GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor). A.R. Shaw

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Название GRAHAMS PRÜFUNG (Survivor)
Автор произведения A.R. Shaw
Жанр Языкознание
Серия Survivor
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783958351691



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Mathematikprofessor existierte nicht mehr. Das einzig Sinnvolle war gewesen, so schnell wie möglich ihre Wohnung in der Stadt zu verlassen. Die Entscheidung war endgültig gefallen, als eines Nachts Schüsse knallten, die ihn aufschrecken und seine schwangere Frau schützend an sich ziehen ließen. Am nächsten Morgen hatten sie erfahren, dass die Nachbarn wegen ihrer Lebensmittelvorräte ermordet worden waren. Aus Furcht, Nelly und er könnten die nächsten sein, hatten sie das Auto vollgepackt und die Stadt verlassen.

      Während die Weltbevölkerung ausstarb, gingen die Menschen aufeinander los. Frische Lebensmittel wurden unendlich wertvoll. Selbst die Vorräte an Konserven gingen zur Neige. Diejenigen, die immun waren, beraubten die Lebenden. Alle suchten verzweifelt nach den schwindenden Nahrungsmittelreserven. Die Supermärkte wurden schon lange nicht mehr beliefert. Die vergeblichen Versuche der lokalen Behörden machten alles nur noch schlimmer. Mit Straßensperren sollten die Infizierten aus ihrem Gebiet herausgehalten werden, wodurch die Bewohner zu Gefangenen in ihren eigenen Gemeinden wurden.

      Graham war von einem Vater großgezogen worden, der im Marine Corps gedient hatte. Dennoch war er davon überzeugt, dass der Besitz von Waffen streng reglementiert werden musste. Er fand, dass der allzu einfache Zugang zu Schusswaffen maßgeblichen Anteil an den zahlreichen Amokläufen an Schulen hatte. Graham war auch gegen die Kriege, die Amerika in aller Welt führte. Diese Ansicht verstärkte sich noch an den liberal gesinnten Schulen und Universitäten, die er besucht und an denen er schließlich gelehrt hatte.

      Graham liebte und lebte die Kultur und die Ideale des pazifischen Nordwestens, in dem er aufgewachsen war. Ganz im Gegensatz zu seinem Vater und seiner Mutter, die ihre Sicht auf die Dinge stets für sich behalten hatten. Sie hatten weder öffentlich für eine Seite Partei ergriffen noch darauf gedrängt, dass die Kinder ihre Ansichten übernahmen. Sie wollten, dass Graham unabhängig und stark wurde in dieser unruhigen Welt.

      Obwohl Grahams Vater darauf bestanden hatte, ihm schon in sehr jungen Jahren das Jagen beizubringen, hatte er nie eine eigene Waffe besessen. Sein Vater hatte oft versucht, ihn zu überzeugen, zum Schutz eine Pistole bei sich zu führen, zumal Graham verheiratet war und in einer zumindest nach Meinung seines Vaters gefährlichen Gegend lebte. Doch Graham hatte sich immer geweigert und im Gegenzug sogar versucht, seinen Vater davon zu überzeugen, dass diese Denkweise überholt war und jede Situation friedlich bereinigt werden konnte.

      Sein Vater hatte das immer bezweifelt. Seine Erfahrungen besagten das Gegenteil. Während ihm die Haltung seines Sohnes weiter Sorgen machte, brachte er ihm im Laufe der Jahre wie selbstverständlich die Fähigkeiten bei, die es zum Überleben brauchte. Er wollte den Jungen vorbereitet wissen, unabhängig von persönlichen Idealen und politischer Zugehörigkeit. So verbrachten sie viel Zeit in der Wildnis. Sogar wenn sie in der Blockhütte der Familie Urlaub machten, brachte er seinen Sohn listig dazu, zu lernen. Vordergründig hatte er ihm alles beigebracht, was er über die Jagd und das Campen im Freien wusste, aber im Hintergrund waren es tatsächlich zahlreiche Überlebenstechniken gewesen, die er seinen Sohn gelehrt hatte.

      Merkwürdigerweise hatten sie manchmal die alte Hütte erreicht, die im Laufe der Jahre mit fließendem Wasser und Strom nachgerüstet worden war, nur um festzustellen, dass beides nicht verfügbar war. Dann hatte ihm sein Vater gezeigt, wie man die Solaranlage aufbaute, um Strom zu gewinnen, und wie sich das Wasser aus dem nahe gelegenen See sterilisieren ließ. Er hatte ihm das Jagen beigebracht und ihm gezeigt, wie man die Beute zerlegte und das Fleisch über dem offenen Feuer zubereitete. Jetzt erst begriff Graham, wie klug und entschlossen der alte Mann dabei vorgegangen war.

      Bevor alles zusammenbrach, waren Nelly und Graham glücklich gewesen. Sie hatten ein gutes Leben geführt. Erst kurz vor dem Weltuntergang hatten sie ihren zweiten Hochzeitstag gefeiert. Sie liebte es, zu planen und Listen aufzustellen. Wenig überraschend hatte sie ihrer beider Zukunft ganz genau vorgezeichnet.

