Jahrestage-Buch. Siegfried Reinecke

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Название Jahrestage-Buch
Автор произведения Siegfried Reinecke
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783347100565



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erhalten, jedes Jahr einen Champion zu küren. Er heißt Schützenkönig, und nicht sie, Schützenkönigin. Ja, noch gibt es ein paar Paradiese männlicher Zurschaustellung. Schauen Sie mal vorbei, und gucken Sie hin! In freier Wildbahn wird das über kurz oder lang erfolglos sein.

      Wahrscheinlich verdankt sich die ganze Idee ohnehin einem lauen Witz, denn der amerikanische Male Watcher's Day geht auf die Profession der Whale Watcher zurück, was nun mal überhaupt nichts mit penetrantem Gestarre auf das Beste am Männlichen zu tun hat, sondern eine ehrbare Tätigkeit darstellt, die einen Beitrag dazu leistet, die Riesenmeeressäuger vor dem Aussterben zu retten. Das ist aber im Falle des Mannes gar nicht nötig. Obwohl: Nach Jahrzehnten der berechtigten Förderung des weiblichen Parts der Bevölkerung glaubt manch Psycho- und Soziologe an mittlerweile schwer reparable Schäden am Mythos Mann. Wenn der Männerbeobachtungstag da für einen Moment des Innehaltens sorgte, wäre das ein doch noch löbliches Unterfangen.

      Eher aber ist zu befürchten, dass diese Legitimation für Lausch- und Sichtangriffe auch nicht besser ist als gut gemeinte Stasi-, BND- und NSA-Aktionen. Also sollte sich jedes Mitglied der Gesellschaft (m/w/d) vor solcherlei hüten – ob er Subjekt oder Objekt des Unternehmens ist. Bleiben Sie wachsam, nie war die Warnung so wertvoll wie heute: Big Brother/Sister/Diverse is watching you!

      10. Januar 1919 – Entstehung des Freistaats Flaschenhals

       Der innere Zirkel

      „Wir geben kund und zu wissen, dass heute Ihr neuer Staat entstanden ist!“ Nein, so viel Pathos war damals nicht, als am Rhein ein neues deutsches Reich in die Weltgeschichte eintrat. Ursächlich dafür war schlicht der ungeschickte Umgang mit einem Zirkel. Denn als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs einzogen, errichteten sie rechtsrheinisch zwei halbkreisförmige Brückenköpfe für die Franzosen und die US-Amerikaner mit einem Radius von jeweils dreißig Kilometern. Diese Halbkreise überlappten sich aber nur teilweise, so dass in der Mitte ein flaschenhalsähnliches, unbesetztes Gebiet übrig blieb. Dieses neutrale Areal verteidigten die Bürger energisch, und unter der Führung ihres patriotisch gesinnten Bürgermeisters erreichten sie schließlich, dass die deutsche Waffenstillstandskommission und die Alliierten ihrem Ansinnen zustimmten. Gute vier Jahre währte das Bestehen dieser winzigen selbständigen politischen Einheit, was im Vergleich zu anderen deutschen politischen Großprojekten zuvor und danach eine ganz anständige Lebenszeit ist.

      Nein, nein, das war durchaus ein richtiges politisches Gebilde mit eigenem Territorium, Administration, sogar eigener Währung; zwar ein Zwergstaat, aber mitnichten ein Mikrostaat oder gar ein Scheinstaat oder Fantasiestaat wie, mit Verlaub, etwa die Freistadt Christiania oder die Republik Freies Wendland. Definitionsgemäß wäre der Freistaat eher mit dem Heiligen Stuhl zu vergleichen, was der eine als Auszeichnung, der andere als eine zweifelhafte solche ansehen wird. Erst recht handelt es sich beim dort handelnden Personal nicht um Menschen, „die als exzentrisch gelten, oder damit eigentlich ganz andere, meist wirtschaftliche oder lokalpolitische Interessen verfolgen oder aus politischen Gründen das politische System ihres Landes ablehnen“, so Wikipedia.

      Ganz im Gegenteil waren es verantwortungsvolle Bürger, die das Heft in die Hand nahmen, allen voran der als klein und dicklich beschriebene Bürgermeister Edmund Pnischeck, der wünschte, dass „zwischen Bonn und Mainz wenigstens noch ein Streifen wirklichen deutschen Rheines verbleiben soll, frei von jedem welschen Einfluss", so der plötzlich über seine engen Grenzen hinaus denkende Lokalpolitiker. Dieses nationale Erbe werden hoffentlich niemals Reichs- bzw. in diesem Fall Freistaatsflaschenhalsbürger wiederaufleben lassen.

      Der Preis der gewollten splendid isolation von den Franzmännern und der Unabhängigkeit war, dass das Gebiet zwischen Koblenz und Mainz, rund zehn Kilometer breit und bis zu 30 Kilometer lang beiderseits der Kleinstadt Lorch, ökonomisch vollständig vom Rest Deutschlands isoliert war. Glücklicherweise war für Wein und Schnaps reichlich gesorgt, weil die meisten Untertanen über Weinberge und eventuell auch noch über eine Brennerei verfügten. Für alles andere waren Ideen gefragt – und kriminelle Energie.

