Название | Unziemliches Verhalten |
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Автор произведения | Rebecca Solnit |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783455009545 |
Was ich mehr als alles andere wollte, war eine Verwandlung nicht meines Wesens, sondern meiner Umstände. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wo ich hinwollte, aber ich wusste, dass es möglichst fern von da sein sollte, wo ich herkam. Vielleicht handelte es sich tatsächlich weniger um Begehren als vielmehr um das Gegenteil, Aversion und Flucht, und vielleicht hatte für mich deshalb das Gehen eine so große Bedeutung: Es gab mir das Gefühl, irgendwohin zu gelangen.
Zumindest eine frühe Vorstellung, wie ein lebenswertes Leben aussehen könnte, hatte ich. Als Jugendliche las ich Anaïs Nins Tagebücher, und die plastischen Schilderungen ihres Pariser Lebens in der Zeit zwischen den Weltkriegen vermittelten mir ein Bild von geschützten Räumen, in denen tiefe, forschende Gespräche möglich waren, von Leben, die sich verwoben und gegenseitig befruchteten, von der Wärme, die leidenschaftliche Freundschaften spenden können. Viele Jahre später, als ich mit einigen Freundinnen und Freunden, für die ich gekocht hatte, an meinem Küchentisch – einer Linoleumplatte auf Chrombeinen – saß, waren die linke Historikerin Roxanne Dunbar-Ortiz und ich uns einig, dass wir nach genau diesen Dingen in unserer einsamen Jugend gehungert hatten. (Noch später fand ich zu meiner Bestürzung heraus, dass Nin, die ihren Mann, einen Bankangestellten, in den veröffentlichten Tagebüchern verschwiegen hatte, gar nicht die von der Hand in den Mund lebende Bohemienne gewesen war, als die sie sich darstellte.)
Neben dem Herd befanden sich zwei Spülbecken, ein normales fürs Geschirr und rechts davon ein tieferes zum Wäschewaschen, das ich mit einer alten emaillierten Abtropfplatte abdeckte, die zur Küche gehörte; nach einer Weile begann das tiefe, dunkle, feuchte Becken unter der Abdeckung immer zu muffeln, sodass ich sie ab und zu herunternehmen und das Becken ordentlich scheuern musste. Früher hatten die Frauen darin die Wäsche von Hand gewaschen, und in meinen ersten Jahren in der Wohnung gab es auf dem Flachdach unseres Gebäudes noch eine Art hölzernen Käfig, in dem man die Wäsche aufhängen konnte, die obersten Stufen der Treppe, über die man dort hinaufgelangte, knirschten vom Abrieb der Dachpappe.
Der ursprünglich gelb-grüne Linoleumboden in der Küche hatte sich in etwas Mürbes, Rissiges verwandelt, das man praktisch nicht sauber halten konnte, also strich ich ihn schwarz an, und das immer wieder von neuem, sobald die Farbe sich abgenutzt hatte. Aber an sonnigen Morgen strömte das Licht in die Küche, durch das östliche Erkerfenster auch in das große Zimmer, und im Winter sickerte es den ganzen Tag durch das südliche Erkerfenster herein. Der Erker ging auf die Fulton Street und eine Straßenlampe hinaus, und manchmal saß ich dort und schaute gebannt zu, wie sich die Nebelschwaden, die der Wind vom kalten Meer hereintrieb, unter der Straßenlampe gleich gigantischen, phantasmagorischen Steppenläufern übereinanderwälzten.
Oder ich lag im Bett und hörte in der nächtlichen Stille die fernen Nebelhörner tuten. Wenn ich nachts aufwachte, mitten in der Großstadt, in einer Wohngegend, die zur Innenstadt gezählt wurde, hörte ich oft die Nebelhörner, und sie trugen mich an den Rand der Stadt und darüber hinaus, zum Meer, zum Himmel, zum Nebel. Ich hörte sie so häufig, dass sie mir im Rückblick mit jenem Zustand mitten in der Nacht gekoppelt zu sein scheinen, wenn man nicht ganz wach ist, aber auch nicht schläft, wenn die Gedanken wandern, der Körper aber mit der Jupiter’schen Schwere des Schlafs ans Bett gefesselt ist. Sie riefen mich, als wäre ich ein verirrtes Schiff, aber nicht, um mich nach Hause zu leiten, sondern um mich an das Meer und die Luft dort draußen zu erinnern, mit denen ich auch hier in meinem Kabuff verbunden war.
Ich lebte so lange in dieser kleinen Wohnung, dass sie und ich förmlich miteinander verwuchsen. Am Anfang hatte ich kaum etwas darin stehen, und sie kam mir riesig vor, zum Schluss war sie vollgestopft mit Büchern, unter dem Bett standen etliche Kartons mit Papieren, und ich fühlte mich beengt. In meiner Erinnerung schimmert die Wohnung wie das perlmutterne Gehäuse eines Perlboots, als wäre ich ein Einsiedlerkrebs und hätte mich in eine besonders zauberhafte Zuflucht verkrochen, bis diese, so war nun mal der Gang der Dinge, zu klein für mich geworden war.
