Die Tunnelwelt. Samuel White

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Название Die Tunnelwelt
Автор произведения Samuel White
Жанр Языкознание
Серия Die Tunnelwelt
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783740965839



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so, wie die Audienz gelaufen ist, sehe ich keinen anderen Weg mehr. Der König von Karstheim verweigert jegliche Form der Kooperation. Und es bricht mir das Herz, dass die alten Bündnisse nichts mehr zählen. Es bricht mir das Herz, wie die Stadt die letzten Jahre gelitten hat unter der Herrschaft der Terrorvögel. Es bricht mir das Herz, dass ich einen Krieg werde anfangen müssen.“

      Und so begann die Belagerung der Stadt Karstheim. König Ogur verschanzte sich hinter den Mauern des Palastes und ließ die Bevölkerung der Stadt darben, die von allen Versorgungswegen abgeschnitten war. Erst als die Soldaten des Architektenordens die geheimen Gänge entdeckten, die unterirdisch unter der Stadtmauer hindurchführten, kam es zu einer Entscheidung.

1. Akt

      Thorgur

      Langsam kam Thorgur wieder zu Bewusstsein. Ihm war kalt. Sein eigener Schweiß hatte ihn ausgekühlt. Die letzten Stunden hatte er tief unter den Straßen der Stadt Karstheim verbracht, in Gewölben, die bis zur Belagerung der Stadt durch die Jünger der Architekten wahrscheinlich lange Jahre unberührt von menschlichen Besuchern gewesen waren. Die Soldaten des Architektenordens hatten sich unterirdische Wege in die Stadt gesucht, und Thorgur hatte mit den eigenen Soldaten - oder auch Stammeskriegern - versucht, diese in den Tunneln unter der Stadt wieder zurückzudrängen. Dabei muss er sich in einem Handgemenge verletzt haben. Oder er hatte sich ganz stumpf den Kopf an der niedrigen Felsendecke angestoßen. Wie auch immer, er muss für Stunden bewusstlos gewesen sein. Entweder völlig unbeachtet, oder, falls ihn jemand gefunden hatte, musste derjenige ihn bereits für tot gehalten haben.

      Die Situation war wirklich nicht die allerbeste. Der König stand kurz davor, den Verstand zu verlieren. Nach Thorgurs Meinung war das schon vor Jahren passiert, aber er hielt sich zurück mit seiner Meinung. Es stand ihm nicht zu, den Geisteszustand seines Königs in Frage zu stellen. Die Stadt wurde schon seit Wochen von den Truppen des Ordens der Architekten belagert. Und er verlor sinnlos Zeit, weil er sich in den Tunneln den Kopf angeschlagen hatte. Er versuchte die Benommenheit abzuschütteln. Seine Stirn pulsierte, und er konnte eine kräftige Beule erfühlen. Gut, dass er seine Holzmaske nicht getragen hatte, nachher hätte er sich noch Splitter in den Schädel getrieben. Verdammt sei König Ogur, der ihm vor vielen Jahren in einem rituellen Zweikampf die Nase abgeschlagen hatte.

      Als er die Gänge unter der Stadt hinter sich ließ und wieder an die Oberfläche kam, schmerzten ihn die Augen von der Mittagssonne. Seine Beule tat ihr Übriges, um seine Laune zu verbessern. Deswegen dachte er auch zuerst, seine Sinne würden ihm einen Streich spielen. Es gab keine Kampfgeräusche mehr, kein Schwerterklirren, keine abgehackten Schreie. Auch der Geruch von Blut, Kot und verbranntem Holz schien nicht mehr so schlimm zu sein. An den Fahnenmasten auf den Zinnen prangten weiße Fahnen, und, was am allerschlimmsten war, architektische Soldaten patrouillierten durch die Stadt. In ihren gelb-goldenen Uniformen und mit ihrem penetranten Geruch nach Seife. Aber niemanden schien es zu stören. Thorgur war verwirrt. Das Letzte, was er wusste, war, dass der König auf keinen Fall nachgeben wollte und eher mit der Stadt untergehen wollte, als sich den Jüngern der Architekten zu ergeben. Wenn er genauer darüber nachdachte, konnte nur Prinz Robur dahinterstecken. Seine Ambitionen waren stadtbekannt, aber bisher war er seinem Vater gegenüber immer loyal gewesen. Thorgur machte sich auf den Weg in den Palast. Die Architekten-Soldaten sahen ihn, aber schienen sich keine großen Gedanken darum zu machen, dass ein ihnen bis vor Kurzem noch feindlich gesinnter Krieger bewaffnet durch ihre neu eroberte Stadt schlenderte. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, wie der Status quo aussah, wer jetzt das Heft des Handelns in der Hand hatte. Auf den Marktplätzen herrschte ein großes Durcheinander. Das Bild wurde bestimmt von architektischen Händlern mit Tischen prallvoll mit Waren. Die Bewohner von Karstheim belagerten die Stände, wie gestern noch die architektischen Soldaten die Stadt belagert hatten. Er fühlte sich wieder wie der unwissende Barbar, ein Schicksal, von dem er dachte, dass er es hinter sich gelassen hatte. Unvermittelt löste sich ein architektischer Priester aus der Menschenmenge und schritt auf ihn zu. „Seid Ihr Thorgur, der Adjutant der Königsmutter?“, fragte er ihn.