      Meist war Graham als Erster zu Hause und bereitete das Abendessen zu. Einmal hatte eine heftige Erkältung Nelly geplagt, sodass er sich entschlossen hatte, ihr so gut er konnte ihre Lieblingssuppe mit Wurst und Kohl nachzukochen, die sie beide so gern in dem italienischen Restaurant um die Ecke aßen. Er war erschrocken, als er sie an jenem Abend zu Hause vorgefunden hatte, früher zurück von der Arbeit als sonst. Zusammengekauert hatte sie weinend auf ihrem Bett gehockt. Sie neigte sonst nicht zu Weinkrämpfen, also musste etwas Schreckliches passiert sein. Er hatte sich zu ihr hinuntergebeugt, um sie zu trösten. Sie hatte ihn abgewehrt, sich aufgesetzt und ihn angestarrt. »Ich bin schwanger!«, hatte sie herausgeplatzt, das Gesicht tränenüberströmt.

      »Du bist was?«, hatte er verblüfft erwidert.

      »Ich bin schwanger. Wir bekommen ein Baby, und es ist viel zu früh! Es ist nicht Teil des Plans. Jetzt wird es nichts mehr mit meinem Master.«

      Er hatte sie an sich gezogen, obwohl sie dagegen ankämpfte, und sie auf ihre nassen Lippen geküsst. »Du machst dich verrückt, Nelly. Wir bekommen ein Baby! Alles wird gut werden. Ich liebe dich!«

      Aber nichts war gut gegangen. Kurz darauf war die Pandemie ausgebrochen und hatte Nelly und ihr ungeborenes Kind mitgenommen.

      Jetzt, wo er ganz allein war, fragte er sich, wie viele in der Nachbarschaft noch am Leben waren und wie viele von ihnen, wie es sein Vater warnend genannt hatte, »böse Absichten« hatten.

      Der prasselnde Regen war zu einem dichten Dauernieseln geworden. Er holte Regenmantel und Schaufel aus der Garage und griff nach dem Gewehr neben der Tür. Das Gewehr bei sich zu tragen fühlte sich für Graham inzwischen so selbstverständlich an, wie wenn man einen Schlüsselbund bei sich trug. Jedes Mal, wenn er nach draußen ging, hängte er es sich über die Schulter, und im Haus behielt er es stets in unmittelbarer Nähe. »Immer und überall«, so wie es sein Vater verlangt hatte.

      Graham wusste, dass die Zeit gekommen war. Seine Kehle schnürte sich zusammen, während er versuchte, die Tränen zu unterdrücken. Draußen zwischen den Rhododendronbüschen lehnte er das Gewehr in Griffreichweite an die Gartenhütte. Der Wind frischte auf. Er stand da und lauschte. Sein Vater und er hatten sich das früh zur Gewohnheit gemacht. Der Akt des Zuhörens war zu einem Überlebensritual geworden. Die Umgebung sollte mit vertrauten Geräuschen gefüllt sein, und wenn diese völlig fehlten, konnte das nur Ärger bedeuten. Doch nur sehr wenige vertraute Geräusche waren übrig geblieben.

      Kein Zug war in der Ferne zu hören, kein Flugzeug am Himmel. Keine Rasenmäher, keine quietschenden Keilriemen von Autos, kein permanentes Rauschen der Interstate 90, die sich durch die Stadt zog. Das Plaudern der Nachbarn und spielender Kinder waren nur noch Erinnerungen. Aber es waren genau diese Geräusche, die Graham vermisste.

      Oft löste das, was er hörte, instinktiv seine Kampfbereitschaft oder seinen Fluchtreflex aus. Das Heulen eines Wolfes, das Knurren und Bellen der verwilderten Hunde, die sich um erlegte Beute stritten. Entferntes Gewehrfeuer. Gelegentliche Schreie, die allerdings in den vergangenen Tagen seltener geworden waren. Mit diesen Gedanken lenkte sich Graham ab, während er sich über den eingeweichten Lehmboden neben dem frisch aufgeschütteten Grab seiner Mutter beugte. In ihm hallten die Echos einer Welt, die still geworden war.

      Schweiß tropfte von seiner Nase, während er mit aller Macht schaufelweise Erde hinter sich warf. Die Arbeit bot ein willkommenes Ventil für seine Wut und seinen Schmerz. Immer wieder rammte er die Schaufel in den Erdboden. Den Schmerz in Rücken und Schultern ignorierte er.

      Dann vermochte er es nicht länger auszublenden. Als die Erinnerung in ihm hochkam, wie sich sein Vater und er an genau dieser Stelle den Baseball zugeworfen hatten, brach er zusammen. Er ließ die Schaufel fallen und ging er auf dem nassen Gras in die Knie. »Nein, das kann nicht wahr sein!«, schrie er und richtete sein Gesicht in den Himmel.

      In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel eine graue Gestalt wahr, gleich neben dem Berberitzenstrauch. Sie war so unscheinbar, dass er sie beinahe übersehen hätte. In einer fließenden, schnellen Bewegung griff er sein Gewehr und verfluchte sich dafür, sie nicht früher gesehen zu haben.

      Graham legte an und zielte. Die Trauer schürte seinen Zorn. »Komm zurück! Ich schieße!« Die Gestalt versuchte, leise um die Ecke des Hauses herum in den Hintergrund zu entschlüpfen. Aber er wusste, dass sie dort war. Er konnte ihre Anwesenheit