Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten. Ernst-Otto Constantin

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Название Fritz Gezeiten des Lebens-Ebbe,Flut und Sturmfluten
Автор произведения Ernst-Otto Constantin
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783347116788



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9. Infanteriedivision, die einstmals aus den Gardejägern hervorgegangen war. Sie galten als Elitedivision. Er wurde oft verwundet und erholte sich dann immer in Wargienen.

      Wenn er kam, wich Fritz seinem Onkel nicht von der Seite. Wann immer es möglich war, erklomm er seinen Schoß. Geradezu zärtlich streichelte der kleine Kerl den Onkel. Oft gingen sie spazieren. Fritz hielt ihn immer ganz fest an der Hand. Er erzählte viele spannende Geschichten. Ein warmes Gefühl der Zuneigung und Liebe durchdrang Fritz jedes Mal. Er liebte seinen Onkel über alles. Aber immer wieder hieß es Abschied nehmen, denn Onkel Dieter musste an die Front zurück, nach Russland, zu seinen Soldaten. Er wollte sie nicht im Stich lassen, weil er sich für sie verantwortlich fühlte. Oft weinte Fritz abends in seinem Bett, wenn er wieder weg war.

      Was Fritz damals nicht wusste: Onkel Dieter hatte heftige Debatten mit seinem Bruder geführt. Er hielt die SA für alles andere als eine erstrebenswerte Organisation. 1943 kam auch Onkel Dieter nicht mehr zurück. Tiefe Trauer mit vielen Tränen überkam ihn immer wieder. Onkel Dieter war tot, erschossen.

      Graf von der Schulenburg aus der Widerstandsgruppe um den Hitlerattentäter Graf Staufenberg schrieb ein kleines Reclam-Heftchen unter dem Pseudonym ‘A. Friedrichs’. Sein Titel: „Ein Leutnant der Infanterie – Dietrich Constantin.“ Er beschreibt darin, was ihm die Freundschaft mit dem Kameraden, der Fritzens Onkel Dieter war, bedeutete. Großmutter erzählte später, dass Onkel Dieter sich mit Sicherheit der Widerstandgruppe angeschlossen hätte, wenn er nicht 1943 in Russland gefallen wäre. Aber wo genau er gefallen war, wusste niemand. Erst 1993 klärte sich das Rätsel auf. Ein ehemaliger Dokumentarfilmer aus der DDR beschäftigte sich mit der Frage, wo die militärischen Widerständler herkamen. Er fand heraus, es war zumeist die 9. Infanteriedivision. Es lebte noch deren früherer Ordonanzoffizier, krank und fast blind, in München. Er löste das Rätsel um die Frage, wo und wann der geliebte Onkel ums Leben gekommen war.

      Der Divisionskommandeur hatte seine Offiziere zu einer Besprechung befohlen. Die fand in einem kleinen Dorf namens Kamenka, etwa 150 km südlich von Moskau, in einem Bauernhaus statt.

      Die Ordonanz stand vor dem Bauernhaus Wache. Der Offizier hörte Panzer anrücken und schrie in das Gebäude: „Raus, raus!“. Da rumste es auch schon. Eine Panzergranate vernichtete mit einem Schlag das gesamte Offizierskorps. Onkel Dieter habe sie den Schädel zertrümmert. So kam auch sein geliebter Onkel nicht wieder. Er ist im Krieg geblieben. Fritz trug schwer an seiner tiefen Trauer. Der Onkel hat einen Ehrenplatz in seinem Herzen. Ein Bild von ihm steht noch heute in seinem Arbeitszimmer.

      Alle Offiziere und der Kommandeur wurden in einem Kameradengrab bestattet. Viel später nahm Fritz sich vor, nach Kamenka zu fahren, um das Grab seines Onkels zu suchen. Er wollte ihn nach Hause holen, nach Potsdam, wo dieser aufgewachsen war. Das ginge deshalb nicht, weil man in diesen Gräbern die Gebeine nicht zuordnen könne. Das jedenfalls war die Auskunft der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Sie wusste inzwischen davon.

       Die verhasste Schule

      1943 wurde Fritz 6 Jahre alt und es brach die nächste Katastrophe für ihn aus: die Schule. Er hasste sie, wie gesagt. Sie hielt ihn von den Pferden, von Schmittchen und der Freiheit ab. Außerdem war sie anstrengend. Besonders die ätzenden Schularbeiten und das Auswendiglernen waren ihm eine Qual. Und dann diese Lehrerin. Fritz war immer unruhig und unkonzentriert, weil er in Gedanken gerade mal wieder mit Lisa unterwegs war, oder mit Schmittchen oder mit Bello. Immer wieder musste Fritz nach vorne zum Lehrerpult kommen. Dann hieß es: Hände ausstrecken! Die Lehrerin schlug mit einer Gerte in die Handflächen. Das tat richtig weh. Zu Hause gab es kein Bedauern. „Benimm Dich!“ Das war alles, was er von seiner Mutter hörte. Diese Lehrerin war für ihn ein Abgrund des Bösen, und eben die Schule auch.

