Die Netflix-Revolution. Oliver Schütte

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STREAMINGREVOLUTION

       Florian bestellte sich telefonisch beim Asiaten noch schnell ein rotes Curry. Er hatte es genau so geplant, dass die Ware wenigen Minuten nach seiner Ankunft in die Wohnung geliefert wird. Tatsächlich zog er gerade seinen Mantel aus, als es klingelte. Der Bote überreichte ihm die Aluminiumverpackungen. Als er das billige Gericht auf dem Teller anrichtete, schwörte er sich, spätestens übermorgen wieder selbst zu kochen. Bis dahin sollte er es geschafft haben. Immerhin waren es nur noch acht Folgen. Mit dem Essen in der einen und die Fernbedienung in der anderen schaltete er den Flachbildschirm an und hangelte sich durch die Benutzeroberfläche. Dann erklang die mitreißende Musik, die die dramatischen Bilder Washingtons begleitete. Francis Underwood erschien und versuchte den Lehrerstreik zu beenden. Der brutale Politiker, dem er gestern bis spät in die Nacht fünf Folgen lang bei seinen hinterhältigen Machenschaften gefolgt war, hatte ihn in den Bann gezogen. Natürlich wollte er unbedingt wissen, ob Underwoods Plan, sich am Präsidenten zu rächen, aufgeht. Nur deshalb hatte er sich ein Netflix-Abo gegönnt, weil alle Kollegen von der Serie geschwärmt hatten. Und tatsächlich war auch er gefangen. Zwischendurch schrieb er seinem Freund Tom eine

      SMS über das tragische Schicksal des Kongressabgeordnete Peter Russo. Allerdings erhielt er keine Antwort, was nur daran liegen konnte, dass sein Kumpel wie er heute Mittag angekündigt hatte, wahrhaftig ins Kino gegangen war.

      Mit Beginn des neuen Jahrtausends wurde zuerst die Musikindustrie, dann der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt durch das Internet einem disruptiven Wandel unterzogen.

      Es war das Jahr 2003, da hatte der Apple-Gründer Steve Jobs mit iTunes einen Dienst vorgestellt, mit dem die Nutzer über das Netz Musikstücke erwerben und auf ihre Geräte (insbesondere den iPod) herunterladen konnten. Das Prinzip »Downloading« entwickelte sich zu einem weltweiten Erfolg, zunehmend verschwanden die CDs aus den Wohnzimmern, und es endete die Zeit der beliebten Plattenläden in den Städten. Für viele, vor allem junge Käufer, wurde der Besitz einer CD unwichtig. Zu verlockend waren die Vorteile des neuen Systems. Binnen weniger Jahre gewöhnten sich die Kunden daran, dass sie nicht nur ganze Alben, sondern auch einzelne Lieder erwerben konnten. Der Kaufwunsch wurde sofort und bequem zuhause erfüllt. Und der Genuss der Musik war auf sehr bequeme Art und Weise nicht mehr an einen Ort gebunden. Zwar fasste der erste iPod nur wenige Musikstücke (siehe Steve Jobs’ Slogan: »1000 Songs in Your Pocket«), aber schon bald war die Kapazität auf das zehnfache gestiegen. Dadurch war die eigene Musiksammlung immer und überall verfügbar. Die Vorteile dieser neuen Methode der Distribution erzeugte einen Bedarf, dass dies auch für Filme und Serien möglich sein sollte. Natürlich brauchte es dazu ein Abspielgerät, das über die notwendige Technik verfügte und einen ausreichenden Bildschirm besaß. Zwar konnten auf den iPods ab 2005 Videos abgespielt werden, aber das streichholzschachtelgroße Display war nicht besonders geeignet, Filme wie Stars Wars anzuschauen. Trotzdem wurden ab 2006 im iTunes Store neben der Musik zum ersten Mal Filme und Serienfolgen zum Kauf, also zum Download, bereitgestellt. Das Angebot blieb zwar zuerst auf die USA beschränkt, es stellte doch einen wichtigen Schritt in die audiovisuelle Zukunft dar. Allerdings beruhte das System noch darauf (wie auch im Musikbereich), dass der Kunde den Film kaufte und auf sein eigenes Gerät herunterlud. Er war im Gegensatz zum Streamen im Besitz der Ware und musste nur für den tatsächlich gekauften Film bezahlen. Beim Laden eines Films spielt die Zugangsgeschwindigkeit zum Internet für Verbraucher keine große Rolle. Es ist zwar ärgerlich, wenn der Download mehr als eine Viertelstunde dauert, aber dem Genuss des Films tut dies keinen Abbruch. Das Streamen eines Spielfilms in annehmbarer Qualität war aufgrund der langsamen Übertragungsgeschwindigkeit für die meisten Kunden zu dieser Zeit noch gar nicht möglich.

      Im Jahr 2005 wurde das Unternehmen YouTube gegründet, das darauf spezialisiert ist, dass die Nutzer eigene Videos hochladen können. Schon sehr schnell stand eine Vielzahl von zumeist kurzen Clips auf der Plattform. Als YouTube in 2006 von Google übernommen wurde, wurden pro Tag rund 100 Millionen Mal Videos angesehen und 65.000 Clips hochgeladen. Allerdings war, damit ein ruckelfreies Streamen möglich wurde, die technische Qualität der Videos dem Amateurcharakter der Werke angemessen.

