Название | Ein Lied in der Nacht |
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Автор произведения | Ingrid Zellner |
Жанр | Контркультура |
Серия | Kashmir-Saga |
Издательство | Контркультура |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783347155794 |
Er stand auf und nahm Sameera das Geschirrtuch aus der Hand.
»Das heißt, ich muss mir um dieses Heim und meine Familie ab sofort weniger Sorgen machen. Komm, meri jaan – lass uns schlafen gehen.«
***
Knapp zwei Wochen nach der ersten Begegnung mit dem neuen Wachmann des Dar-as-Salam war Sameera auf dem Markt an der Jamia Masjid in Srinagar unterwegs. Das Freitagsgebet war gerade vorüber, der Platz schwarz von Menschen. Während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, spürte sie mit einem Mal ihren Herzschlag wie ein pulsierendes Hämmern im Mund. Ihre Handflächen wurden schweißfeucht. Und sie bekam keine Luft mehr.
Eine Hand streifte ihren Ellenbogen, eine Passantin mit vollen Einkaufstaschen rempelte sie an und brachte sie um ein Haar zum Stolpern. Für ein paar vollkommen panische Sekunden wurde ihr schwarz vor Augen.
Ich muss hier weg, dachte sie. Ich muss raus aus dieser Menge, bevor ich ersticke.
Sie versuchte, nachzudenken. Sie hatte sich heute Morgen in der Klinik mit Hamid abgesprochen; der betete normalerweise immer in der Hazrat-bal-Moschee und wollte sie abholen, wenn sie ihn anrief. Das Handy. Sie musste es nur aus ihrem Beutel holen und seine Nummer wählen. Das würde sie doch wohl noch fertigbringen.
»Nun geh endlich aus dem Weg, Frau!«
Jemand packte sie grob am Arm und stieß sie beiseite. Sie öffnete den Mund, um zu protestieren, aber sie war außerstande, zu sprechen.
Kein Wort, hakim sahiba, oder Sie sind tot.
Es war wie ein machtvoller Flashback, der sie in die Gasse bei Ali Rafiqs Café zurückschleuderte. Der Mann, dem sie im Weg gestanden hatte, war längst in der Menge verschwunden, aber sie konnte seinen Klammergriff noch immer spüren… nicht nur an einem, sondern an beiden Armen. Dort, wo Guptas Schergen sie festgehalten hatten, als sie ihr die Revolvermündung ins Kreuz gedrückt, sie durch den Demonstrationszug gelotst und in das Auto gezerrt hatten, damals im April.
Sameera setzte sich in Bewegung, dankbar dafür, dass ihre Beine sie noch trugen. Sie ging vorwärts, ohne wirklich zu wissen wohin, immer einen Schritt nach dem anderen. Gesichter und Marktstände verschwammen in einem dichten Nebel, das vielfache Stimmengewirr, die Rufe der Marktschreier und die Lieder aus den Lautsprechern der Radios ergossen sich wie ein unaufhörlicher Klangbrei in ihre Ohren. Der Platz lag im klaren Schein der Mittagssonne, aber vor ihren Augen flackerte und flimmerte das Licht und ging immer wieder aus.
»Hakim sahiba?«
Eine Stimme, die sie kannte, alarmiert und freundlich… und mit einem Ruck kehrte sie zurück in die Wirklichkeit. Direkt vor sich sah sie das vertraute bärtige Gesicht von Hassan Harabi, der sie über seine Brille hinweg musterte. Hinter ihm erkannte sie vage den Umriss eines Verkaufsstandes mit Spielbrettern, die sich in den Fächern stapelten. Offenbar hatte ein untrüglicher, rettender Instinkt sie geradewegs zu ihm geführt. Auf dem Tresen war ein Schachspiel aufgebaut. Sie starrte die Figuren an wie betäubt. Sie waren aus Elfenbein geschnitzt, das hell in der Sonne leuchtete. Schachmatt, dachte sie.
»Y’Allah, was fehlt dir? Sherif, hilf der hakim sahiba, sich da auf den Hocker zu setzen.«
Sein ältester Sohn tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf; als er ihren Arm nahm, um sie hinter den Tresen in das Innere des Verkaufsstandes zu führen, zuckte Sameera heftig zusammen. Hassans Stirnrunzeln vertiefte sich und verschwand auch nicht, als sie Platz genommen hatte.
»Hol eine Wasserflasche aus dem Wagen, beta.«
Er ging vor ihr in die Hocke, und seine warme Hand legte sich über die ihre. Ihre Finger bebten und waren eiskalt.