      Äußerst seriöse Bürger entwickelten sich zu skrupellosen 'Organisatoren', Schmugglern und Schiebern. Bereitwillige Bauern zum Beispiel, die im Schutze der Dunkelheit Vieh aus dem besetzen Gebiet in den Flaschenhals lieferten, durften großzügige Entlohnung in Form von lokalen alkoholischen Erzeugnissen erwarten. Andere Lebensmittel für die 17000 Einwohner mussten zum Teil über viele Kilometer auf holprigen Wegen mit klapprigen Fuhrwerken herangeschafft werden, immer unbemerkt von den Franzosen. Ganz stolz bilanziert Edmund Pnischeck in seinen Erinnerungen:

      „Wenn in Deutschland manche Stadt vor Hungerstreiks bewahrt geblieben ist, so haben sie es den Heinzelmännchen zu verdanken, die damals in Lorch tätig waren.“

       Sammler zahlen heute mehr als das Doppelte des Nennwerts (evtl. eine gelinde Untertreibung)

      Der französischen Besatzungskommandantur war das Treiben im und um den Freistaat nie geheuer und sie hätte ihm lieber früher als später Einhalt geboten. Als Deutschland mit Reparationsforderungen in Rückstand geriet, besetzen Frankreich und Belgien im Januar 1923 das Ruhrgebiet und einen Monat später auch gleich das Gebiet der renitenten Unabhängigen am Rhein, und das entgegen den Regelungen des Versailler Vertrags. Damit war das Ende des Freistaats besiegelt, er ging im November 1924, als die Franzosen abzogen, in der Weimarer Republik auf. Seine Bürger bedauerten das sehr, immerhin: Sie waren ein Volk, ein ganz besonderes.

      In Deutsch-Südwest, also eng geografisch gesehen, ist die Existenz des Freistaats heute noch recht präsent, und sei es nur, um den Tourismus anzukurbeln. Auch Winzer hängen sich an die Geschichte dran und vermarkten ihre Produkte mit entsprechenden Bezeichnungen. Es ist ja auch eine wunderschöne Gegend am Rhein, ganz in der Nähe von St. Goar und St. Goarshausen, Rüdesheim und Bingen. Wie oft ist man früher wohl die Rheinstrecke der Bahn hinunter gefahren, ohne dass einem diese politische Sehenswürdigkeit bewusst war?

      Ein Denkmal haben inzwischen zwei Autoren der selbständigen politischen Einheit Flaschenhals in Form einer Bildergeschichte errichtet:

      Wiersch, Marco, Kissel, Bernd: Freistaat Flaschenhals (Comic). Hamburg: Carlsen 2019

       15. Januar – Nationaler Hut-Tag

       Mann ging nicht mehr ohne

      Welch schöne Reminiszenz an längst vergangene Tage, an denen eine Kopfbedeckung noch zu etwas nutze war und nicht allein eine reine modische Notwendigkeit darstellte, das zeigt ein recht aktuelles Buchcover. Schon lange zuvor hatte Hans Castorp in Thomas Manns „Der Zauberberg“ entsprechend empfohlen, „dass man einen Hut aufhaben soll, damit man ihn abnehmen kann, bei Gelegenheiten, wo es sich schickt." Und schicken tut es sich, wenn man einer Dame begegnet. Aber nicht nur dann: Auch seriöse Herren bewillkommnen sich untereinander gern formvollendet.

       „Der Abschaum der Menschheit, wenn ich nicht irre?“ – „Der blutige Mörder der Arbeiterklasse, wie ich annehme?“ (Umschlagbild des Romans unter Verwendung des Textes einer sehr berühmten Karikatur)*

      Es ist ein wahrer Jammer, dass die Etikette heute eine andere ist als dazumal vor unserer kleinen westdeutschen Kulturrevolution. „Übrigens: Man geht nicht mehr ohne Hut“, dichtete die Reklame Mitte der Fünfziger Jahre – and so they did. Hut hat man, oder Hut hat man nicht. In aller Regel hat man einen.

      Gönnt man sich heute noch einmal die Gelegenheit, in alten Fernseh- oder Wochenschauaufnahmen Straßenszenen aus dieser Epoche zu sehen, so wird man überrascht sein, wie uniform sich die männliche Bevölkerung obenrum ausnahm. Eine, wenn man so will, Armee von Hut- oder wenigstens Mützenträgern bevölkert die Gehwege und Grünanlagen.

      Wenige Jahre zuvor hatte Mann sich auch durchgängig bedeckt gegeben, aber immerhin hatte er jetzt den drückenden Stahlhelm durch einen ungleich leichteren Filzhut ersetzen können – hätte er zumindest. Man verließ die Wohnung einfach