      Natürlich wollte und sollte YouTube damals nicht das Fernsehen ersetzen, aber schon bald war klar, dass der Vertrieb von audiovisuellen Inhalten ein entscheidender Bereich in der Zukunft des Internets sein wird. Und tatsächlich schritt der Entwicklung stürmisch voran. Die schnelleren Verbindungen und besseren Computer hatten es möglich gemacht, dass Spielfilme in ausreichender Qualität über das Netz übertragen werden konnten. Was vorher schon mit der Musik geschehen war, wurde nun auch mit Filmen machbar. Gleichzeitig starteten die ersten sogenannten SVOD-Dienste (Subscription Video on Demand), also Plattformen, die gegen eine monatliche Gebühr Filme und Serien zur Verfügung stellten.

      Das Zeitalter des Streamens hatte begonnen.

       Streamen – was ist das?

      Die Signale der Fernsehsender wurden in den ersten Jahren über Antennen zu den Haushalten transportiert. Jedes Haus besaß mindestens eine davon auf dem Dach, und wer über Europas Städte blickte, sah auf einen (für uns heute) weniger schönen »Antennenwald«. Atmosphärische Störungen führten manchmal zu Ausfällen, und Pechvögeln passierte das, genau in dem Moment, als die deutsche Fußballmannschaft im Endspiel der Weltmeisterschaft gegen England in Rückstand lag.

      In den 80er Jahren wurden die Signale zusätzlich durch die unter der Erde verlegten Kabel zu den Haushalten gebracht und zunehmend über Satelliten mitsamt den notwendigen Schüsseln, die meist auf dem Balkon oder am Fenster angebracht waren. Insbesondere mit dem Kabel ließen sich verhältnismäßig viele Sender übertragen. Dadurch wurde es möglich, dass private Anbieter eine Chance bekamen. Je mehr sich besonders in großen Städten die Kabel durchsetzten, um so weniger wurden die Antennen auf den Hausdächern, was dem Stadtbild nicht gerade schadete.

      Diese drei Arten der Übermittlung sind heute noch aktuell, wobei allerdings über Antenne die Signale nicht mehr analog, sondern ebenfalls digital ausgestrahlt werden (das sogenannte DVB-T).

      Die Daten des Internets wurden zu Beginn mittels Telefonleitungen übertragen. Ein Modem wandelte zuhause die Bits und Bytes um, sodass sie für den Computer zur Verfügung standen. Auf diesem Weg wurden die Informationen auf den Rechner heruntergeladen. Es wäre schon in den Anfangsjahren möglich gewesen, Musik auf den heimischen PC zu übertragen, denn die Lieder lagen bereits auf einer CD in digitaler Form vor. Allerdings war die Masse der Daten so groß und die Übertragungsrate so klein, dass es tagelang gedauert hätte, die neueste CD von Madonna auf den Computer zu bekommen. Erst eine Erfindung, durch die sich die Musikdaten komprimieren lassen, das sogenannte MP3, ermöglichte den Transport von Musik über das Internet. Zusätzlich stieg die Datenrate immer weiter an. Mitte der 90er Jahre dauerte es kaum mehr als fünf Minuten, einen Song herunterzuladen. Dieser wurde dann auf dem Rechner abgespielt, auch wenn er nicht mehr mit dem Netz verbunden war. 1999 machten sich das ein paar junge Studenten zunutze und bauten ein System auf, bei dem sich Nutzer die Musikdaten von den Computern anderer herunterladen konnten. Napster ermöglichte dadurch die kostenlose, aber illegale Übertragung von Musik – ein Schreckensszenario für die Plattenfirmen und die Künstler. Viele Gerichtsprozesse später gab das Unternehmen das Angebot auf. Zudem klappte der Transfer nicht immer reibungslos, und als Apple mit dem legalen iTunes Store an den Start ging, luden sich zunehmend mehr Musikfans ihre Platten auf diesem rechtlich einwandfreien Wege auf ihre Computer.

      Was den Technikern mit der Musik geglückt war, gelang dann ebenfalls mit Filmen, die natürlich eine viel größere Datenmenge besaßen. Auch hier wurde ein Kompressionsformat entwickelt. Aber die Geschwindigkeit für diese Menge an Bits und Bytes war Anfang des neuen Jahrtausends immer noch nicht wirklich ausreichend. So kam eine Gnadenfrist für die Filmindustrie, die ahnte, dass gleichfalls die illegalen Verbreitungswege ihr Geschäftsmodell zerstören könnten, wenn es technisch möglich sein würde. Auch darum versuchte sie den Fehler der Musikindustrie zu vermeiden, die nicht verstanden hatte, dass die Fans ihre Lieder gerne bequem und sofort auf den Rechner haben wollten. Diese Erkenntnis der Filmindustrie führte dazu, dass Filme und Serien sehr bald legal im Netz zum Download angeboten