»Bist du krank? Soll mein Sohn dich in die Klinik fahren, oder möchtest du, dass ich Vikram bitte, herzukommen?«
Sameera schüttelte den Kopf. »N-nein.« Ihre Stimme war so dünn und tonlos, dass sie sie kaum erkannte. »Ich will nicht in die Klinik, und bitte… sag Vikram nichts davon.«
Sie tastete nach dem Beutel, der an einem langen Stoffriemen über ihrer Schulter hing. Da war ihr Geldbeutel, ihr Terminkalender und ganz unten lag das Handy. Wie damals, dachte sie. Das alles hast du auch dabeigehabt, damals im April. Und die Erinnerung wird dich immer wieder heimsuchen und dir beweisen, wie schwach du bist.
Sie blickte auf und sah Hassan an.
»Holst du bitte mein Handy aus der Tasche und rufst Hamid an? Er wollte mich heute mit ins Dar-as-Salam nehmen, und wenn er nichts von mir hört, wird er sich Sorgen machen.«
»Ja, natürlich.« Er wiegte bedenklich den Kopf. »Hakim sahiba… bist du ganz sicher, dass du nicht doch einen Arzt brauchst? Ich mache mir nämlich auch Sorgen um dich. Du bist kreidebleich… als hättest du einen Geist gesehen.«
»Nein… nein, danke, Hassan baba. Es geht schon wieder. Bitte, ruf Hamid für mich an, ja? Bitte.«
Sie schloss die Augen. Sie sperrte den alten Holzschnitzer, den Markt und die vielen Menschen darauf aus und zog sich in die rötliche Dunkelheit hinter ihren Lidern zurück. Ihr Herzschlag verlangsamte sich endlich, aber sie spürte, dass der Kameez unter ihrer Burqa schweißnass war, und dass sie nicht aufhören konnte zu zittern.
Es ging nicht schon wieder. Ganz im Gegenteil.
***
Als Vikram an diesem Abend zurück ins Dar-as-Salam kam, wurde es bereits dunkel; er hatte Najiha Kamaal auf einer ihrer Fahrten nach Dardpura begleitet, die sie regelmäßig machte, um dort die Fortschritte ihrer Projekte zu überprüfen und mit den Frauen zu reden, die in dem »Dorf der Halbwitwen« lebten. Parveena Faridals Enkel besuchte mittlerweile eine weiterführende Schule, brachte gute Noten nach Hause und hielt seinen Großvater in Ehren; das Bild von Altaaf Faridal hing nach mehr als fünfundzwanzig Jahren noch immer an derselben Stelle in Parveenas Wohnzimmer. Noch immer war er nicht heimgekehrt, und noch immer wartete seine Frau beharrlich auf Gewissheit über sein Schicksal.
Vikram wechselte ein paar Worte mit Rizwan Padar, der in seiner Abwesenheit das Heim bewacht hatte. Er wartete, bis Padar sich verabschiedet hatte, in seinen Jeep gestiegen und losgefahren war, dann betrat er das Haus und ging den Gang hinunter in Richtung Küche. Aus dem Aufenthaltsraum waren Stimmen zu hören; dort saßen einige der Kinder noch über den Hausaufgaben. In der Küche fand er Ameera vor, die neben dem Herd langsam hin- und herging, Mohan auf dem Arm und eine Stoffwindel über der Schulter. Azad saß am Küchentisch; auch wenn er mit Vikrams und Sameeras Schützlingen insgesamt gut zurechtkam, so hielt er sich dennoch nach wie vor bevorzugt in der Nähe seiner Schwester auf, als schenkte ihre Gegenwart ihm Sicherheit und zusätzliche Wurzeln.
»Hallo, ihr zwei!« Vikram lächelte. »Wo ist ammi? Hat sie sich hingelegt?«
Die beiden wechselten einen raschen Blick.
»Nein«, erwiderte Ameera. »Nein, sie ist draußen.«
Vikram runzelte die Stirn. »Draußen? Wo draußen?«
»An der Feuerstelle, neben dem Baum.« Azad schaute in Richtung Fenster. »Hamid hat sie heute Nachmittag heimgebracht, bevor er uns aus der Schule abgeholt hat. Ich glaube, sie war nach der Klinik noch auf dem Markt, und da ist irgendwas passiert.«
Vikram spürte, wie ihm die Brust eng wurde. »Hat er gesagt, was es war? Oder hat ammi etwas gesagt?«
»Nein, keiner von beiden… nur eben, dass er sie auf dem Markt abgeholt hat«, meinte Ameera. Mohan streckte eine Hand aus und haschte nach ihrem Zopf; sie hielt seine kleinen Finger behutsam fest. »Vorsicht,