      Oft besuchte seine Großmutter Constantin, die Mutter seines Vaters und Onkel Dieters, Wargienen. Sie lebte in Potsdam und war unglaublich besorgt um ihren Enkel. Hinter allem, was er tat, sah sie schreckliche Gefahren und hatte eine nicht enden wollende Liste an Ermahnungen parat. Die nervten ihn. Großmutter mochte seinen Großvater – also Mutters Vater – nicht. Das fand er nun wieder ganz gut an seiner Großmutter. Ihr Mann lebte schon lange nicht mehr. Er war Gründer des Preußischen und später des Deutschen Landkreistages und ist dessen Präsident gewesen. 1928 starb er an Kehlkopfkrebs. Sein Amtssitz befand sich in Berlin im Herrenhaus in der Leipziger Straße. Heute ist das der Sitz des Bundesrates. Jura studierte er in Tübingen. Dort promovierte er, wurde Assessor in Hameln, später in Danzig und dann Landrat in Labiau/Ostpreußen.

      Es gab auf dem Hof eine Schwengelpumpe und ein Bassin. Im Sommer wurde das Becken jeden Abend etwa 70 cm hoch befüllt. Eine Holzrinne leitete das frische, kühle Wasser in das Becken. Es machte einfach Spaß, zu pumpen und das klare Wasser die Rinne entlanglaufen zu sehen. Ein Holzstöpsel am Beckenboden erlaubte, das Wasser jeden Tag wieder abzulassen. Dieses Becken diente zur Kühlung der Milchkannen, damit die Milch über Nacht nicht sauer wurde.

      Fritz weiß noch, wie schön es war, wenn das Wasser aus dem Loch floss. Er zog eines Tages diesen Holzstopfen heraus. Das ausfließende Wasser eignete sich besonders gut, um Matsch zu erzeugen. Ein tolles Gefühl an seinen nackten Füßen. Er konnte kreischen vor Vergnügen. Am nächsten Tag war die Milch von 40 Kühen sauer. Fritz suchte das Weite auf dem Hof und lief natürlich zu seinen Pferden.

      Es gab ein Riesentheater. „Wer hat den Stöpsel nicht richtig verschlossen?“ Fritz schwieg wie ein Grab. Die Ursache wurde letztlich nicht gefunden, auch der Übeltäter nicht.

      Der Schulweg war etwa einen Kilometer weit. Es war ein Sandweg, der zu der Kleinbahnstation nach Spitzings führte, vorbei an satten Weiden und Wiesen und einem Transformatorenhäuschen. Es befand sich auf der Weide, war ein viereckiges Ziegeltürmchen mit einem Satteldach. In Spitzings befand sich das Schulhaus. Es hatte nur ein Klassenzimmer. Schreiben und Rechnen erfolgte auf einer Schiefertafel mit Griffeln, es knirschte und kratzte, wenn man auf der Tafel schrieb. Alles war Fritz lästig, bis auf den Heimweg. Der war so etwas wie eine Erlösung für ihn.

      Fritz hat noch in sehr guter Erinnerung, dass ihm abends im Bett oft die Beine heftig schmerzten. Dann kam Mutter mit einen Schafsfell, in das die Beine gewickelt wurden. Jeden Abend kam sie an sein Bett, faltete mit ihm die Hände und betete auch für den Papa, der nun im Himmel sei. Fritz vergaß nie, auch für Onkel Dieter zu beten.

       Das Heimweh

      1989: Fritz war schon 24 Jahre lang verheiratet und hatte einen 20-jährigen Sohn. Fritz wollte unbedingt noch einmal nach Hause, nach Wargienen. Das gelang. Fritz war hochrangiger Sekretär der Gewerkschaft öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV). Über deren Kontakte zur russischen Fischereigewerkschaft erhielt er eine Einladung nach Ostpreußen. Über Moskau fuhr der Zug durch die endlosen Weiten Weißrusslands nach Königsberg. Seine Frau und sein Sohn begleiteten ihn, dazu noch ein Dolmetscher aus Moskau, der sich als Germanist erwies und sich in der deutschen Literatur richtig gut auskannte. Vermutlich war ihm der wohl auch als Aufpasser an die Seite gestellt worden. Stunden stand Fritz am Fenster des Zuges, aufgeregt und aufgewühlt. Die ganze Vergangenheit, die seine Kindheit war, zog an ihm vorbei.

      Immer wieder füllten sich seine Augen mit Tränen. Fritz hatte seine Frau und seinen Sohn darauf vorbereitet, dass man sicherlich Vorbehalte gegen sie haben würde. Der Zug fuhr in Königsberg ein. Den Bahnhof erkannte er sofort wieder. Am Bahnsteig vor der Tür des Wagons stand ein Komitee von 8 Russen.

      Sie breiteten ihre Arme aus. „Willkommen in deiner Heimat“. Der Boden unter seinen Füßen schien zu wanken. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Fritz war inzwischen 52 Jahre alt. Ein hartgesottener Kerl. Ein Tornado der Gefühle tobte in ihm. Man hatte ein richtig schönes Hotel für sie ausgesucht. Bei einem guten Essen gab es viel zu viel Wodka. Ein Reiseplan nach Fritz‘ Wünschen wurde aufgestellt. Zuerst wollte er gerne nach Arnau. Dort stand einst mitten in einem kleinen Dorf die Kirche, zu der Wargienen gehörte. Dann nach Wargienen und nach Trömpau, zum Schluss nach Rauschen und Kranz, den beiden Ostseebädern, die ebenfalls zum Erinnerungsschatz von Fritz gehörten.

      Los ging es in einem relativ neuen Ford Transit nach Arnau. Da stand sie nun, die Kirche. Der Turm fehlte, in der Frontseite war ein großes Holztor. Es war verschlossen. Die Kirche hatte zuerst