Aufgang. Jahrbuch für Denken, Dichten, Kunst. Heinrich Beck, Barbara Bräutigam, Christian Dries, Silja Graupe, Anna Grear, Klaus Haack, Rüdiger Haas, Micha

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zu genießen ist. Die entscheidende Frage ist nämlich: Wo ist der ALDI-Unternehmens-Geist im Spektrum des Unpersönlichen anzusiedeln?

      Wir erinnern uns, dass bei ALDI darauf geachtet werde, dass Mitarbeiter Persönlichkeitskriterien wie Verschwiegenheit, Sparsamkeit, Askese, Detailliebe, Konsequenz oder Selbstdisziplin erfüllen sollten, da für einen wirtschaftlichen Wachstumserfolg psychosoziale Werte von zentraler Bedeutung seien. Wir prüfen diese Vorgaben anhand der Recherchen von Martin Kuhna und der kritischen Ausführungen des ALDI-Managers Eberhard Fedtke. Unter dem Thema „Charakterfragen“ beschreibt Kuhna die herausragenden Wesenszüge der beiden Brüder – Sparsamkeit, Uneitelkeit, Bedürfnislosigkeit, Scheue und Verschwiegenheit – in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit.

      Auch sei das Harzburger Modell der Kompetenz- und Aufgabendelegation in Wirklichkeit ein frei über allem schwebendes, zentrales Machtorgan, in dem der Verwaltungsrat von oben nach unten regiere und der Geschäftsführer nur der verlängerte Arm des Verwaltungsrates sei. Weil Erfolg recht gebe, sei es zwar legitim, Milliarden mit einem autoritären Unternehmenskonzept anzuhäufen. Peinlich sei aber der Selbstbetrug durch Vorgabe des Harzburger Modells. Gibt sich das Motiv der Kompetenz- und Aufgabendelegation nach unten nur den Anschein der Machtabgabe, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.

      Nicht bestritten wird das Merkmal der Sparsamkeit, wenngleich die Grenze zum Geiz betont wird. Die Albrechts trugen dazu bei, dass sich auch ärmere Leute genügend Lebensmittel leisten können. Durch ihre Strategie lernten die Deutschen, Lebensmittel müssen nicht teuer sein. Die Kehrseite der Medaille sei aber im Ursprung der Lebensmittel-Produktionskette angesiedelt. Bei Niedrigmilchpreisen gerieten Preise allgemein unter Druck und für die Milchbauern werde es immer schwerer, kostendeckend zu arbeiten.

      Obwohl ALDI-Mitarbeiter zu jeder Zeit vorbildlich bezahlt wurden, sind die Personalkosten dort niedriger als anderswo, insbesondere bei ALDI Süd. In den 90er-Jahren und nach der Jahrtausendwende seien die Filialen häufig unterbesetzt gewesen, einzelne Mitarbeiter mussten ohne Lohnausgleich schneller oder länger arbeiten, zudem sei Druck auf Kranke ausgeübt worden, zur Arbeit zu erscheinen. Länger dienende Angestellte höherer Gehaltsklassen seien durch neue ersetzt worden, Vollzeitkräfte durch Teilzeitkräfte und Angestellte durch Azubis und Praktikanten, immer unter der Maßgabe, der Ersatz sei billiger als der Ersetzte. Der Kampf um die Stellen hinter dem Komma lasse ALDI zu einem rücksichtslosen Arbeitgeber werden. Geht das Motiv der Sparsamkeit in Form von Dumpingpreisen zulasten der Umwelt, der Tiere und Landwirte, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.

      Auch beim Wertkriterium der Bedürfnislosigkeit stellten sich Zweifel ein. So sollen die Brüder in späterem Alter golfsüchtig geworden sein und sich deshalb häufig im exklusiven Essener Haus Oefte getroffen haben. Karl baute in Donaueschingen sogar ein Hotel mit Golfplatz und nebenan sein – zwar unauffälliges – Haus. Theo Albrecht sei ein Milliardär von trauriger Gestalt gewesen, der sich bis auf die täglichen Kaffeeproben selten über etwas freuen konnte. Dabei sei die Freudlosigkeit keineswegs die Folge seines katholischen Arbeitsethos’ gewesen, sondern eher einer protestantisch-puritanischen Weltsicht entsprungen, in der Fleiß und Genügsamkeit nicht der Befriedigung weltlicher Begierden dienen sollten. Die Albrechts hatten keine Yacht, keinen Privatjet oder exklusive Ferienhäuser. Ihre Genügsamkeit prägte das Unternehmen. Aber an ihrem Vorbild an Schlichtheit hatten sich auch die Mitarbeiter zu orientieren. Deren Lebensstil sollte ebenfalls ohne Extravaganzen und soziale Auffälligkeiten bleiben. Eigentlich ein schönes Motiv, aber für Kuhna grenzwertig, weil zwei Männer ihren Lebensstil zum Maßstab für ein ganzes Unternehmen machten. Wird das Motiv der individuellen Bedürfnislosigkeit zur verpflichtenden Vorschrift für eine ganze Gemeinschaft, ist es kein eigentlich unpersönliches, sondern ein auf sich selbst gerichtetes.

      Nicht zuletzt wird auch das Phänomen des Menschlichen angesprochen. Den Brüdern wird bescheinigt, dass sie außerhalb der Familie nur wenig soziale Kontakte pflegten und kaum Freunde hatten. Für Karl gab es außer der Nähe zu seiner Frau nur menschliche Distanz. Bei aller Höflichkeit und Freundlichkeit waren beide Brüder „distanziert“. Es gab keine betrieblichen Veranstaltungen, keine Feste oder Feiern, Geschäftsführertreffen galten als qualvoll monoton, Diskussionen seien nur vorgetäuscht worden, in Wirklichkeit galt es, Vorgegebenes zu übernehmen. Gemeinsame Abendessen unterlagen bizarren Ritualen:

      Ein Ex-ALDI-Manager kommt 2012 zu dem Urteil, ALDI sei letztlich ein System, das versuche, frei von Menschen zu sein. Es bezahle gut, aber damit sei gleichzeitig auch der menschliche Faktor abgegolten. Der ALDI-Kritiker Straub bezeichnete das Unternehmen gar als „gnadenloses System“.

      Bei der Frage, wo der ALDI-Unternehmens-Geist im Spektrum des Unpersönlichen anzusiedeln sei, müssen wir unser anfängliches Urteil der Albrecht’schen Tugendhaftigkeit relativieren. Die ethischen Intentionen gehen weit, aber vielleicht nicht weit genug. Am Ende wird deutlich, dass auch Tugenden wie Askese, Sparsamkeit, Bescheidenheit, Detailliebe und Konsequenz nicht unbedingt mit einer egoüberschreitenden Motivdynamik zusammengehen müssen. Möglicherweise ist auch hier die Angst im Spiel, einmal erreichten Besitz wieder verlieren zu können. Angst vor der wiederkehrenden Enge der Nachkriegszeit? Verschwiegenheit als Angstmotiv, im Wettbewerb von anderen ausgebootet zu werden? Wie dem auch sei, die wahre Motivdynamik konnten die Brüder nur in sich selbst erkennen. Jeder Blick von außen, jedes an bestimmten Verhaltensweisen gefällte Urteil, kann die tieferen Motive des anderen – wenn überhaupt – nur bedingt