Auch zwölf Jahre nach meinem Auszug sehe ich noch jedes Detail vor mir, greife in Gedanken manchmal in das dortige statt mein jetziges Medizinschränkchen, nenne dem Taxifahrer, nachdem ich mich in meinem alten Viertel etwas umgesehen habe, meine Adresse in der Lyon Street, ehe mir einfällt, dass ich dort ja schon seit vielen Jahren nicht mehr wohne, dann die darauffolgende und erst zum Schluss meine jetzige Adresse, die sich mir niemals so in die Psyche einbrennen wird, wie es die alte tat. Als ich dort wohnte, träumte ich oft von der Straße, die an meinem Elternhaus vorbeiführte, sich zur Landstraße wandelte und dann vor einer Pferdekoppel endete, der Straße, von der aus ich durch Stacheldrahtzäune zu so vielen meiner Abenteuer geschlüpft war, und so wie damals von dieser Straße träume ich heute von meiner kleinen Wohnung in der Lyon Street, die ein so prägender Ort für mich war.
Als ich dort noch wohnte, träumte ich oft, ich fände ein weiteres Zimmer darin, eine weitere Tür. In mancher Hinsicht war die Wohnung ich und ich sie, sodass diese Entdeckungen sich auch auf mich selbst bezogen. Ich träumte wieder und wieder von meinem Elternhaus als einem Ort, an dem ich in der Falle saß, meine Wohnung hingegen engte mich nicht ein, sondern eröffnete mir neue Möglichkeiten. In meinen Träumen war sie größer, hatte mehr Zimmer, Kamine und geheime Gemächer, besaß Schönheiten, die im wahren Leben nicht existierten, und einmal öffnete sich die Hintertür auf leuchtende Felder statt auf das tatsächliche trostlose Gerümpel dort.
Unter dem weißen Anstrich der Küchenwände sah man die Struktur einer PVC-Tapete mit Backsteinprägung, und eines Tages riss ich sie herunter. Es war wie Verbände von einer Wunde zu reißen. Sie löste sich in großen Stücken ab, und die nächste Tapetenschicht kam gleich mit. Unter dieser befand sich eine noch ältere, schönere Tapete mit einem Muster aus rankendem Efeu. Als ich das hellbraune Muster sah, spürte ich sehr lebendig die Gegenwart der Menschen, die vor mir hier gewohnt hatten, weitere Schemen, andere Zeiten, vor dem Krieg, als dieses Viertel ein ganz anderer Ort mit anderen Leuten auf einer noch sehr anderen Welt war.
Dann wiederholte ich den ganzen Vorgang im Traum erneut, doch diesmal erschien unter den alten Tapeten eine dichte Collage aus Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten und Stoffstücken, jede Menge Blumenmotive in rosigen Tönen, üppig und eigenartig, ein Garten aus lauter Fetzen. Im Traum wusste ich, dass es sich um die Hinterlassenschaft einer anderen Frau handelte, die vor mir hier gewohnt hatte, einer alten Schwarzen mit gestalterischer Gabe.
Das Gebäude lag nicht weit vom Stadtzentrum, und wenn ich heute daran denke, sehe ich es als die Achse, um die eine Kompassnadel wandert, ein Ort, der sich nach allen vier Himmelsrichtungen öffnet. Nicht ich erschuf mir dort ein Zuhause, sondern mein Zuhause erschuf mich, während ich Menschen beobachtete und mich ihnen manchmal anschloss, im Laufe der Jahre Tausende Meilen zu Fuß durch die Stadt ging, manchmal auf vertrauten Wegen zu den Kinos, Buchhandlungen, Lebensmittelläden oder zur Arbeit, manchmal um Neues zu entdecken die Hügel hinauf und manchmal, um mich von der Enge und dem Trubel zu erholen, zum Ocean Beach ganz im Westen, dem Ort, wo, wie mir jedes Mal aufs Neue bewusst wurde, so viele Geschichten endeten und andere jenseits des weiten Pazifiks begannen.
Das aufgewühlte Meer und der lange Sandstrand boten mir eine andere Art von Zuhause, eine andere Art von Zuflucht, denn hier in dieser Weite, angesichts des Himmels und des Meeres, des fernen Horizonts, der vorbeiziehenden Wildvögel, relativierten sich meine Ängste und Sorgen. Meine Wohnung war meine Zuflucht, mein Brutkasten, mein Schneckenhaus, mein Anker, mein Startblock und ein Geschenk von einem Fremden.
Leben im Kriegszustand
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Eine Freundin schenkte mir einen Schreibtisch, kurz nachdem ich in die Wohnung gezogen war, einen kleinen Damenschreibtisch oder Frisiertisch, an dem ich auch jetzt gerade schreibe. Es ist ein zierliches viktorianisches Möbelstück mit jeweils zwei schmalen Schubladen rechts und links sowie einer breiten Schublade oberhalb der Aussparung für die Beine und mit zahlreichen Verzierungen – gedrechselte Tischbeine mit einer knieartigen Verdickung in der Mitte, rundliche Ornamente, bogenförmige Verzierungen am unteren Rand der Schubladenblocks, Griffe, die an Troddeln oder Tränen erinnern.
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