      „Ich bin Thorgur, Adjutant der Königin. Und wer seid Ihr?“

      „Ich bin Bruder Jonas. Aber das ist nicht wichtig. Uns wurde aufgetragen, Euch zum Palast zu bitten. König Robur erwartet Euch.“

      „Soso, König Robur. Also hat der alte König abgedankt?“

      Der junge Priester lächelte schief. „So würde ich das nicht nennen. Aber König Robur hat die weißen Fahnen gezeigt und die Belagerung damit beendet. Er und Pater Vitorius führen gerade Verhandlungen im Thronsaal. Sie erwarten Euch dort. Es hieß, Ihr seid gefallen.“

      „Nun, das war möglicherweise Wunschdenken. Wie Ihr seht, bin ich putzmunter, bis vielleicht auf die Beule auf meinem Kopf. Und wenn Ihr irgendwo meine Nase wiederfindet, dann schickt sie mir am besten per Kurier in den Palast nach.“

      Anscheinend teilte Bruder Jonas seinen Humor nicht. Der Architektenjünger musterte nur sein Gesicht und sagte dann: „Ihr wisst, dass man so etwas behandeln lassen kann.“

      „Was, die Nase? Ihr beliebt zu scherzen. Ich wandle schon seit Jahrzehnten in der Weltenröhre, und noch nie habe ich gesehen, dass eine Nase nachwächst.“

      „Dann wart Ihr noch nie bei einem architektischen Heiler.“

      Thorgur atmete einmal tief durch. Vielleicht war die Situation doch nicht gänzlich entspannt, da wollte er die Dinge nicht verkomplizieren, indem er einen der architektischen Mönche übers Knie legte. „Nun gut, jetzt bin ich hier. Wollen wir König Robur nicht weiter warten lassen.“

      Tinko

      Tinko war hungrig. Seit die weißen Fahnen gehisst und die Mönchssoldaten in die Stadt gelassen wurden, hatte sich niemand mehr um die Boten der Wachleute gekümmert. Sie waren alle zwischen sieben und zehn Jahre alt. Tinko wusste nicht, wann er Geburtstag hatte und wie alt er genau war, acht oder neun. Es war ihm auch egal. Es war auch allen anderen egal. Niemand beachtete ihn. Er musste selbst sehen, wie er zurechtkam. Aber was sollte er machen? Er besaß nur die zerschlissenen Kleider, die er am Leib trug, er hatte seit Tagen nichts gegessen, und der Duft von Obst und Gewürzen, der seit dem Waffenstillstand die Luft der Stadt schwängerte, zog ihn magisch an und führte ihn auf einen der Marktplätze. Die Händler, die im Schlepptau der Mönche die Stadt erstürmt hatten, hatten allerhand exotische Waren mitgebracht und boten sie nun feil. Sie nahmen gern die Münzen aus Karstheim an, aber viele Leute bezahlten auch mit diesen merkwürdigen Zetteln, die er nie zuvor gesehen hatte. Er hatte weder Münzen noch Zettel. Das Knurren seines Magens hallte in seinem Schädel wieder. Er hatte versucht, sich etwas zu erbetteln, aber die neuen Händler waren unerbittlich. Also schlenderte er zwischen den verschiedensten Marktständen hin und her und wartete auf eine Gelegenheit. Ab und zu konnte er eine kleine Frucht stibitzen. Aber so ein Apfel hielt nie lange vor. Doch so langsam füllte sich sein Magen, und Tinko wurde mutiger. Auch an diesem Stand war das Gedränge groß. Die Leute rissen den Händlern alles aus den Händen. Bananen, Papayas, Pfirsiche, Datteln und Feigen. Tinko hatte sein Auge auf diese merkwürdige, blassgrüne und sternförmige Frucht geworfen. Er sah sie dort liegen, am Rande des Tisches. Niemand schien auf ihn zu achten, die Städter feilschten mit dem Händler. Er stellte sich ganz nah an den Tisch und versuchte, unbeteiligt auszusehen. Langsam hob er seine Hand, legte sie über die Sternfrucht und zuckte zusammen, als sich urplötzlich eine große Hand um seinen Unterarm schloss und ihn festhielt. In Panik versuchte er, sich zu lösen, doch der Mönch, der ihn festhielt, war zu stark. Mittlerweile hatte auch der Händler mitbekommen, was da am Rande seines Markstandes ablief.

      „Habt ihr wieder einen erwischt, Bruder Agnus?“, sagte er nur.

      „Er war nicht der Erste und wird nicht der Letzte sein.“

      Damit schien sich der Händler zufrieden zu geben und widmete sich wieder seiner Kundschaft.

      „Bitte tut mir nichts, ich hab doch nur Hunger, ich bin ganz allein, bitte tut mir nichts!“

      „Bleib mal ganz ruhig, Kleiner, und komm einfach mit!“

      Der architektische Mönch ging los, Tinko immer noch in seinem Schraubstockgriff.

      „Wohin