sprach auch von der „Nutzlosigkeit des Studierens“, meinte aber die maoistische Erziehungsideologie: