Geliebt. Dieter Lenzen

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Название Geliebt
Автор произведения Dieter Lenzen
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455813555



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      Dieter Lenzen

      Geliebt

      Erzählungen

      Hoffmann und Campe

      Lift nahe der Bar

      Etwa auf der Mitte der nördlichen Kathete des Dreiecks, das King’s Cocktailbar im Zentrum der Hotellobby bildet, sitzt eine blonde Engländerin, die Salat isst. Ein Barkeeper putzt Weingläser und sagt etwas über Manchester United. Die blonde Engländerin, die bis zu dem Zeitpunkt, als er ihr den Salat reicht, den Blick nicht von der Tastatur ihres Mobiltelefons wandte, schaut ihn an, um dem Sinn seiner Worte nachzugehen. Sie lächelt ihn an und zeigt, dass eins oben rechts regulierungsbedürftig gewesen wäre. Sie verlangt ein zweites Glas Bitter Lemon. Der Keeper lässt eine Flasche mit deutschem Etikett aus dem Kühlschrank unter dem Bierzapfhahn aufsteigen, fängt sie mit der Linken in der Höhe seiner Augen, nachdem die Rechte sie in Gürtelhöhe emporgetrieben hatte, öffnet den Flaschenhals mit einer ausladenden Bewegung, füllt ein Glas von der gleichen Art, das bereits neben ihrem Salatteller steht, lässt die Flasche zurückgleiten und präsentiert das Getränk an der anderen Seite ihres Salattellers auf einer kleinen Serviette, die der Schriftzug der Bar ziert.

      Er wendet sich der Hypotenuse zu, deren Mitte von zwei Bierhähnen in Messing markiert wird. Er zapft zwei Pils für die beiden jungen Österreicher, die über ihre Firma reden.

      Der Merlot schmeckt nach Korken, findet die Engländerin. Der Barkeeper sagt etwas zu dem Deutschen am spitzen Winkel der Bar. Etwas von einem Urlaub, den er in den nächsten Tagen beginnt, etwas von fehlendem Geld, das ihn seiner Familie in Kalabrien entfremdet. »Da kann man nichts machen.« Sein münzgroßer Kinnbart reibt bei jedem Wort unsichtbare CO2-Wolken. Die Cohibas beziehe er über Freunde direkt aus Kuba, erzählt der Deutsche. Deswegen bezahle er nur neun Euro. Der linke Messingbierhahn leckt. Der Barkeeper sagt etwas von policy, die blonde Engländerin lächelt. Ihr Salatteller ist leer. Sie hat sich eine Zigarette angezündet und bläst den Rauch aus ihrem rechten Mundwinkel. Dabei gibt die heruntergezogene Unterlippe den Blick auf vier und fünf unten rechts frei. In zehn Jahren wird sie Probleme mit den Zahnhälsen haben. Ihre Augenlider sind weiß geschminkt.

      Ein rotköpfiger Amerikaner setzt sich neben sie und klagt stimmlos über den Verlust seiner Stimme. Er war in den Bergen und hat sich erkältet. Während er mit ihr redet, wendet sich sein Kopf in kurzen Abständen und beschreibt immer ein 90-Grad-Segment des imaginären Kreises, der seinen ganzen Kopf umgibt. Sein Gesicht wendet sich in dichter Folge abwechselnd seinem Whiskeyglas und den langen bleistiftförmigen Auswüchsen des linken Ohrschmucks seiner englischen Nachbarin zu. Sie trägt ein violettes T-Shirt mit einem V-Ausschnitt. Darüber noch ein schwarzes T-Shirt mit einem V-Ausschnitt.

      Der Barkeeper reinigt ein Weißbierglas. Er nimmt seine quadratische Brille ab, um seine Augen zu reiben. Als er damit fertig ist, zeigt er im Profil eine Stirn, die geradlinig in der Spitze seiner Nase mündet und mit einer gedachten Linie zum unteren Rand seiner Augen einen 45-Grad-Winkel beschreibt. Die beiden Österreicher reden über die Arbeitsmoral eines Mitarbeiters. Sie sagen »Interesselosigkeit«.

      Die blonde Engländerin ist blass. Die Cohiba ist trocken.

      Ein dicker und ein dünner 35-Jähriger treten aus dem benachbarten Zimmer an die Bar. Sie tragen Laptops unter ihren Armen, mit denen sie nebenan im Internet gesurft haben. Sie möchten, dass ihre Rechnung auf Zimmer 207 lautet. Der rotköpfige Amerikaner trägt ein Polohemd mit einer Aufschrift, die irgendwie auf Amerika referiert. Die blonde Engländerin zieht an einer zweiten Zigarette und zeigt an der Hand, die diese hält, vier silberne Ringe unterschiedlicher Größe. Die Ringe verdecken fast die schlanke Hand, die abwechselnd die Zigarette zum Munde führt und die Tastatur des Mobiltelefons bedient, um eine Buchstabennachricht zu komponieren. Ihre Haare sind in der Länge von zwei Händen abgeschnitten.

      Die Österreicher kennen einen Klaus, der Karriere gemacht hat.

      Die Zigarre ist erloschen.

      Der Barkeeper druckt eine Rechnung aus, die er der Engländerin übergibt, und sagt jetzt etwas über Juventus Turin. Sie zahlt bar und lässt beim Blick in ihre Geldbörse ein weiteres Mal das obere Weiße ihres Augapfels sehen. Wie eine Somnambule. Er darf 80 Cent behalten.

      Die Engländerin erhebt sich von ihrem Barhocker, nimmt Telefon und einen Roman in die Hand, den sie die ganze Zeit auf dem Schoß gelagert hat, und wendet sich dem Lift zu. Sie trägt eine schwarze Stoffhose und braune Schuhe mit mittelhohen Absätzen, die sich bei jedem Schritt auf dem Travertinboden entschlossen äußern. Als ihr vor dem Lift der Roman entgleitet, beugt sie den Oberkörper, um ihn vom Boden aufzulesen.

      Die Österreicher haben eine Gesprächspause eingelegt. Der Barkeeper hat die ausgebrannte Zigarre des sicher einen Meter neunzig großen Deutschen entsorgt, der ihm seine Zimmernummer zugerufen hatte, bevor er mit seinem Körper die gebeugte schwarze Stoffhose für die Blicke derer verdeckt, die, für einen Augenblick schweigend, zurückbleiben. Die Engländerin und der große Deutsche betreten gemeinsam den Lift. Sie schauen einander für einen Augenblick an, bevor die Tür sich schließt.

      Der Barkeeper entdeckt, als er ein Weinglas putzt, eine schadhafte Stelle am Trinkrand und wirft es in den Mülleimer. Der rotköpfige Amerikaner hustet. Die beiden Österreicher reden irgendetwas von einem Fernstudium. Ein grauhaariger Mann mit einer karierten Hose bestellt ein Bier. An der Rezeption klingelt ein Telefon. Eine Weißbierflasche zischt beim Öffnen. Der Barkeeper pfeift durch eine Zahnlücke zwischen eins unten links und eins unten rechts. Als er aufhört, seufzt er kurz. Irgendwo hört man die Stimme eines Nachrichtensprechers. Es ist Donnerstag. Dreiundzwanzig Uhr einunddreißig.

      Batterien im Kamin

      Sie hatte mehrere Wochen daran gearbeitet. Alles vorbereitet für diesen Tag. Es war Winter. Ihre Vorbereitungen waren unbemerkt geblieben. Trotzdem hatte sie die Demontage der Wegweiser für den letzten Tag vor seinem Besuch aufbewahrt. Falls es doch jemand bemerken sollte, obwohl das, mitten im Februar, hier in den Bergen eher unwahrscheinlich war. Sie war schon manchen Winter hier oben gewesen und hatte selbst in dem alten Schnee, der schon wochenlang lag, keine Fußspuren gefunden. Deswegen konnte sie damit rechnen, dass selbst zwanzig, dreißig Kilometer entfernt aufgestellte Schilder niemand vermissen würde, weil niemand hierherkam an den See, der auch im Winter nicht zufror, weil eine warme Quelle ihn speiste. Deswegen hatte sie auch das Ruderboot kurzerhand versenkt, sodass ein Fluchtweg über das Wasser ausgeschlossen war. Mit ihrem Jeep hatte sie in den Schnee auf etlichen langen Holzwegen immer neue Spuren gefahren, damit es so aussah, als ob täglich Fahrzeuge zur Berghütte hinauffahren würden, wohin sie Frank eingeladen hatte. »Für die Feiertage, bis zum Neujahr vielleicht?«

      Aufwendig war die Anfertigung neuer Schilder gewesen, die auf eine Bahnstation verwiesen, welche aber nicht existierte, und auf zwei Bergdörfer. Damit er bei einer Flucht keinen Unterschlupf in einer der beiden kleinen Hütten im Umkreis von fünf Kilometern finden konnte, hatte sie diese angezündet und so weit niedergebrannt, dass sie unbewohnbar waren. Sie hatte dafür gesorgt, dass alle Langlaufskier und sogar der kleine Schlitten aus ihrem Haus verschwanden, damit er nicht ein Hilfsmittel besäße, falls er dachte, er könnte zu Fuß flüchten.

      Das war alles sehr einfach gewesen, wenngleich es Kraft kostete, die sie eigentlich nicht besaß, denn sie war angestrengt von den zurückliegenden Monaten, mehr psychisch allerdings als physisch. Andererseits hatte diese Anstrengung ihren Willen gestärkt, sodass die zahlreichen Vorbereitungen ihr letztlich leichtfielen. Schwierig, so dachte Alice, könnte es mit seinem Geländewagen werden. Ihren eigenen hatte sie schon fahrunfähig gemacht. Eine Tüte Zucker im Tank und dann versucht zu zünden. Das hatte sie in ihrer Kindheit von den Jungen gehört, und es funktionierte. Der Motor gab schon nach kurzer Zeit auf und war nicht mehr zu starten.

      Für seinen Wagen hatte sie einen Kanister Benzin bereitgestellt. Sie wollte ihn einfach in Brand setzen.

      Weihnachten kam, und am Nachmittag gegen 15 Uhr hörte sie das Geräusch vom Motor seines Autos. Er fuhr vor, holte seine Reisetasche aus dem Heck und betrat den unteren Raum der Hütte. Frank lachte über das ganze Gesicht, als er sie sah, und